Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → FAKTEN

SPRACHE/743: Lesen Lernen - Bochumer Russisten vermitteln Lesekompetenz übers Internet (RUBENS)


RUBENS - Nr. 151 vom 1. Mai 2011

Lesen Lernen
Bochumer Russisten vermitteln Lesekompetenz übers Internet

Von Arne Dessaul


Wer ein Russistik- oder Slavistik-Studium anfängt, verfügt in der Regel noch nicht über ausreichende Fremdsprachenkenntnisse. Die muss man sich während des Studiums erarbeiten. Dabei hilft seit dem letzten Wintersemester "RussianHQ", eine interaktive Lern-Umgebung im Internet. Entworfen wurde das moderne Programm zum Erwerb von Lesekompetenzen (wie auch sein Zwilling "DeutschHQ") von Dozenten am Seminar für Slavistik der RUB - zusammen mit europäischen Wissenschaftlern und unterstützt von der VW Stiftung.


Lesekompetenz ist eines dieser Wörter, die unentwegt durch die Medien schwirren - spätestens seit PISA die dürftige Lesekompetenz deutscher Schüler aufgezeigt hat. Das Lesen und Verstehen von Texten spielt natürlich auch im Studium eine wesentliche Rolle, für viele ist es gar der Schlüssel zum Erfolg. In der Philologie dreht es sich häufig um fremdsprachige Texte: Logisch, wer Anglistik studiert, sollte Shakespeare auch im Original verstehen. Das lernt man meist in der Schule, dort wird oft auch Cäsar oder Moliere gelesen. Kniffliger wird es bei Puschkin oder Lem. Slavische Sprachen werden an deutschen Schulen nur selten angeboten.

Gleichwohl entscheiden sich Jahr für Jahr Tausende deutscher Abiturienten für ein Slavistik-Studium; an der Ruhr-Uni absolvieren es zurzeit knapp 700 Studierende. Je nach Spezialisierung müssen sie bis zum Abschluss - beispielsweise - fließend Russisch und/oder Polnisch sprechen. "Früher hatten die Studierenden dafür bis zu 13 Semester Zeit, das war bei uns die Regelstudienzeit", erklärt Dr. Klaus Waschik (Seminar für Slavistik/Lotman-Institut für russische Kultur). Seit der Umstellung auf Bachelor und Master müssen die Sprachen innerhalb von nur sechs bis acht Semestern gelernt werden - bei einer geringeren Zahl an Dozenten als früher. "Diesen Herausforderungen muss eine moderne Lehre mit neuen didaktischen Instrumenten begegnen. Sie sollten die bewährten Methoden ergänzen und nicht ablösen. Das Studieren selbst hat sich ohnehin völlig verändert. Studiert wird heute mehr und mehr eigenverantwortlich, autonom, außerhalb der Uni und mobil", so Waschik.


Ausgefeilte Lernumgebung

Deshalb setzen die Bochumer Slavistik-Dozenten seit acht Jahren auch auf Blended Learning, die Kombination aus Präsenzlehre und eLearning. Neuestes Projekt ist eine von Dr. Klaus Waschik konzipierte interaktive Studienumgebung zum Erwerb der Lesekompetenz Russisch: "RussianHQ" ("HQ" = "High Quality"). Das Projekt wird von der VW Stiftung mit 200.000 Euro gefördert, mitgearbeitet daran haben 25 Wissenschaftler/innen aus Deutschland, Russland, Österreich, Frankreich und der Ukraine. Federführend waren neben Waschik u.a. sein Bochumer Kollege Dr. Holger Gemba, Prof. Svetlana Kibardina (Staatliche Technische Universität Vologda) sowie Konstantin Charin. Dem Moskauer Diplommathematiker ist es zu verdanken, dass "RussianHQ" eine ausgefeilte Lernumgebung im Internet ist, auf allerneuestem technischem Stand.

Ihre Premiere feierte die Lernumgebung im letzten Semester in Sprachkursen in Innsbruck und an der RUB. Im Seminarraum und zwischen den wöchentlichen Kursen sitzen die Studierenden an PC oder Notebook und arbeiten mit "RussianHQ". Wenn sie sich per Passwort einloggen, erscheint eine übersichtliche (deutschsprachige) Oberfläche mit 15 Leitthemen: von Geschichte über Literatur und Philosophie bis hin zu Politik und Wirtschaft. Hinter diesen Themen verbergen sich 450 Originaltexte (Sachtexte, wissenschaftliche Fachtexte, literarische Texte usw.) mit über 9.400 Übungsaufgaben. Die Texte sind mit drei Schwierigkeitsstufen versehen, angelehnt an den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen.

Die Hausaufgabe lautet natürlich stets "Lesen!", z.B. einen Auszug aus Alexander Puschkins Erzählung "Der Schneesturm". Sie gehört zum Thema Literatur II, Stufe II (Originaltexte 19. Jahrhundert) und erscheint nach wenigen Klicks auf dem Bildschirm, natürlich kyrillisch. Diverse Reiter oberhalb des Textes signalisieren, dass hier noch viel mehr möglich ist, z.B. die Audio-Funktion. Wer sie aktiviert, bekommt den Text vorgelesen. "Genauso hilfreich sind dabei die roten Betonungszeichen auf den Wörtern, schließlich ist die Betonung im Russischen nicht so eindeutig wie im Deutschen", sagt Julia Koschinski. Sie promoviert in Physik und besucht die Russischkurse freiwillig. "Ich möchte perfekt Russisch können", lautet ihr Ziel. Julia ist begeistert davon, russische Literatur im Original lesen zu können: "Das ist viel interessanter als die Lehrbuchtexte." Damit formuliert sie zugleich eine wichtige Aufgabe von "RussianHQ", laut Klaus Waschik: "Wie kommt ein Student vom einfachen Lehrbuchtext zum Originaltext von Dostojewski oder Puschkin?"


252.000 Einträge

Während die Audio-Funktion noch eher handelsüblich ist, verbergen sich hinter den Reitern "Wörterbuch" und "Grammatik" echte Alleinstellungsmerkmale des Programms. "Wer mit diesen Funktionen liest, blättert automatisch in einem Wörterbuch mit rund 252.000 Einträgen und hat Zugriff auf 142 Grammatiktafeln", schwärmt Holger Gemba. "Ein Klick aufs Wort genügt und schon kommt die umfangreiche Erklärung", ergänzt Viktor Berg. Er studiert im 3. Semester Slavistik und Russische Kultur und hat im letzten WS "Lesen I" besucht.

Mit einer weiteren Funktion, "Mein Wortschatz", erstellt man eine individuelle Liste von Wörtern, die man noch nicht beherrscht - und die demnächst der sog. virtuelle Wortschatztrainer mit einem übt. Das ist zugleich eine der wenigen Funktionen von "RussianHQ", die noch realisiert werden müssen. "Bis dahin kann ich mir die Wörter aber noch immer auf Karteikarten schreiben oder drucken", schmunzelt Kathrin Wenzel. Auch sie besuchte im letzten WS den Kurs Lesen I.

Doch zurück zu Puschkin: Nach dem Lesen geht es darum zu überprüfen, ob man den Text auch verstanden hat. Das geschieht mit einer Reihe von abwechslungsreichen Übungen. Fünf bis sechs gibt es davon nach jedem zentralen Text, insgesamt über 2.500 Übungen mit je vier bis fünf Aufgaben. Man soll z.B. die Stelle im Text markieren, wo ein bestimmtes Wetterphänomen beschrieben wird und per Multiple Choice entscheiden, welches Verb an welche Stelle im Text gehört. Insgesamt gibt es 16 Übungstypen, bei denen die Studierenden jeweils erkennen können, ob sie richtig oder falsch liegen. Noten gibt es nicht, doch fünf Farben geben Dozent und Student Auskunft über die Leistung: weiß = Übung (noch) nicht gemacht; grau = Übung abgebrochen; rot = schlecht; gelb = in Ordnung; grün = gut. Um bessere Ergebnisse zu erzielen, können die Studierenden die Übungen wiederholen. Sie können auch zusätzliche Übungen machen. "Die Hälfte der Studierenden in den Wintersemesterkursen hat freiwillig die doppelte Zahl an Texten und Übungen absolviert", lobt Dr. Waschik.

Lob gibt es aber auch von der anderen Seite: "Ich habe noch nie so effektiv gearbeitet wie in diesem Kurs", sagt Kathrin Wenzel. Sie studiert Russisch an der RUB sowie parallel Englisch und Katholische Theologie in Essen. "Ich will Lehrerin werden und ein drittes Fach unterrichten können", erläutert sie. Der hohe Anteil an eLearning (verbunden mit der Möglichkeit, sich einen Teil der Lernzeit frei einzuteilen) kommt aber nicht nur ihr als Pendlerin entgegen, sondern allen Studierenden, wie Marian Wenzke bestätigt. Genau wie Viktor Berg studiert er Slavistik und Russische Kultur (5. Semester) und hat "mit großem Spaß" den Kurs "Lesen I" besucht. Marian hebt auch die Themenvielfalt hervor: "Man lernt beim Lesen neben der Sprache automatisch noch so viel über das Land und die Kultur."


Bald noch individueller

Damit ist die Geschichte von "RussianHQ" längst nicht zu Ende erzählt. Beispielsweise gibt es eine Art Zwilling: "DeutschHQ" wird bald an (zunächst russischen) Unis eingesetzt, um die Lesekompetenz für Deutsch zu erhöhen. Der Oberbegriff beider Module lautet "LesenHQ"; das kann natürlich noch weitere Sprachen umfassen. Während dieser Gedanke eher noch Zukunftsmusik ist, wird eine Variation von "RussianHQ" schon bald umgesetzt: Bisher geben die Dozenten per Freischalten die Reihenfolge vor, in der die Übungen absolviert werden sollen. Ab Sommer 2012 wird es auch ohne Vorgaben gehen. Dann können Studierende die 450 Texte ganz individuell bearbeiten.


*


Quelle:
RUBENS - 18. Jahrgang, Nr. 151 vom Mai 2011, S. 3
Herausgeber: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Tel: 0234/32-23 999, -22 830, Fax: 0234/32-14 136
E-Mail: rubens@presse.rub.de
Internet: www.rub.de/rubens

RUBENS erscheint neunmal pro Jahr.
Die Einzelausgabe kostet 0,25 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2011