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SPRACHE/752: Unterricht im Mutterleib (uni'kon Uni Konstanz)


uni'kon 42|2011 - Universität Konstanz

Unterricht im Mutterleib

Von Jürgen Graf


Was Kinder über Sprache wissen, noch bevor ihnen das erste Wort über die Lippen kommt: Das Konstanzer Babysprachlabor erforscht den frühkindlichen Spracherwerb


Es ist ein magischer Moment im Leben einer jeden Mama und eines jeden Papas, ein unvergesslicher Tag voll glänzender Augen und stolz gereckter Häupter: Das Baby spricht das erste Wort - und schließlich dann die ersten kurzen Sätze! Den einen mag es wie ein Wunder vorkommen, dass ein Kind allen ernstes eine "echte Sprache" erlernen kann, wo es doch von seinen Mitmenschen immerzu mit all den "Dididis", "Gagas" und "Bubus" angesprochen wird. Den Eltern ist es hingegen schon lange klar: Ihr Kind ist ein echtes Sprachgenie, keine Frage!

Den wenigsten ist jedoch bewusst, dass das Baby zu diesem Zeitpunkt schon längst eine ganze Menge über Sprache wusste - noch ehe ihm das erste Wort über die Lippen kommt. Genau genommen begann Babys Sprachunterricht bereits im Mutterleib. Sein Geheimnis lautet: genaues Zuhören. Doch auch wer dem Baby sein Wissen über die Sprache entlocken will, der muss ganz genau zuhören und zusehen, der muss darauf achten, bei welchen Lauten sich die Herzfrequenz des Babys verändert und welche Buchstaben das Kind mit Vorliebe verschluckt: Die Sprachwissenschaftlerinnen des Konstanzer Babysprachlabors um Prof. Dr. Janet Grijzenhout haben es sich zur Aufgabe gemacht zu erforschen, was ein Kleinkind über Sprache weiß, noch bevor es das erste Wort spricht.

Wer gemeinsam mit Babys forscht, der muss tief in die Trickkiste greifen: Denn anders als erwachsene Probanden füllen Babys keine Fragebögen aus, beantworten keine Interviews und interessieren sich in aller Regel auch mehr für alles, was im Sprachlabor nicht niet- und nagelfest ist, als für das sprachwissenschaftliche Experiment und die hehre Wissenschaft. Wie also kommt man Babys Sprachkompetenz auf die Schliche? Der entscheidende Kniff ist, die Aufmerksamkeit eines Babys genauestens zu beobachten. Für welche Lautfolgen interessiert sich das Kind? Bei welchen Lautunterschieden lauscht das Baby auf, wann lässt es hingegen die Tonbandgeräusche links liegen? Und welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen, wenn chinesische Kleinkinder auf Tonhöhenunterschiede reagieren, deutsche Babys ab einem gewissen Alter jedoch nicht mehr?

"Noch bevor Kinder ihre ersten Worte sprechen, haben sie schon eine Menge über ihre Muttersprache gelernt", versichert Muna Pohl: "Welche Schritte werden also von einem Kind durchlaufen, um ein Muttersprachler zu werden?" Die Sprachwissenschaftlerin erforscht, in welchem Lebensalter ein Kleinkind nicht-muttersprachliche Lautkontraste erkennen und unterscheiden kann - und ab wann es dies nicht mehr tut. "In den ersten zwölf Monaten werden die Kategorien für die Muttersprache schon gebildet", erläutert Janet Grijzenhout. Ein Baby hört ganz genau zu, erkennt die Charakteristika der Muttersprache - deren typischen Laute, Intonationen und Satzmelodien - und spezialisiert sich auf dieses Tonsystem.

Lautkontraste, die die eigene Muttersprache nicht verwendet, selektiert ein Baby hingegen aus: Fortan "überhört" es die tonalen Feinheiten fremder Sprachsysteme einfach, während es für die muttersprachlichen Lautkontraste ein Feingespür entwickelt. "Wenn ein Kind innerhalb der ersten vier Jahre nicht mit einer anderen Sprache als seiner Muttersprache konfrontiert wird, wird es für das Kind später viel schwieriger, seine Lautwahrnehmung umzustellen", führt Janet Grijzenhout aus. Dies mündet nicht zuletzt darin, dass es für Erwachsene schwieriger wird, Fremdsprachen jenseits des vertrauten Lautsystems zu erlernen. Allerdings: "Ganz wichtig ist für uns der Befund, dass es überall auf der Welt gleich einfach oder gleich schwierig ist, eine Muttersprache zu erlernen - es gibt keine 'einfachere' oder 'schwierigere' Muttersprache."

Die Arbeit im Konstanzer Babysprachlabor umkreist die große Frage, wie Sprache im Gehirn gespeichert wird. Der frühkindliche Spracherwerb folgt in allen Sprachen denselben Mustern: Bereits im Mutterleib lauscht das Baby dem Sprachrhythmus und der Satzmelodie der Mutter. Nach der Geburt wird die Erkennung und Wiedergabe von Lautkontrasten sehr früh ausgebildet, später kommen dann die morphologischen Wortstrukturen und die Satzstrukturen hinzu. Solche Satzstrukturen der "Kindersprache" untersucht Anne Gwinner. "Kinder im Kindergartenalter bevorzugen ein rhythmisches Muster aus abwechselnd betonten und unbetonten Silben", erklärt die Sprachwissenschaftlerin. Weicht ein Satz von diesem einfach zu sprechenden trochäischen Silbenmaß ab, so tilgen Kinder häufig eine schwache Silbe und kürzen einen Vokal, um das einfachere Sprachmuster wiederherzustellen: Das "Gesicht" wird zum "G'sicht", die "Banane" wird zur "'nane". In einer Langzeitstudie untersucht nun Gwinner, wie einsprachige und wie zweisprachig erzogene Kinder mit holprigen Satzstrukturen umgehen.

Das Babysprachlabor wurde 2007 in Konstanz nach kanadischem und niederländischem Vorbild eingerichtet. In Deutschland sind Babysprachlabore noch eher eine Seltenheit. "Wir arbeiten aber nicht auf einer Insel, sondern sind international eingebunden", versichert Janet Grijzenhout. Gerade in der Babysprachforschung ist es ein entscheidender Faktor, dass die Labore international gleich gestaltet sind: "Damit unsere Forschungsergebnisse auch für andere Sprachen repliziert werden können", erklärt die Sprachwissenschaftlerin: Ein gleiches Umfeld bedeutet vergleichbare Ergebnisse. Nichtsdestotrotz besitzt Konstanz einen Standortvorteil für die Babysprachforscherinnen: Schließlich ermöglicht es die Situierung im "Dreiländereck", auf engem Raum vergleichende Studien mit mehreren Sprachgemeinschaften durchzuführen.


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Quelle:
uni'kon 42|2011, S. 4-7
Herausgeber: Der Rektor der Universität Konstanz
Redaktion: Dr. Maria Schorpp
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2011