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AKZENTE/106: Joanne Rowling beendet literarische Zauberei (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 9/2007

Alles war gut?
Joanne K. Rowling beendet ihre literarische Zauberei

Von Johanna Rahne


Auch "Harry Potter and the Deathly Hallows", der siebte und letzte Band der Reihe, hat mit seinem Erscheinen Ende Juli sämtliche Verkaufsrekorde für Bücher gebrochen. Der Rausch ist verflogen, die Rezensionen sind geschrieben und daher lohnt auch von theologischer Seite ein erstes Resümee nach sieben Bänden Harry Potter.


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Der Proteststurm fundamentalistischer Gruppierungen wird diesmal hoffentlich ausbleiben. Nach mehreren vergeblichen Versuchen der religiösen Verdammung eines (Kinder-)Buches sollte man verstanden haben, dass ein entsprechendes Vorgehen eher ein schräges Licht auf die eigene, beschränkte religiöse Hermeneutik und die unleugbare Tatsache wirft: In der eigenen Glaubensüberzeugung sind so viel mythisch-magische Reste unbewältigt wirksam, dass die vermutete "Gefährdung" des Glaubens durch eine literarische Fiktion wohl nur in der Not der eigenen Abgrenzung begründet liegt.

Freilich: Die Romane Joanne K. Rowlings stellen die entscheidenden metaphysischen Fragen (vgl. auch HK, Oktober 2003, 51 ff.). Dies brauchen auch jene nicht zu verleugnen, die die Bücher weder als explizit areligiös oder gar antireligiös noch als implizite "praeparatio evangelii" verstanden wissen wollen. Der Wert solcher Geschichten liegt darin, dass die geschilderten, zutiefst menschlichen Situationen stimmig erzählt sind und die dafür genutzte Symbol- und Bildersprache die Dimension der Sehnsucht nicht verdrängt, sondern eröffnet. So können Theologie und Glaube auch aus Kinderbüchern "lernen"; zum einen dass es ein bleibendes Gespür dafür gibt, dass die Welt nicht einfach in dem aufgeht, was wir auf den ersten Blick in ihr erkennen, zum anderen dass die Erinnerung an die Macht von Worten, von Sprache, von Bildern auch einer säkularen Welt nicht fremd ist.

Denn "Bilder sind das einzige, wodurch das Unfassbare zu uns spricht, nur durch Bilder schlüpft es in uns hinein". Das sagt einer, der es wissen muss - der Altmeister deutscher Kinderbuchliteratur: Erich Kästner. Darum sind "gute Kinderbücher (...) nicht die Vorstufe zur großen Weltliteratur, sondern die Grundlage jeder ästhetischen Erfahrung" (Susanne Gaschke, Die Zeit, 31. Januar 2002). Das macht ihre Qualität und ihren intellektuellen wie theologischen Reiz aus.


Spiegel erlebter Schrecken

Zur Geschichte des siebten Bandes von Harry Potter: Lord Voldemort ist zurück an der Macht - mörderischer, skrupelloser und bedrohlicher als je zuvor. Was bisher nur zu ahnen war, wird Wirklichkeit. Die Szenerie dieses Bandes ist abgrundtief düster und sprengt so endgültig den Rahmen einer reinen "Kindergeschichte". Rowling besitzt einen wachen Blick für die Psychologie einer in ihren Grundfesten verunsicherten und durch subtile Unterdrückungsmechanismen gefügig gemachten Gesellschaft. So gestaltet sie die politische Parabel eines totalitären Systems, die nicht nur in Deutschland die Erinnerungen an das Dritte Reich von Neuem lebendig werden lässt.

Die von Rowling entworfene Zauberwelt stellt eher eine Parallelwelt dar, in der sich der erlebte Schrecken unserer eigenen Welt nicht auflöst, sondern vielmehr spiegelt. Muggel, Nichtmagier, und Muggelgeborene, von Nichtmagiern abstammende Hexen und Zauberer (die hierbei zur Definition angewandte Kriteriologie spielt bewusst an die Nürnberger Rassegesetze an) werden verfolgt, verbannt, gefoltert und ermordet. Ein Netz von Denunziation und Überwachung hat sich aufgebaut. Niemand vermag sich ihm zu entziehen, der nicht als "blood-traitor" beschuldigt werden und in den Klauen der Dementoren enden will. Das Zaubereiministerium, von den Anhängern Voldemorts unterwandert, wird zur Zentrale des Selektions- und Säuberungsterrors wie der ideologischen Verblendung.


Die endgültige und abschließende Begegnung zwischen Harry und Voldemort

"Magic is Might" lautet nun der Orwellsche Wahlspruch des Ministeriums. Auch die aus dem fünften Band als Großinquisitorin bekannte Dolores Umbridge läuft in diesem Milieu zur befürchteten Höchstform auf. Selbst die Zauberschule Hogwarts wird von einem Todesser als Schulleiter beherrscht. Das Regime der "Reinblüter" ist dabei, die Zauberwelt zu unterjochen und die Feinde des Regimes werden systematisch marginalisiert. Natürlich ist Harry selbst die "Undesirable Number One" auf der Fahndungsliste des Ministeriums und wird so zum Symbol des Widerstands derer, die weder der Propaganda noch der Ideologie der "Pure Bloods" auf den Leim gegangen sind. Die ethische Botschaft Rowlings ist eindeutig.

Harry - zusammen mit seinen treuen Freunden Hermine und Ron auf der Flucht - muss nun jene Aufgabe bewältigen, die ihm Dumbledore vor seinem Tod anvertraut hat: die Jagd nach den noch verborgenen Horkruxen. Sie enthalten Lord Voldemorts zerteilte Seele und müssen vernichtet werden, bevor der dunkle Lord selbst überwunden werden kann. Im siebten Band verabschiedet sich Rowling vom heimeligen Ambiente eines Schuljahrs in Hogwarts samt Quidditch, Kürbissaft und Weasleys zauberhaften Zauberscherzen. Die Geschichte verliert ihre kindliche Unbeschwertheit. Der Schritt zum Erwachsensein der Protagonisten ist damit auch äußerlich vollzogen. Ihr Leben verläuft nicht mehr in den schützenden Bahnen des Gewohnten. Und nicht nur die äußeren Gegebenheiten werden rauer und düsterer, auch das Thema Freundschaft und Liebe geht in seine entscheidende Bewährungsprobe. Rowlings Begabung, authentischen Charakteren ein eigenes Leben einzuhauchen, sie zu entwickeln und auszugestalten, bleibt auch hier unübertroffen.

Die Jagd nach den Horkruxen gestaltet Rowling in gewohnter Manier phantasievoll fabulierend, kunstvoll komponierend, mit Wiederaufnahmen und Querverweisen auf Personen und Ereignisse in den vorangegangenen Bänden, die nicht nur zahlreiche der dort ausgestreuten Hinweise aufnehmen und so die verschiedensten losen Enden verbinden, sondern auch die Lesenden mitunter atemlos und etwas verwirrt zurücklassen. Die Handlungsfäden sind dicht gestrickt - Rowling bezeichnet nicht ohne Grund Jane Austen als ihr literarisches Vorbild. Weh dem, der die ersten sechs Bände nur oberflächlich gelesen hat. Doch Rowling wäre nicht Rowling, wenn es ihr nicht gelänge, in dieser mit reichlich Dramatik erzählten Hatz auch noch Geschichten von herzzerreißender Emotionalität unterzubringen.

Mal etwas elegisch ausladend, mal einen Gang zulegend steuert sie auf den lang erwarteten Höhepunkt der Erzählung zu: die endgültige und abschließende Begegnung Harrys und Voldemorts. In ihr muss sich jene Prophezeiung bewahrheiten, die durch die Entscheidung Voldemorts, Harry vernichten zu wollen, das Leben beider unauflöslich miteinander verbunden hat: "... und der Eine muss von der Hand des Anderen sterben, denn keiner kann leben, während der andere überlebt" (Bd. 5, 987).

In der Symbolwelt der Romane ist damit der ewige Kampf von Gut und Böse in die entscheidende Phase getreten, und so steht die Frage im Raum: Wer wird siegen - das Gute oder das Böse? Die dramatische Schlusssequenz enthält dabei unsterbliche (und mit Sicherheit spielfilmtaugliche) Szenen wie den Aufstand der Hauselfen, die sich mit Tranchiermessern und Küchenbeilen bewaffnet in den Kampf gegen den dunklen Lord und sein Gefolge stürzen, oder das Duell zwischen Bellatrix Lestrange, einer der fanatischsten Anhängerinnen Voldemorts, und der sonst so mütterlich-hausbacken daherkommenden Molly Weasley, die nun endlich zeigen darf, was in ihr steckt.

Wer stirbt, wer überlebt - Harry oder Voldemort? Die zunächst verblüffende Antwort lautet: beide sterben, und doch überlebt einer von beiden. Das kann natürlich nur mit einer gesunden Portion phantasievoller, aber dennoch plausibler "Magie" gelingen - ein Metier, das Rowling wie niemand anderer beherrscht. Wer dabei eine fulminant-dramatische Inszenierung der Vernichtung des Bösen erwartet hat, wird enttäuscht sein. Der Widerstand gegen das Böse kostet reichlich Opfer - wohl wahr -, aber der letzte Sieg darüber ist, trotz der äußeren Dramatik, eher subtiler Natur. Der von Rowling ins Bild gesetzte Mythos zeigt dabei metaphysischen Tiefgang.

Das Böse betreibt seine eigene Vernichtung, indem es die abgrundtief böse Tat des Anfangs vollenden will, den unvollendet gebliebenen Mord, um nun wirklich uneingeschränkt zur Macht zu kommen. Und gerade diese Tat setzt die eigene Selbstzerstörung unaufhaltsam in Gang. Denn in Harry steckt jener in der ersten mörderischen Begegnung der beiden unbewusst ausgelagerte Teil der Seele des dunklen Lords. Dieser wird durch Voldemort selbst unwissentlich im letzten abgründigen Angriff auf einen sich opfern wollenden und daher bewusst sich nicht zur Wehr setzenden Harry zerstört. Am Ende wird das Böse nicht vernichtet, es nichtet sich selbst. Voldemort unterliegt, weil ihm die Instrumente des Bösen entgleiten; ja sich gegen ihn selbst wenden.

Der Schutz der Mutter Harrys, den er sich bei seiner "Auferstehung" in böser Absicht angeeignet hat, schützt am Ende Harry, weil Voldemort damit das Band, das sein eigenes Überleben mit dem Harrys verbindet, nur noch stärker geknüpft hat ("Ich wollte das Blut dessen, der mich vor vierzehn Jahren meiner Macht beraubt hatte, denn dann würde jener Schutz, den ihm seine Mutter geschenkt hatte, auch in meinen Adern fließen", Bd. 4, 686). Und die Aneignung des wirksamsten aller Mordinstrumente, des unbesiegbaren "Elder Wand", für dessen Besitz und Beherrschung er die Tötung Dumbledores befohlen und Snape ermordet hat, schlägt auf ihn selbst zurück.

Das Böse scheitert, weil es die selbstdestruktive Dynamik der eigenen bösen Taten unterschätzt und am Ende auf sich selbst zurückgeworfen wird. Vielleicht ein Überraschendes, aber trotz aller Magie kein magisches (und damit ein etwas enttäuschendes?) Ende. Freilich eines, das einem sich nahelegenden, deterministischen Täter-Opfer-Dualismus entkommt - Harry wird weder zum Mörder noch zum Opfer Voldemorts - und dabei die ehernen Gesetze von Leben, Liebe und Tod dennoch aufrechterhält.


Das Lieblingsthema der Autorin ist die Liebe

Die Spannung und der Tiefgang der Erzählung Rowlings liegen nun nicht notwendig in der Originalität ihrer Gedanken, sondern in der Art und Weise, wie sie die tragenden Charaktere entwickelt. Sie spielt dabei bewusst und gekonnt auf der Klaviatur von Freiheit und Entscheidung, Schicksal und Selbstbestimmung. Das unterscheidet sie so erfrischend von der Schwarz-weiß-Zeichnung der Figuren in John R. R. Tolkiens "Herr der Ringe". Denn Rowling hält nichts von Determinismus, sondern die freie Entscheidung ist der Dreh- und Angelpunkt ihrer Ethik. Selbst Voldemort hätte sich anders entscheiden können.

Das wissen wir spätestens nach jenen strapaziösen Ausflügen in Kindheit und Werdegang des dunklen Lords, die uns der sechste Band zugemutet hat. Doch er verharrt in seiner Entschiedenheit für das grundlos und damit letztlich selbstwidersprüchliche Böse. Harry indes ist angefochten, von Selbstzweifeln geplagt, aber er bleibt der unbeirrt Gute, denn durch seine Fähigkeit zu lieben ist er trotz seiner Nähe zur dunklen Seite nicht verführbar. Am Ende tut er das Richtige, indem er alles zu verlieren bereit ist, und letztlich dadurch alles gewinnt.

Doch gerade durch diese idealtypische Ausgestaltung sind die exemplarischen Antipoden Harry und Voldemort zur Beschreibung der conditio humana weit weniger geeignet (letzterer vielleicht noch eher als ersterer) als jene, die ihr Schicksal irgendwo dazwischen bewältigen müssen. Gut und Böse sind weder schicksalhaft noch einfach zu trennen, und die Charaktere Rowlings sind immer für eine Überraschung gut. Denn sie weiß, dass das Leben zwischen den Extremen gelebt sein will, und erhebt darum auch jenen Satz zur Maxime ihrer Bücher, dass es unsere Entscheidungen sind, die uns ausmachen.

Da sind zum einen die Malfoys, deren opportunistische Gefolgschaft mit dem dunklen Lord dort endet, wo angesichts der Abgründigkeit des Bösen die eigenen Seelen Schaden nehmen und sich ihre Entscheidung gegen sie selbst kehrt. Aber weit herausragender ist die Figur des Severus Snape. Mit viel psychologischem Feingefühl ist sie über sieben Bände hinweg ausgestaltet. Snape avanciert dabei zum tragischen Helden der Romanserie. Seine Gestalt offenbart die eigentliche Qualität der Erzählkunst Rowlings. Snape lässt keinen Zweifel daran, dass er Harry vom ersten Augenblick an hasst, und ist am Ende doch derjenige, der nicht nur seinen Ruf, sondern auch seine Seele, ja am Ende sein Leben opfert, damit Harry vollenden kann, was der dunkle Lord mit ihm begonnen hat.

Und das, obgleich er von der Opferidee selbst nicht allzu viel hält (551). Seine Tat ist allein durch das motiviert, von dem Voldemort nichts versteht: die Liebe; die Liebe zu Lily, Harrys Mutter, die, obgleich ohne Hoffnung auf Erfüllung, alles wagt. Diese Liebe ist die Grundfeste, auf der Snape seinen Weg in ungeahnter Konsequenz gehen kann. Ihr Verlust, den er selbst riskiert hat und zutiefst bereut, lässt Snape zu dem werden, der er wirklich ist: "Look (...) at (...) me" (528) sind daher seine letzten, an Harry gerichteten Worte. Snapes Erinnerungen geben am Ende den entscheidenden Hinweis für Harry, das zu tun, was nur er tun kann. Snapes abgründigste Tat (der Liebe und Freundschaft, wie man im Nachhinein erkennt), die Tötung Dumbledores, bereitet letztlich den Weg zu Voldemorts endgültiger Vernichtung.

Unverkennbar ist die Liebe nicht nur Dumbledores "favourite solution", wie Voldemort Harry beim letzten Gefecht abschätzig entgegenschleudert, sondern auch das Lieblingsthema der Autorin. In vielfältiger Weise spielt sie mit den verschiedensten, auch erotischen Dimensionen dieses Themas: die Mutterliebe, die Harry beschützt; die Liebe der Freunde, die miteinander durch Dick und Dünn gehen; die Liebe Harrys zu Ginny, die er zu ihrem Schutz aufzugeben bereit ist. Liebe ist für Rowling jene Kraft, "die wunderbarer und schrecklicher ist als der Tod, als die menschliche Intelligenz, als die Kräfte der Natur" (Bd. 5, 990). Es ist eine Macht, die am Ende auch das Böse überwinden kann. Denn Liebe ist das, was der dunkle Lord nicht kennt, ja was er verachtet."He does not love" (577) und allein das besiegelt Voldemorts Schicksal.

Rowlings Geschichte gestaltet sich nicht nur als ein Märchen von Gut und Böse, von Liebe und Tod; es ist auch eine Geschichte von Erbarmen, Vergebung, Reue und Umkehr. Es sind gerade diese Motive, die Rowling im letzten Band bevorzugt in Szene setzt. Sei es Snape, sei es der zurückkehrende Ron, der seine Freunde zunächst auf ihrem planlosen und so wenig Erfolg versprechenden Weg auf der Suche nach den Horkruxen verlassen hat. Sei es der sein Leben rückblickend ordnende Dumbledore, dessen hehre Lichtgestalt dabei so manch dunklen Fleck offenbart. So erkennt man, wieso er des reinigend-klärenden Gesprächs mit Harry bedarf.

Dieses Gespräch ist die Schlüsselszene der ganzen Geschichte. Sie findet statt in einem Raum, den Rowling mit den Worten Harrys schalkhaft so beschreibt: "It looks like Kings Cross station. Except a lot cleaner, and empty, and there were no trains as far as I can see" (570). Die Szene erinnert jedoch jeden theologisch halbwegs sensiblen Menschen an eine ganz andere Art Fegfeuer. Rowling zögert nicht, auch ihre positiv besetzten Idole von den Sockeln zu stürzen. Zumindest wird die Idealgestalt Dumbledores so weit dekonstruiert, dass sich Harry aus der Behütung dieses Übervaters psychologisch geschickt emanzipieren kann. Nicht nur die Kriterien des Entwicklungsromans sind damit zur Genüge erfüllt, die Szene zeigt auch menschliche Größe.


Das Böse ist wie ein dunkler Schatten immer latent gegenwärtig

Das Böse ist wie ein dunkler Schatten immer latent gegenwärtig, und sei es auch nur durch seine Verführungskraft, der jeder unterliegen kann, selbst Dumbledore. Und in Versuchung geraten war er - und hier gleicht er Voldemort - durch die Sehnsucht danach, alles besiegen zu können - auch den Tod, diesen letzten und größten aller Feinde. Darum hat er versucht, in den Besitz jener drei magischen Gegenstände zu gelangen, um deren Existenz und Wirksamkeit der ganze siebte Band kreist: die drei "Deathly Hallows".

Es sind jene drei Heiligtümer (besser: Reliquien) des Todes, die, wie das bekannte Zauberermärchen "Von den drei Brüdern" erzählt, einst die widerwillig geleistete Gabe des Todes an drei der begabtesten Zauberer gewesen sind: der aus Holunderholz gefertigte "Elder Wand", der in keinem Duell besiegbar ist; der "Resurrection Stone", der die Toten wiederkehren lässt, und der "Invisiblity Cloak", jener Zaubermantel, dessen Kunst des Verbergenkönnens Harry schon in den ersten sechs Bänden aus mancherlei Bredouille befreit hat.

Sie zu besitzen und so der "Meister des Todes" zu werden, war der Lebenstraum Dumbledores. Doch er hat versagt. Weil er der Versuchung nicht widerstand, war er allenfalls dazu fähig, die Macht des einen so zu nutzen, wie es ihm gebührt: den "Elder Wand". Doch den "Resurrection Stone" und den "Inivisibility Cloak" vermochte er darüber hinaus nicht auf rechte Weise zu nutzen: nämlich nicht egoistisch, sondern für andere. Dadurch dass Liebe und Zuneigung sein Tun motivieren, erweist Harry sich als der eigentliche "Master of the Hallows" und damit als "Herr des Todes". Rowling scheut die großen Themen nicht, und sie versteckt sich auch nicht vor großen Vorbildern. Das macht ihre Geschichten auch für die theologische Zunft so interessant.


Den Leser nicht traurig machen und zeigen, dass es immer Hoffnung gibt

Im Eifer des Gefechts, also beim ersten Lesen, kann man die Texte auf der ersten Seite des Buches schon mal überblättern, gänzlich vernachlässigen sollte man sie aber nicht. Die Verse aus der Bearbeitung des Orest-Mythos durch den antiken Tragödiendichters Aischylos und aus William Penns "More Fruits of Solitude" erweisen sich als Leitgedanken: Das Schicksal (der Welt) ruht in den Händen der Kinder und der Tod bedeutet nicht das Ende. Die Bedeutung beider Zitate klärt sich in jener surrealen Szene, in Kings Cross. Leben und Tod sind nicht streng getrennt in Rowlings Zauberwelt. Sie sind eher die entgegengesetzten Enden einer Skala mit sich vermischenden Grenzen. Aber dennoch nimmt Rowling die Frage nach dem Tod ernst. Wie geht man um mit diesem letzten Feind? Der wahre Meister der "Deathly Hallows" und damit derjenige, der den Tod wirklich besiegen kann, ist der, so Dumbledore am Ende der Szene "der vor dem Tod nicht davonläuft ("He accepts that he must die, and understands that there are far, far worse things in the living world than dying", 577). Große Worte werden hier gelassen ausgesprochen.

Das Böse, die Liebe, der Tod - Rowling jongliert mit metaphysischen Schwergewichten mit einer Leichtigkeit, die mitunter den Atem stocken lässt. Aber ihre Geschichte bleibt keine Antwort schuldig. Am Ende ist Harrys Schwäche seine Stärke: die Liebe. Indem Harry sich um der Liebe zu den anderen willen für den eigenen Tod entscheidet, akzeptiert er nicht nur die eigene Sterblichkeit, sondern entlarvt das Streben des dunklen Lords nach Unsterblichkeit in seiner abgründigsten Sinnlosigkeit. Harrys Selbstopfer sucht nicht mehr das eigene Überleben, sondern nur noch das Leben der anderen zu sichern. Er erneuert damit den "Zauber" jener Hingabe für die anderen, den ihm seine Mutter aus Liebe geschenkt hat.

Weil Voldemort aber nichts von Liebe versteht, versteht er nichts vom Leben und nichts vom Tod. Unsterblichkeit ist nicht etwas, das man für sich allein besitzen kann, sie ist der unüberbietbare Wunsch, die Gabe der Hoffnung für die anderen. Und wie sinnlos ist sie für jemanden, der niemanden außer sich selbst kennt ("Do not pity the dead, Harry. Pity the living, and, above all, those who live without love", 578). Das klingt überraschend neu und vertraut zugleich. Und es macht das eigentliche Ende der Geschichte so plausibel, dass man damit leben kann.

Also alles in allem ein gelungenes Buch? Ja, wenn da dieser Schluss nicht wäre ... Was sollen wir anfangen mit jenem Überschlag ins Kitschige: "All was well" (607)? Auch "19 Jahre später" ein allzu schlichtes, zu harmonisches Ende. Unterschätzt Rowling zuletzt nicht doch ihre eigene Leserschaft? Haben die Verluste keine Spuren hinterlassen; hat der Sieg am Ende nicht doch zu viel gekostet? Ja, ist er überhaupt ein endgültiger Sieg? Etwas mehr Zweideutigkeit hätte man schon ertragen. So wäre ein "open end" allemal besser als solch ein "happy end". Und so ist man am Ende von der Meisterin der Doppeldeutigkeit doch ein klein wenig enttäuscht.

"Die Rechnungen dieser Autorin gingen nie glatt auf, weil die Menschen nun mal komplex und widersprüchlich sind in ihren Wünschen, Hoffnungen, Sehnsüchten, Ambitionen. Das verhalf den Büchern bei aller zauberischen Verspieltheit und allem magischen Versteckspiel zu einer Ernsthaftigkeit, die nichts mit Abrakadabra und Simsalabim zu tun hat. (...) Warum legt man den Band nicht mit einem befreiten, befriedigenden Glücksgefühl aus der Hand? Weil der Schluss (...) nur zwei Deutungen zulässt: die einer ominösen Bedrohung, die ihn konterkariert oder die eines süßlichen Endes, wie man es von einem Märchen erwartet, aber nicht von einer der ausgebufftesten Autorinnen unserer Zeit", so formuliert Felicitas von Lovenberg dieses Gefühl zutreffend (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Juli 2007).

Ist Rowling hier tatsächlich jenem gattungsimmanenten Hang zum Kindermärchenton unterlegen, als fehle ihr der Mut, den bisher eingeschlagenen, so fesselnden Weg ihrer eigenen Art von modernem Märchen bis ans Ende zu gehen? In einem Nachruf auf Astrid Lindgren freilich war einmal der Satz zu lesen: "Sie wollte ihre Leser (...) nicht traurig machen - sie wollte ihnen zeigen, dass es, selbst wenn man sehr unglücklich ist, immer Hoffnung gibt. (...) Das subversive Versprechen, das Astrid Lindgren ihren Lesern macht, lautet: Triste Verhältnisse lassen sich durch die Macht der Worte überwinden" (Gaschke). Vielleicht lässt sich ja damit auch das Böse bannen? Wer weiß.


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Johanna Rahner (geb. 1962), Studium der Biologie und Katholischen Theologie in Freiburg. Dort Promotion (Neues Testament) 1997, Habilitation (Fundamentaltheologie/Ökumenische Theologie) in Münster 2003. Derzeit Lehrstuhlvertretung im Fach Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bamberg.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 9, September 2007, S. 462-466
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. September 2007