Schattenblick →INFOPOOL →BILDUNG UND KULTUR → LITERATUR

AKZENTE/116: Daniel Kehlmann und die Theologie (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 4/2009

Keine zufällige Beziehung
Daniel Kehlmann und die Theologie

Von René Dausner


Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" war ein Weltbestseller, und auch sein jüngstes Buch "Ruhm" hat Aufsehen erregt. Im Werk dieses jungen Erfolgsautors lassen sich zahlreiche Bezüge zu theologischen Fragestellungen ausfindig machen. Besonders gilt das für die Schwierigkeit des Redens über Gott und die "conditio humana".


*


Zugegeben: Wer den Namen eines der jüngsten und zugleich erfolgreichsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur hört, denkt nicht unmittelbar an die Theologie. Wer Daniel Kehlmann hört, denkt an "Die Vermessung der Welt", so der Titel seines Weltbestsellers, der seit 2005 über zwei Millionen Mal verkauft und in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden ist. Oder: an "Ruhm", wie sein jüngster Roman überschrieben ist, der Anfang dieses Jahres erschien.

Und trotzdem ist die Beziehung zwischen Daniel Kehlmann und der Theologie keineswegs zufällig oder nachrangig. Bereits in seinem ersten Roman, "Beerholms Vorstellung" aus dem Jahr 1997, spielte Theologie, zumindest vordergründig, eine nicht unerhebliche Rolle. In der Folgezeit trat die Vokabel "Theologie" zwar in den Hintergrund, dafür gewannen aber theologische Themen zunehmend an Bedeutung. Nicht zuletzt mit seinem neuesten Roman stehen nun explizit theologische Fragen zur Debatte.


Theologische Experimente

In der dritten von insgesamt neun Geschichten, aus denen der jüngste Roman "Ruhm" besteht, geht es um eine über siebzigjährige Frau namens Rosalie, die an einer unheilbaren Krankheit leidet. Um ihrem nahenden Tod zu entgehen, wendet sie sich zunächst unverhofft, dann immer drängender an den Autor, ihren Schöpfer, der selbst ein fiktives Geschöpf des Autors Daniel Kehlmann ist, um ihn um ihr Leben zu bitten. Leo Richter, so der Name jenes Schriftstellers, den Kehlmann als "Autor vertrackter Kurzgeschichten voller Spiegelungen und unerwartbarer Volten von einer leicht sterilen Brillanz" (29) charakterisiert, lehnt diese wiederholten Gnadengesuche zunächst ab. Am Ende der Geschichte aber wird er ihrem bittenden Drängen nachgeben, seinen Text ruinieren, wie er selbst sagt, und Rosalie nicht nur das Leben, sondern auch die Jugend wieder schenken.

Theologie spielt in Kehlmanns Roman "Ruhm" nicht nur verdeckt, etwa in Form von Schlüsselwörtern wie "Gnade", "Hoffnung" oder "Erlösung", eine bedeutsame Rolle; der Erzählerautor Leo Richter - nomen est omen - qualifiziert vielmehr selbst die Geschichte Rosalies als eine "theologische" Geschichte (67). Was er darunter versteht und wie er zu dieser Bezeichnung kommt, erläutert er nicht. Selbst auf die dreimalige Frage Rosalies, wieso denn ihre Geschichte "theologisch" zu nennen sei, schweigt Richter - und mit ihm auch Daniel Kehlmann. Unklar bleibt dabei, ob die Geschichte in ihrer ursprünglich vom Autor geplanten Form theologisch ist oder ob sie nicht vielmehr durch jene Schlusswendung erst theologisch wird, in der der Autor selbst wie ein "Deus ex machina" in der Geschichte erscheint, um Rosalie ein zweites Mal ihr fiktives Leben einzuhauchen.

Der renommierte Literaturwissenschaftler Heinrich Detering, der Kehlmanns "Ruhm" unmittelbar nach dessen Erscheinen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" rezensierte, wendet die Kennzeichnung dieser einen Geschichte als einer theologischen auf den Roman als Ganzen an: "In ihrer ganzen kunstvoll-amüsanten Komposition lesen sich diese postmodernen Muster- und Meistergeschichten als ein theologisches Experiment." Deterings Beobachtung leuchtet umso mehr ein, als neben der allseits präsenten Theodizeeproblematik der Erzählerautor Leo Richter am Ende des Romans als "ein zweitklassiger Gott" (203) beschrieben wird, der sich aus seiner Verantwortung zu stehlen versucht, indem er sich jedweder Möglichkeit entledigt, für seine Handlungen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sein Schweigen in der Geschichte "Rosalie geht sterben" liest sich somit vom Ende her auch als Ausflucht oder Angst davor, ein unnötiges Wort zu sagen, das gegen ihn, den Urheber der Geschichte, verwendet werden könnte.

Mit diesem Vergleich zwischen Gott und dem Schriftsteller kommt eine zentrale poetologische Auffassung zur Sprache, die laut Kehlmann Wesen und Eigenart des modernen Romans beschreibt. Figuren und Handlung treten darin zurück und räumen der Komposition und der Sprache eine unbedingte Priorität ein. In dieser Hinsicht, so schreibt Kehlmann mit Verweis auf Vladimir Nabokov, sei der Roman der Moderne nicht über Gustave Flaubert hinausgekommen; denn der eigentliche Held, mit dem der Leser sich identifizieren wolle, sei der Schriftsteller selbst, "ein unerreichbares, alle Handlungsfäden kontrollierendes Wesen, das sich nicht auffinden lässt und sich nie äußert, obwohl nichts geschieht, das nicht in seiner Macht und Absicht läge, mit anderen Worten: Gott." (Ironie und Strenge, in: Wo ist Carlos Montúfar? Reinbek bei Hamburg 2005, 133-143, hier 137)

Kehlmann, der weder Theologe ist noch sein will, bringt in diesem Zitat Nabokovs eine Gottesvorstellung zur Sprache, die sich wie ein roter Faden durch sein Denken und Dichten zieht. Gott erscheint dabei als höchste und reinste Idee, deren Distanz zum Menschen unermesslich wirkt. In dieser Hinsicht zeigt sich eine Nähe zur Tradition der so genannten negativen Theologie, die nach landläufiger Meinung Gott alle positiven Attribute abspricht. Zu groß sei der Unterschied zwischen Mensch und Gott, als dass Gott sprachlich auch nur annähernd beschrieben werden könne.

Wie sehr auch Kehlmann von dieser sprachskeptischen Haltung geprägt zu sein scheint, zeigt sich etwa im Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt. Auf die Aussage, dass im Gegensatz zum Verhältnis zwischen Mensch und Tier ein Dialog mit einem metaphysischen Wesen, das dem Menschen intellektuell überlegen sei, denkbar wäre, reagiert Kehlmann zurückhaltend. Denn für dieses Wesen, so konstatiert Kehlmann, "wäre das Niveau, auf dem wir diskutieren, indiskutabel" (Daniel Kehlmann und Sebastian Kleinschmidt, Requiem für einen Hund. Berlin 2008, 27).


Der Tod und das Leiden als beunruhigende Anfragen

Die Konsequenz aus dieser Gottesvorstellung Kehlmanns verschärft sich in der Theodizeeproblematik, auf die er wiederholt zu sprechen kommt. Der Tod und das Leiden des Menschen werfen die beunruhigende Frage nach der Vereinbarkeit von Gottes Gerechtigkeit, Güte und Allmacht auf und werden für die Romanfiguren Kehlmanns und letztlich auch für ihn selbst zum entscheidenden Prüfstein theologischer Überlegungen.

In der "Vermessung der Welt" beispielsweise denkt Carl Friedrich Gauß, nachdem er alle Selbstmordgedanken über den Haufen geworfen hat, an das Jüngste Gericht. "Er glaubte nicht", heißt es weiter, "dass so etwas veranstaltet werden würde. Angeklagte konnten sich verteidigen, manche Gegenfragen würden Gott nicht angenehm sein. Insekten, Dreck, Schmerz. Das Unzureichende in allem. Selbst bei Raum und Zeit war geschlampt worden. Falls man ihn vor Gericht stellte, gedachte er, ein paar Dinge zur Sprache zu bringen." (99) Diese theologiekritische Deutung, auf die Kehlmann in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 16. Januar 2009 verwiesen hat, ist ein Dreh- und Angelpunkt seines bisherigen literarischen Schaffens.

Die Sehnsucht nach wahrer Humanität, die sich in der Figurenwelt seiner Bücher Bahn bricht, lässt sich durch simplifizierende Antworten nicht befrieden: zu groß ist die Empörung über die Gebrochenheit und Hinfälligkeit des Menschen, zu groß die Empörung über die Unausweichlichkeit des Todes. Eine literarische Gestalt wie Miguel Auristos Blancos, der - mit Ausnahme des Kapitels "Rosalie geht sterben" - in jedem Kapitel des Romans "Ruhm" auftaucht, steht stellvertretend für einen Literaturbetrieb, der den Menschen mit esoterischer Wohlfühl-Rhetorik selbst Schuld an ihrem eigenen Leiden gibt, das sie mit einer geänderten Einstellung überwinden könnten. Gegen diese Einstellung erhebt Kehlmann - wie etwa auch der biblische Hiob oder Kohelet, der Prediger Salomo - zu Recht seine Stimme.

In seiner Dankesrede für den Candide-Preis aus dem Jahr 2005 geht Kehlmann in achtbarer, wenn auch nicht unkritischer Bewunderung Voltaires explizit auf diese Theodizeeproblematik ein. Der massenhafte Tod durch das Erdbeben in Lissabon, das bereits Heinrich von Kleist beschäftigte, wirkt nach bis ins 20. Jahrhundert. Allerdings ergibt sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine deutliche Verschiebung des Paradigmas, die kaum ein anderer Autor durch die Gestaltung seiner Figuren so meisterhaft darstellt wie Daniel Kehlmann, ohne jedoch selbst die faktisch vollzogene Akzentverlagerung hinreichend zu bedenken. Zu sehr scheint ihn die Empörung gegen eine vermeintlich unreflektierte und verfrühte Rechtfertigung Gottes zu beschäftigen.

Der Fokus auf das durch Menschen verursachte Leiden, der vor allem durch die Shoa in den Blick kommt, führt jene Perspektive ad absurdum, die Kehlmann mit Susan Neiman formuliert: Dass nämlich das Erdbeben in Lissabon "gewissermaßen das Auschwitz des achtzehnten Jahrhunderts" gewesen sei (Gott begrüßt seine Opfer, in: Wo ist Carlos Montúfar? 29-37, hier 32).

Kehlmann, der daraus die - wie er selbst sagt - "melancholisch" stimmende Erkenntnis ableitet, "dass die Welt gescheitert war", spürt die Schieflage, die Neimans Vergleich mit sich bringt. Denn auch wenn Kehlmann im Folgenden eine "religiöse Erschütterung" durch die Tsunamiwellen um Weihnachten des Jahres 2004 vermisst, die er als "göttlichen Atomschlag" deutet, und auch wenn er beklagt, dass im Gegensatz dazu der Tod von Johannes Paul II. geradezu eine "Woge religiöser Begeisterung" ausgelöst habe, die jene andere Welle habe vergessen lassen und die Vorstellung hervorrufe, dass "die Welt in Ordnung wäre und Gott ein gütiger alter Herr", so verschweigt er in diesem Kontext doch nicht "das fast vollständige Ignorieren des Massakers in Ruanda" (33).

Dieser anfängliche Gedanke tritt zwar in den Hintergrund seiner Ausführungen, bleibt aber als Stachel der Entrüstung deutlich vernehmbar. Der Grund für diese Empörung, die sich in der Empathie mit seinen Romanfiguren ausdrückt, bleibt das Erschrecken über die Grausamkeit des Menschen. Der Tod, der "zum Erschütterndsten im Menschenleben" (Karl Rahner) zählt, ist schmerzvoll und grausam - sei es der individuelle Tod, sei es der Tod tausender von Menschen, die durch Naturgewalten ums Leben kommen. Und gleichzeitig muss gesagt werden, dass die Shoa in Wissenschaft, Kunst und Religion und somit im Bewusstsein der Menschheit überhaupt eine deutliche Zäsur markiert und eine nicht zu schließende Wunde hinterlässt.


Ironie und Humor als Perspektiven der Theologie

Abgesehen von dieser philosophischen Position sowie deren Bedeutung für die gegenwärtige Theologie, abgesehen von anderen Konzeptionen etwa dem "Gottesbegriff nach Auschwitz" (Hans Jonas) oder der Neuen Politischen Theologie (Johann Baptist Metz), die möglicherweise nicht dem Verdikt Kehlmanns unterliegen, dass "religiöse Welterklärungen moralisch scheitern", bleibt dennoch Kehlmanns ebenso leidenschaftliches wie beunruhigtes und beunruhigendes Interesse am Menschen dominant. Kehlmann entwirft in seinen Texten eine originelle Vielfalt an Handlungssträngen, die die Ernsthaftigkeit und Existenzialität des Menschen überzeugend schildern. Das "Seufzen der Kreatur" (vgl. Röm 8) und die Todesproblematik werden dabei eigens thematisiert oder verleihen seinen Erzählungen in der Tonlage eines basso continuo die nötige Glaubhaftigkeit, ohne dabei schwermütig zu werden.

Im Gegenteil: Kehlmanns Texte sind tief geprägt von einer Heiterkeit und Leichtigkeit, die dazu einlädt, sich auf die zur Debatte stehenden Fragen nach gelebter Humanität gern und dankbar einzulassen. In seiner Dankesrede für den Candide-Preis formuliert er einen Gedanken, der theologisch überraschend und fruchtbar, wenn auch prima vista ungebührlich erscheint. Kehlmann beleuchtet aktuelle, politisch-religiöse Fragen unserer Zeit mit dem kritischen Blick Voltaires und folgert, Voltaire hätte niemals den Gemeinplatz gelten lassen, "dass fremder Glaube immer zu respektieren und nie zu verspotten sei" (Gott begrüßt seine Opfer, 35). Die Forderung nach Respekt sei häufig ein getarnter Gestus der Macht.

Aufklärerische Kritik versteht Kehlmann als schützenswertes Gut, dem er zugleich seine individuelle Prägung verleiht, indem er eine folgenreiche Begründung anschließt: "Denn über Glauben", so Kehlmann, "muss auch gelacht werden können" (36).

In dem Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt antwortet Kehlmann auf die Frage, ob Gott Humor habe: "Ich glaube nicht, dass Humor mit einer philosophisch sinnvollen Vorstellung von Gott vereinbar ist" (Requiem für einen Hund, 28). Vor dem Hintergrund des dargestellten Verständnisses eines "unerreichbaren", unnahbaren Gottes leuchtet Kehlmanns Antwort ein, zumal Humor, wie er sagt, "zu viel mit Menschlichkeit zu tun" habe. Mit Blick auf die menschliche Seite des Glaubens aber spricht Kehlmann von der Notwendigkeit und Unausweichlichkeit des Humors: "über Glauben muss gelacht werden können".

Dieser Satz, der theologisch kaum genügend ausgereizt worden ist, entwickelt vor dem Hintergrund der biblischen Glaubensgeschichten seine unmittelbare Evidenz. Abraham und Sara beispielsweise, die hochbetagt, aber kinderlos ihr Leben fristen, erhalten von Gott plötzlich die unverhoffte Weissagung der Geburt eines Kindes. Ihre erste Reaktion: Sie lachen. Beide. Und folgerichtig trägt das Kind den hebräischen Namen Jitzchak, der zu deutsch "Er lacht" bedeutet.

Diese spontane Reaktion mag unhöflich erscheinen angesichts des großartigen, göttlichen Geschenks - und doch zeigt sie exakt die Nähe, die zwischen Mensch und Gott entsteht. In diesem biblischen Text geht es nicht um vordergründigen Humor. Aber es geht um das Involviertsein Gottes in die Lebensgeschichte der Menschen und um den Ton, der dieses Involviertsein trägt: ein leichter, komödiantischer Ton, der die Welt- und Menschensicht trotz aller Unzulänglichkeiten bestimmt und einen hoffnungsfrohen, aber geerdeten Horizont aufleuchten lässt - wie in den Texten Daniel Kehlmanns.


Zu viel Metaphysik?

Aus den verschiedenen und vielfältigen Bezügen zu theologischen Fragen lassen sich im Wesentlichen zwei Themenkomplexe erkennen, die in Kehlmanns Geschichten wiederholt zur Sprache gebracht werden.

Der erste Themenkomplex betrifft die sprachliche und philosophische Vorsicht gegenüber Aussagen und Prädikationen über Gott. Kehlmann zeigt sich in dieser Hinsicht ebenso zurückhaltend wie die negative Theologie, die jede Erkenntnis Gottes als inadäquat ansieht. Menschliche Sprache, so scheint es, reicht nicht aus, um angemessene Aussagen über Gott zu treffen. Umso überraschender ist daher, dass Kehlmann in seinem Roman "Die Vermessung der Welt" eine Ausnahme zu machen scheint.

In dem Kapitel "Der Garten" begegnen einander Gauß und der einzig ihm intellektuell überlegene Graf von der Ohe zur Ohe, der, darauf deutet einiges hin, eben derjenige ist, dem Gauß beim Jüngsten Gericht einige unangenehme Fragen stellen will, ohne dass Gauß sich dessen bewusst wird.

Kehlmann reflektiert diese Passage selbst, indem er in seinen Göttinger Poetikvorlesungen auf sie zu sprechen kommt und eben diese Begegnung zwischen Gauß und dem Grafen als eine Kafka-Umkehrung deutet. Während K. in Kafkas "Schloss" vergeblich um Audienzen bittet und hofft, vorgelassen zu werden, gelingt Gauß dieses Vorhaben auf Anhieb. Gegenüber den stickigen und staubigen Räumen in Kafkas Romanen, die Kehlmanns Gauß vor der Begegnung mit dem Grafen durchaus auch durchleben muss, steht am Ende die Szene im Garten.

Auch wenn Kehlmann den Verweis auf die Paradies-Erzählung als "zu germanistisch" ablehnt, versteht er dennoch diese Szene als ein Überschreiten historischer Faktizität.

Mit Bezug auf diese Passage weist Kehlmann die wiederholt vorgebrachte Kritik zurück, es gebe in der "Vermessung der Welt" zu wenig Metaphysik. "Ich fürchte eher", fährt er fort, "es gibt zuviel davon" (Diese sehr ernsten Scherze, Göttingen 2007, 34).

Der Verweis auf die Metaphysik erscheint bei einem Roman, der nichts weniger als die "Vermessung der Welt" zum Thema hat, überraschend - einerseits. Andererseits zeigt sich einmal mehr Kehlmanns kritische Haltung gegenüber einer vollends aufgeklärten, rationalisierbaren und quantifizierbaren Welt, die sich bis hinein in die Priorität empirischer Forschung im gegenwärtigen Wissenschaftsdiskurs erstreckt. Denn formal begegnet Kehlmann den beiden Protagonisten, die an der Schwelle zur Neuzeit stehen und von der prinzipiellen Vermessbarkeit der Welt überzeugt scheinen, mit dem Kunstgriff der Ironie. Die Kunst erweist sich gerade darin als ein Reich unendlicher, unermesslicher Freiheit und Fantasie.

Ironie und Imagination erschaffen neben der dargestellten und vermessenen Welt ein eigenes, zweites Universum. Die Welt wird nicht nur vermessen, sondern zugleich verdoppelt und - um Kehlmanns Wendung aufzugreifen - metaphysisch durchleuchtet. Auch sein jüngster Roman kennt diese Form einer "Verdopplung der Welt" (Volker Weidermann): Das zweite Leben Rosalies, das Doppelleben eines Abteilungsleiters, ein Imitator, der an die Stelle des imitierten Schauspielers tritt - all diese Geschichten bestehen aus Verdopplungen. Aber obwohl diese vervielfältigten Welten im Bereich des Endlichen verbleiben, entziehen auch sie sich ihrer endgültigen Vermessbarkeit. Dafür steht nicht zuletzt die "theologische" Geschichte "Rosalie geht sterben".


Fokussierung auf den Menschen

Der zweite theologische Themenkomplex, der für Kehlmann eine bedeutende Rolle spielt, ist die Theodizee. In Kehlmanns Texten wird das Leiden und der Tod des Menschen, seine Gebrochenheit und Verletzbarkeit, kurz: die menschliche Existenz in bemerkenswerter Weise ernst genommen und in den Mittelpunkt gerückt. Gerade diese Fokussierung auf den Menschen stellt ein Gesprächsangebot dar, das die heutige Theologie dankbar aufgreifen könnte, um die in ihr zu verhandelnden Themen neu zu durchdenken und tiefer zu verstehen. Denn Kehlmann stellt den Menschen in unserer gegenwärtigen Welt dar, mit all seiner Freude und Hoffnung, Trauer und Angst. Nicht zuletzt das Ende der Geschichte "Rosalie geht sterben" mag als Beleg hierfür gelten, wenn der Erzählerautor Leo Richter schreibt, er glaube an Rosalie "richtig gehandelt" zu haben, "als wäre Gnade das Höchste". Und er fügt hinzu, ihm komme "die absurde Hoffnung, dass dereinst jemand dasselbe für mich tun wird" (76).

Das menschliche Leid und der Tod werden damit nicht aufgehoben oder verharmlost; und doch entsteht eine neue Perspektive, eine Perspektive der Hoffnung auf Rettung: "Denn wie Rosalie kann auch ich mir nicht vorstellen, dass ich nichts bin ohne die Aufmerksamkeit eines anderen, ja dass meine bloß halbwahre Existenz endet, sobald dieser andere den Blick von mir nimmt" (76).

Die zentrale Bedeutung des Menschen, die Kehlmann mit seinen Romanen und Erzählungen in den Blick nimmt, wurde auch durch Theologen des 20. Jahrhunderts wie etwa Karl Rahner erkannt und systematisch reflektiert. Dabei wird nichts von den Erschütterungen und dem Verstörenden des Menschen, wie er von Kehlmann dargestellt wird, zurückgenommen. Im Gegenteil: Die Fragen, die Kehlmann stellt, erfahren vor dem Hintergrund der christlichen Lehre der Inkarnation eine deutliche Verschärfung und Radikalisierung. Denn die Vorstellung, dass Gott als das ewige Wort (vgl. Joh 1,14) in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist, verlagert das Geheimnis Gottes in den Menschen hinein - und umgekehrt: Gott bleibt nicht eine theoretisch-abstrakte Größe, empathielos, sondern ist selbst im Sohn von dem menschlichen Leiden und Tod betroffen.


Der extreme Humanismus Gottes

Selbst wenn Kehlmann diesen Schritt nicht mitgehen könnte, bietet die Konsequenz des christlichen Glaubens erneut einen möglichen Punkt der Gemeinsamkeit: Denn die Folge dieser theologischen Überlegungen ist eine radikale Verantwortung des Menschen, die der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas - wie Josef Wohlmuth in konsequenter Fortführung der Theologie Rahners wiederholt herausgearbeitet hat - formuliert: In seinem Artikel über das "Judentum" spricht Levinas von einem "extremen Humanismus eines Gottes, der den Menschen viel abverlangt." Und er fügt hinzu: "Nach Ansicht vieler verlangt Er ihm zuviel ab." Dieser extreme Humanismus könnte eine Gesprächsbasis bieten für Daniel Kehlmann und die Theologie.


Dr. theol. René Dausner (geb. 1975), studierte Katholische Theologie, Germanistik und Erziehungswissenschaften in Bonn und Jerusalem. Seine Dissertation "Schreiben wie ein Toter" über den jüdischen Dichter Elazar Benyoetz wurde 2007 mit dem Preis der Universitätsgesellschaft Bonn ausgezeichnet. Zurzeit unterrichtet er am Grimmelshausen-Gymnasium in Offenburg.


*


Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 4, April 2009, S. 211-215
Anschrift der Redaktion:
Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg i.Br.
Telefon: 0761/27 17-388
Telefax: 0761/27 17-488
E-Mail: herderkorrespondenz@herder.de
www.herder-korrespondenz.de

Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,40 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2009