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BUCHBESPRECHUNG/079: "Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus" von O. Decker u.a., Hg. (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler (Hrsg.):
"Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus."

von Klaus Ludwig Helf, Juli 2015


Seit 2002 führt die Arbeitsgruppe um Elmar Brähler und Oliver Decker an der Universität Leipzig im Zwei-Jahres-Rhythmus sozialpsychologische Studien zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland durch. Die aktuellen Ergebnisse für 2014 belegen einerseits einen starken Rückgang rechtsextremer Aussagen und andererseits ein erhebliches Ansteigen der Abwertung von Asylsuchenden, Musliminnen und Muslimen, Sinti und Roma. Dieser Befund wird auch deutlich dadurch untermauert, dass seit dem Aufkommen der islamfeindlichen Pegida-Bewegung Übergriffe auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte sprunghaft angestiegen sind. Die Zahl der Attacken (Brand- und Sprengstoffanschläge auf Gebäude ebenso wie tätliche Angriffe auf die Menschen) versechsfachte sich vom Jahr 2012 auf 2014 (von 24 auf 150).

Elmar Brähler war bis 2013 Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig. Er war u.a. Mitglied im Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten und ist im Hochschulrat der Universität Leipzig. Oliver Decker ist Psychologe und seit 2012 Honorary Fellow an der School of Social Science der University of London; 2015 Visiting Professor an der School of Visual Arts in New York; Sprecher des Vorstandes des Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig und zusammen mit Elmar Brähler seit 2002 Leiter der »Mitte«-Studie zur rechtsextremen Einstellung in Deutschland. Johannes Kiess ist Politologe und Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Leipzig. Seit 2014 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Vergleichende Kultursoziologie und politische Soziologie Europas der Universität Siegen, Mitglied des Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung (KReDo) an der Universität Leipzig.

Brähler und Kollegen haben nunmehr im Psychosozial-Verlag ihre neuesten Forschungsergebnisse in einem Band zusammengefasst. Nach dem Vorwort folgen drei Kapitel, die Liste aller bisher erschienenen "Mitte-Studien" und die Kurz-Vita der Autorinnen und Autoren; den einzelnen Beiträgen sind jeweils Literaturhinweise angefügt. Die zentralen Befunde der "Mitte-Studie 2014", die vorab im Open Access zugänglich waren, bilden das erste Kapitel des vorliegenden Bandes, ergänzt um die Auswertung für die Bundesländer. Kapitel zwei widmet sich dem Rechtspopulismus und Autoritarismus in Europa; Nils C. Kumkar analysiert anhand einer Rede von Bernd Lucke die autoritäre Dynamik in der Wirkung der AfD. In Kapitel drei geht es um den Stand der Zivilgesellschaft im Abwehrkampf gegen die extreme Rechte.

Als Ergebnis der Mitte-Studie 2014 kann man zusammenfassen, dass die Zustimmung für rechtsextreme Einstellungen in beiden Teilen der Bundesrepublik gesunken ist: Nach dem Hoch des rechtsextremistischen und chauvinistischen Einstellungspotenzials im Jahr 2012 sei 2014 insgesamt - vor allem in Ostdeutschland - ein signifikanter Rückgang von 38,7 auf 22,5 Prozent zu verzeichnen. Immer mehr Menschen seien dagegen überzeugt, dass zu viele Muslime und Sinti und Roma nach Deutschland einwanderten, Letztgenannte zu Kriminalität neigten und man sich deshalb wie ein »Fremder im eigenen Land« fühlen müsse; das betreffe vor allem Westdeutschland (45,4 Prozent der Befragten im Westen, 33,9 im Osten). Über 90 Prozent der Probanden indessen hielten an der Demokratie als Staatsform fest, während sie für die Europäische Union relativ wenig Sympathie entwickelten: Nur knapp 42 Prozent im Westen und 36 Prozent im Osten seien davon überzeugt, dass sie Vorteile bringe. Zum ersten Mal wurden auch Erhebungen zur rechtsextremen Einstellung in den einzelnen Bundesländern gemacht, deren Ergebnisse jedoch wegen der schwachen Datenbasis vorsichtig zu beurteilen sind; so fehlen das Saarland, Bremen und Hamburg wegen der zu geringen Anzahl an Probanden. Die Forderung nach einer diktatorischen Regierungsform ist demnach vor allem in Mecklenburg-Vorpommern (13,9%) und in Sachsen-Anhalt (10%) verbreitet; Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit besonders stark ausgeprägt in Bayern, Sachsen-Anhalt und in Mecklenburg-Vorpommern; aber auch in Niedersachsen, Hessen und in Berlin stimmt mindestens jeder fünfte Befragte ausländerfeindlichen Aussagen zu.

Um diese scheinbar widersprüchlichen Daten zu interpretieren, greift Oliver Decker in seinem Beitrag den "Extremismus der Mitte" auf. Dieser Begriff wurde Ende der 1950er Jahre von dem US-amerikanischen Soziologen Seymour Martin Lipset in die Soziologie eingeführt, indem er die Analyse des Soziologen Theodor Geiger erweiterte. Dieser erklärte die Wahlerfolge der NSDAP seit Beginn der 1930er Jahre als der Reaktion des Mittelstandes auf die Weltwirtschaftskrise - eine zeitdiagnostische Analyse antidemokratischer, extremistischer Bewegungen aus der Mitte der Gesellschaft; Faschismus als eine typische Mittelschichtbewegung mit einer "autoritären Dynamik". Diese sei auch heute noch im demokratischen Deutschland festzustellen; Decker bezeichnet sie als "sekundären Autoritarismus": "Dieser bezieht seine Kraft nicht aus der Identifikation mit einem Führer, also einer personellen Autorität, sondern aus der Identifikation mit der Größe und Stärke der Wirtschaft und der Gewalt des Marktes" (S.30). Dazu käme vor allem in Deutschland (auch in anderen Staaten Europas) die Plombenfunktion einer starken Wirtschaft: Anerkennung des Primats und der Autorität der Wirtschaft. Sozialpsychologisch funktioniere der Wohlstand auch heute noch als gesellschaftlicher Stabilisator, als »narzisstische Plombe«. Bereits in den 50er und 60er Jahren hatte das Wirtschaftswunder - so Decker - für die Deutschen die Funktion, Kränkungen abzuwehren. Die Wirtschaft sei gleichsam «sekundärer Führer«, eine sekundäre Autorität, der man sich unter Verzicht auf eigene Wünsche unterwerfe; dadurch entwickelten sich Aggressionen gegenüber denjenigen, die als schwach identifiziert werden oder sich dem Zugriff der Macht des Marktes entziehen wie z.B. Sozialhilfeempfänger, Obdachlose, islamische Migranten, Sinti und Roma: "Die Ökonomie wirkt wie eine «narzisstische Plombe«, das heißt, die nationale wirtschaftliche Stärke hat eine stabilisierende Wirkung auf das Selbstwerterleben der Deutschen. Die Befunde von 2014 bestätigen diese Annahme, denn wieder wirkte die ökonomische Insellage - diesmal insgesamt entspannend - auf das politische Klima" (S.8). Aber dennoch sprechen die Autoren von einem "sekundären Autoritarismus", da sich 2014 zwar ein Rückgang der Ausländerfeindlichkeit gegenüber den Vorjahren gezeigt habe, andererseits aber:

... eine deutliche Zunahme der Ressentiments gegenüber Sinti und Roma, gegen Muslime und gegen Asylbewerber, weist auf eine autoritäre Dynamik hin. Die Unterordnung unter das Primat der Wirtschaft schürt demnach auch dann Aggressionen, wenn sie gut funktioniert ... Die autoritäre Aggression richtet sich entweder gegen jene, die als schwach oder als Bedrohung der eigenen (wirtschaftlichen) Größe phantasiert werden, oder gegen jene, die sich scheinbar nicht den Regeln der herrschenden Autorität unterwerfen." [S.8]

Zum ersten Mal wird auch die Wählerschaft der AfD anhand der Bundestagwahl 2013 und der Landtagswahlen untersucht. Die Anhängerinnen und Anhänger der AfD seien sozioökonomisch denen der etablierten Parteien ähnlich; im Vergleich dazu sei die Anhängerschaft der NPD "weit häufiger depriviert und außerdem jünger"; Männer seien in beiden Parteien überrepräsentiert; sie seien sich aber ähnlich hinsichtlich der Abwertung von Anderen und der antidemokratischen Einstellungen: "Große Unzufriedenheit mit der tatsächlichen Demokratie in Deutschland zeigen drei Viertel aller AfD- und NPD-Wählerinnen und -Wähler (75% bzw. 73,9%)" (S.101). Der Erfolg der AfD bei der letzten Bundestagswahl habe eine ganze Reihe unterschiedlicher Gründe; neben der Fähigkeit, in relativ kurzer Zeit eine funktionierende Organisation aufzubauen und fähiges Spitzenpersonal und finanzkräftige Geldgeber zu rekrutieren, sei ihr Erfolg vor allem darin begründet, "dass sie Milieus anspricht, die zwar antidemokratischem und menschenfeindlichem Gedankengut zugeneigt sind, bisher aber die etablierten Parteien wählten. Für diese - sich selbst der «Mitte« zurechnenden Milieus - ist die NPD als offen rechtsextreme Partei nicht wählbar gewesen" (S.104). Die AfD habe es geschafft, diese anzusprechen und sei deshalb nicht einfach eine Konkurrenz für die NPD, schöpfe auch nicht nur aus dem Potenzial der Nichtwählerinnen und Nichtwähler, sondern sei auch eine Konkurrenz für die etablierten Parteien", gerade weil rechtsextremes, menschenfeindliches und antidemokratisches Gedankengut eben auch hier verbreitet ist" (S.104); auch die europakritische Einstellung falle auf fruchtbaren Boden.

Der vorliegende Band führt die sozialpsychologischen Forschungsarbeiten von Adorno, Fromm, Marcuse und Horkheimer fort. Diese hatten auf Grundlage der Freud'schen Psychoanalyse einen Zusammenhang von Erziehung, Persönlichkeit und politischer Einstellung hergestellt und im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus die Sozialfigur der autoritären Persönlichkeit untersucht. Mit dem Band werden nicht nur grundlegende Datenbestände zu rechtsextremen Einstellungen vorgelegt, sondern auch plausible Erklärungsmuster angeboten, die nicht nur in der Forschung, sondern auch in der politischen Bildung aufgegriffen werden. Der sozialpsychologische Erklärungsansatz verbunden mit einem kritischen, sozio-ökonomischen Zugriff weitet die Perspektiven und Einsichten in die verquere Welt des Autoritarismus, der Vorurteile und der rechtsextremen Einstellungen. Der Band sollte in keiner demokratischen, antifaschistischen Bibliothek fehlen

Oliver Decker, Johannes Kiess, Elmar Brähler (Hrsg.):
Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus.
Buchreihe: Forschung Psychosozial
Psychosozial-Verlag, 2015
208 Seiten
19,90 Euro

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Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2015

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