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BUCHBESPRECHUNG/098: "Gregor Gysi: Ausstieg links? Eine Bilanz" von Stephan Hebel (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Nachgefragt und aufgezeichnet von Stephan Hebel
Gregor Gysi: Ausstieg links? Eine Bilanz.

von Klaus Ludwig Helf, März 2016


Nach dem Rückzug von Gregor Gysi als Fraktionsvorsitzender der »Linken« im Bundestag ist es auch an der Zeit, sich mit diesem Ausnahmepolitiker intensiver zu beschäftigen; ähnlich wie Herbert Wehner, Franz-Josef Strauß, der frühe Helmut Schmidt oder Oskar Lafontaine verstand er es, mit messerscharfer Intelligenz, brillanter Rhetorik und eigenständig-unabhängiger und kontroverser politischer Positionierung den politischen Betrieb aufzumischen und zu polarisieren. Bei Gysi kommen noch sein bürgerlicher Habitus, seine selbstironisch-distanzierte Haltung, sein Humor und sein Charme hinzu. Stefan Hebel macht mit dem vorliegenden Band einen Anfang und gibt uns einen tiefen und beeindruckenden Einblick in die Denk- und Erfahrungswelt des Politikers Gysi, aber auch der Mensch kommt nicht zu kurz. Gysis offizielle politische Karriere begann mehr oder minder unfreiwillig - wie er in dem Band berichtet - mit seiner Rede am 4. November 1989 bei der Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz, der größten und ersten von unten organisierten und offiziell genehmigten Demonstration in der Geschichte der DDR.

Stephan Hebel (* 1956) ist Journalist und Publizist. Nach dem Studium der Germanistik und der Lateinamerikanistik war er lange Jahre in der Redaktion der »Frankfurter Rundschau« in verschiedenen Funktionen tätig; seit 2011 ist er Publizist v.a. zu sozialpolitischen Themen.

Der vorliegende Band ist in weiten Teilen als Gesprächsband konzipiert (das entspricht auch dem redegewandten und dem etwas weit ausholenden kommunikativen Naturell von Gysi). Die kurz und knapp anmoderierten Gespräche wurden an zwei verschiedenen Orten geführt, um dem klassischen Klischee vom kleinbürgerlichen »Ossi« zu entkommen: im Karl-Liebknecht-Haus am Rosa-Luxemburg-Platz (Osten), der Parteizentrale der Linken und im »Vierraumladen«, einer Galerie mit Tagungsräumen in Friedenau (Westen). Den Gesprächen folgen Auszüge aus sechs wichtigen Reden von Gregor Gysi: u.a. bei der Kundgebung auf dem Alex (1989), beim Göttinger (2012) und beim Bielefelder Parteitag (2015), wo er seine Abschiedsrede als Fraktionsvorsitzender hielt. Eine Chronologie der Lebensdaten von Gysi schließt den Band ab.

In den Gesprächen mit Gysi geht es einmal um die Gesamt-Bilanz seiner persönlichen Karriere, um einen Rückblick auf vergangene Niederlagen und Erfolge, um sein Wirken in der DDR, um die prägende Kraft seiner antifaschistischen, liberalen Familie und um seine Rolle als "bürgerlicher Ossi" bei der deutschen Einheit. Zum anderen gibt der Band einen Einblick in die Einschätzungen Gysis zur zukünftigen Rolle der Partei die »Linke« im Parteienspektrum und zu aktuellen politischen Themen wie Syrien, Flüchtlinge, Rechtsextremismus, Neoliberalismus, Sozialabbau, Europapolitik und Wirtschaftsmacht.

Im Vorwort des Bandes vermutet Hebel mit Recht, dass die PDS, die Ost-Vorläuferin der Partei "Die Linke", dafür gesorgt haben dürfte, dass rechte und rechtsextreme Kräfte in der ehemaligen DDR nicht noch stärker geworden seien und habe "eine im Kern demokratische Alternative" geboten und sei ein Ventil für Abstiegsängste und -erfahrungen: " Sie fanden in der PDS vieles wieder - Kultur, Sprache, Habitus -, womit sie aufgewachsen waren. Aber sie fanden in der Partei - und besonders in Gregor Gysi - zugleich diejenige Kraft, die zeigte, dass man ihre Interessen auch innerhalb des neuen, noch so fremden Systems artikulieren und vertreten konnte" (S. 14). Hebel stellt Gysi in der Zeit der Wende als Vermittler dar. Die meisten SED-Anhänger, so die Einschätzung, seien bei der Wiedervereinigung nicht links gewesen, sondern eine kleinbürgerliche Mitte, die orientierungslos geworden war; Gysi habe sich um diese gekümmert. Gysi ein sei ein "historischer Glücksfall" (S. 14) und er habe eine Brückenfunktion wahrgenommen; sein biografischer Hintergrund "... diese seltene Mischung aus DDR-»Stallgeruch« und westlich-bürgerlichen Stilelementen, machte ihn zum nahezu idealen Bindeglied zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen Ost und West" (S. 14). Die Integration vieler Ostdeutscher ins parlamentarische System und sein Beitrag zum Entstehen einer Partei links von der SPD "sind nicht zuletzt sein Verdienst" (S. 16). Solange die Mauer stand, wollte Gysi nie die DDR verlassen; es gab für ihn vor allem drei Gründe, warum Gysi nicht in den Westen abgehauen ist: "Der erste Grund war eine gewisse Loyalität gegenüber der DDR. Der zweite Grund war mein Sohn. Ich war alleinerziehend ... Ich war im DDR-Recht perfekt. Und ich wusste, das BRD-Recht müsste ich erst lernen" (S. 66). Loyalität gegenüber dem antifaschistischen und sozialistischen Anspruch des Gründungsmythos der DDR verbunden mit einer "gewissen ironischen Distanz" und der "ständige Hauch eines Sarkasmus" (S. 11) im Hause Gysi, habe es der Familie und ihm selbst auch leichter gemacht, sich mit der DDR zu arrangieren. Gysi wehrt sich vehement gegen die Anwürfe, der Stasi zugearbeitet zu haben - dies habe mittlerweile auch Bundespräsident Gauck nach Jahren der Skepsis verstanden. Insgesamt vermittelt Gysi in den abgedruckten Gesprächen den Eindruck eines reflektierten, selbstbewussten, aber auch selbstkritischen und selbstironischen Politikers, der sich der Verbesserung der sozialen Lage der kleinen Leute verschrieben hat; genau diese Aufgabe habe die SPD spätestens seit Schröders Kanzlerschaft vernachlässigt und werde dafür mit Recht vom Wähler abgestraft. Gysi ist keineswegs der linksradikale Revoluzzer, wie er gerne immer wieder von konservativen und auch sozialdemokratischen Kreisen dargestellt wird, sondern ein pragmatischer Linkspolitiker. Er ist der festen Überzeugung, dass die soziale Frage immer der Kern linken Denkens sein müsse; neu dazu kämen noch die sozial-ökologische Nachhaltigkeit und die Friedensfrage: "Die Linke muss begreifen, dass Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nicht Beiwerk sind, sondern diese Werte müssen ihr Anlegen sein. Und zwar nicht nur, wenn sie ohnmächtig ist, und den Schutz des Rechtsstaats braucht, sondern auch dann, wenn sie mächtig ist" (S. 48). Die Bevölkerung Deutschlands verhalte sich zurzeit eher noch ruhig, aber unter der Oberfläche brodele es: "Weil viele Menschen sich die Welt nicht mehr erklären können. Sie wissen nicht mehr: Wer macht eigentlich die Weltpolitik? Wieso müssen wir für die Banken bezahlen, die verschuldet sind? Was ist überhaupt dieser Islamische Staat, wo kommt so etwas her? ... Früher war alles klarer, wenn auch nicht besonders schön: Kalter Krieg, Einflusssphäre Sowjetunion, Einflusssphäre USA, dann noch die Blockfreien ... Heute sind das alles frei schwebende Kräfte, und das führt zu einer tiefen Verunsicherung vieler Menschen (S. 49/50). Das sei auch der fruchtbare Boden für Nationalismus und Rassismus und das bereite ihm große Sorge auch hinsichtlich der Zukunft der Demokratie, die nicht tief genug im unserem Denken und Fühlen verankert sei.

Kanzlerin Merkel analysiert er differenziert und er schaut genau hin: Merkel werde maßlos über- und unterschätzt; ihre Politik als neoliberal zu bezeichnen, wäre zu ungenau, da sie kein Konzept habe weder bei innen- und sozial- noch bei europapolitischen Fragen. Sie reagiere und laviere; mit ihrer Politik habe sie der SPD dauerhaft zehn Prozent der Wähler abgeluchst und innerparteilich ihre Gegner nacheinander verjagt: "Die Kerle haben gedacht, nach einem Jahr schicken sie Mutti nach Hause ... Da haben sie sie maßlos unterschätzt - sie hat sie nach Hause geschickt, einen nach dem anderen" (S. 144). Merkels Stärke bestehe auch darin, dass sie bescheiden wirke, dass sie materiell überhaupt nicht interessiert und nicht eitel sei. Mit der Aufstellung Steinbrücks habe die SPD 2013 den Fehler gemacht, einen Gegenkandidaten aufzustellen, der in allen drei Punkten das genaue Gegenteil darstellte. Die große Koalition kritisiert er scharf: "Die große Koalition ist, je länger sie hält, demokratiegefährdend, weil Wahlen kaum noch eine Rolle spielen. Die Leute sagen sich: Die werden sowieso zusammen regieren und es langt ja immer für sie" (S. 150). In der Wirtschaftspolitik kritisiert er heftig die Auswüchse des Kapitalismus, sieht aber durchaus auch dessen positive Dynamiken und will auch nicht zum staatssozialistischen System der DDR zurückkehren, sondern den Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft national wie international anstreben: "Weltweit herrscht kein Primat der Politik mehr, weil die großen Banken und die Konzerne viel zu mächtig sind. Weil es keine Struktur für eine funktionierende Weltpolitik gibt ... die großen Banken zu verkleinern und öffentlich-rechtlich wie die Sparkassen zu gestalten. Nicht Staatsbanken! Das nutzt nichts ... Und was für die Banken gilt, gilt auch für die großen Konzerne: Die will ich ebenfalls verkleinern. Damit wir wieder einen Primat der Politik erhalten. Denn Demokratie haben wir in der Politik erhalten, kaum in der Wirtschaft. Und das heißt: Wenn die Wirtschaft regiert, ist das auch undemokratisch" (S. 162/163).

Wenn man sich mit dem Politiker Gysi und dem reformorientierten Projekt des Linkssozialismus ernsthaft auseinandersetzten möchte, ist dieser Band sicher eine wichtige, authentische und inspirierende Quelle; zumal wir es hier mit einem Menschen zu tun haben, der in zwei unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen gelebt hat und durchaus in der Lage ist, beide kritisch aus gelebter Zeitgenossenschaft zu reflektieren. Die politischen und persönlich-emotionalen Achterbahnen, die Gysi erleben musste, zeigen einen leidenschaftlichen Vollblutpolitiker, der mit intellektueller Schärfe und Humor und mit pragmatischem Gespür für das Machbare, mit Stehvermögen und Ausdauer Politik als das Bohren von dicken Brettern im Max Weber'schen Sinne vorlebt. Der Band lässt sich übrigens flüssig und flott lesen, ist humorvoll und ironisch, frei von dem üblichen »Politiksprech« und hinterlässt viele produktive Anregungen zum Nachdenken und Handeln.

Gregor Gysi: Ausstieg links? Eine Bilanz.
Nachgefragt und aufgezeichnet von Stephan Hebel.
2. Auflage
Westend-Verlag, Frankfurt/ Main, 2015
schwarz-weiß Fotos
219 S.
16.99 Euro

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. März 2016

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