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BUCHBESPRECHUNG/131: "Die radikalisierte Gesellschaft" von Ernst-Dieter Lantermann (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Ernst-Dieter Lantermann
Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2017


Wir werden immer radikaler und fanatischer, nicht nur in politisch-gesellschaftlichen Fragen, sondern auch in ganz alltäglichen Situationen - so die Beobachtung des Sozialpsychologen Ernst-Dieter Lantermann; er verweist dabei auf die quantitative wie qualitative Zunahme extremer Dispositionen und Handlungsmuster bei Sozialfiguren in unserer neoliberalisierten Gesellschaft wie z.B. Fremdenhasser, Hass-Poster, Rassisten, Wutbürger, «erschöpfte Wertnostalgiker«, ängstliche Sicherheitsfanatiker, Islamhasser, militante Natur- und Tierschützer, aggressive Abtreibungsgegner, Fitnessfanatiker, Körper- und Selbstoptimierer, Hardcore-Veganer, Impfgegner und Reiche in Gated Communities. Seit Jahrzehnten erforscht Lantermann, wie sich Menschen in unsicheren Situationen verhalten. In seinem neuen Band möchte er ein tieferes Verständnis für die zunehmende Radikalisierung und Fanatisierung in unserer Gesellschaft vermitteln, das Gemeinsame und zugleich Trennende herausarbeiten und über persönliche, soziale und gesellschaftliche Hintergründe und mögliche Konsequenzen dieser Radikalisierung nachdenken.

Ernst-Dieter Lantermann (*1945) ist Psychologe und emeritierter Professor für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Universität Kassel; Gastprofessuren an den Universitäten in Leipzig, Mannheim, Bern und Potsdam; Autor und Herausgeber zahlreicher Artikel und Fachpublikationen zu den Themen Mensch und Umwelt, Denken und Gefühl, Komplexitätsmanagement. Seit 15 Jahren leitet er die Studien zum Thema Bewältigungsstrategien von Unsicherheit und erforscht zusammen mit dem Soziologen Heinz Bude Hintergründe und Folgen gesellschaftlicher Exklusion.

Der vorliegende Band gliedert sich in drei Hauptkapitel und in einen kommentierten Anmerkungsapparat. Im ersten Kapitel (der Drang nach Sicherheit) fasst er den aktuellen Forschungsstand der sozialwissenschaftlichen Disziplinen über die unterschiedlichsten radikalen und fanatischen Haltungen in unserer Gesellschaft zusammen. In den darauffolgenden Kapiteln werden fünf «selbstwertdienliche Radikalisierungsphänomene« exemplarisch aus sozio-psychologischer Sicht beschrieben und analysiert, deren Hintergründe ausgeleuchtet und die persönlichen, sozialen und gesellschaftlichen Folgen gezeigt: Feindseligkeit und Hass gegenüber Fremden/erschöpfte Wertnostalgie/Sicherheitsfanatismus/optimierte Körper und sinnstiftende Mahlzeit. Diese diversen Phänomene der Radikalisierung und Fanatisierung entwickelten sich scheinbar weitgehend parallel, höchst widersprüchlich und unabhängig voneinander. Doch es gebe - so Lantermann - gemeinsame Nenner und Ziele. Will man diese begreifen, müsse an einer "entscheidenden Stelle des Seelischen" ansetzen, an dem grundlegenden Bedürfnis nach Überschaubarkeit, Gewissheit, Kontrollierbarkeit und Sicherheit: "Werden diese Bedürfnisse auf Dauer nicht erfüllt, erleben Menschen die Unsicherheiten ihrer Lebenssituation als gravierende Bedrohung ihrer Selbstachtung und ihres Selbstwertgefühls. Um dieser schmerzlichen Erfahrung nicht länger ausgesetzt zu sein, schaffen sie sich dann ihre eigenen Gewiss- und Sicherheiten" (S.17).

Die Menschen unterschieden sich aber in ihrem Bedürfnis nach Sicherheit und in ihren Handlungsoptionen. Radikalismus und Fanatismus seien daher - so Lantermann - nicht eine zwangsläufige Reaktion auf die Zumutungen und Anforderungen der Gesellschaft, sondern eine von vielen Optionen, die aber immer häufiger gewählt werde. Wie ist es aber dazu gekommen? Die westlichen postmaterialistischen, neoliberalen Gesellschaften hätten mit der Auflösung der traditionellen Formen des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts eine fortschreitende soziale Desintegration bewirkt; gleichzeitig ginge die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander. Dadurch würden weitere ambivalente Unsicherheiten geschaffen werden. Während nicht wenige Menschen dies als eine Chance und als einen produktiven Zugewinn an Wahlfreiheit und sozialer Teilhabe erkannt und ergriffen hätten, befürchteten andererseits viele Menschen eine weitere soziale Spaltung und eine gesellschaftliche Ausschließung. Nach den Forschungen des Autors zusammen mit seinem Kollegen Heinz Bude habe dies fatale Folgen. Wer das Gefühl habe, gesellschaftlich ausgeschlossen zu sein, verliere auf Dauer jede Zukunftszuversicht, jedes Vertrauen in sich selbst und in seine soziale Umwelt: "Er erkennt immer weniger den Sinn und die Bedeutung dessen, was er tut und was und warum um ihn herum geschieht. Er verliert jede Gewissheit über den weiteren Gang der Dinge, sodass er nicht mehr weiß, was er eigentlich in der Welt noch ausrichten kann" (S.32/33).

Eine wesentliche Ursache der Unsicherheitserfahrung sei die prekäre Lebenssituation, die als Gefährdung der Bedürfnisse, Werte und Überzeugungen und als Angriff auf das Selbstwertgefühl erfahren werde. In unsicheren gesellschaftlichen Verhältnissen neigten die Menschen dazu, ihre Selbstsicherheit durch eine «Selbst-Radikalisierung« zu verteidigen und zurückzuerobern: "Abweichende Meinungen werden nicht mehr toleriert, eigene Überzeugungen für absolut gesetzt. Man wird egozentrisch und empfindet keinerlei Empathie für andere, die nicht zu einem gehören, man identifiziert sich völlig mit der eigenen Truppe, Mitglieder aus anderen Gruppen werden bekämpft. Verhandlungen oder Kompromisse werden strikt abgelehnt, das Heil in der starken Führungspersönlichkeit gesucht. Pluralismus und Multikulturalität werden als Bedrohungen empfunden und daher verächtlich gemacht" (S.55/56). So erkenne der Fremdenhasser, Rassist oder Nationalist dank seiner neu gewonnenen Weltanschauung und klaren Haltung, wer Freund und wer Feind sei; der Fitness- und Wellnessfanatiker ebenso wie der militante Veganer finde sein Heil in der Selbstoptimierung seines Körpers; allen gemeinsam sei die Gewissheit, den anderen Menschen moralisch überlegen zu sein.

Doch was kann man tun gegen die weitere Ausbreitung dieser Tendenzen zur Radikalisierung und Fanatisierung? Die Motivationspsychologie habe folgende Zusammenhänge empirisch belegt: "Ein Zuviel an Unsicherheit beantworten Menschen mit dem verstärkten Wunsch nach Sicherheit, und dies sehenden Auges auf Kosten ihrer Bedürfnisse nach Unabhängigkeit und Autonomie. Und umgekehrt ... Unsere Bedürfnisse, Gefühle und Handlungen entfalten sich in diesem Spannungsverhältnis von Sicherheit und Wagnis" (S.43). Solange es gelänge, das Verhältnis von Sicherheit und Risiko in einer dynamischen Balance zu halten, seien die Menschen in der Regel widerständig gegen das Ungewisse und Unsichere. Das gibt Hoffnung für gesellschaftliches Umsteuern.

Lantermann zeigt in seinem knappen Resümee auf, wie wir alle miteinander umgehen sollten: tolerant, humorvoll und mit großem Vertrauen in unsere aktive Zivilgesellschaft, die größer und stärker sei als alle radikalisierten Gruppen; er verweist auf die vorbildlichen Maßnahmen und Initiativen der zivilisierten Stadtgesellschaft in Kassel. Vor allem müsse man aber einen beharrlichen Dialog auch mit den Radikalisierten und mit den Fanatikern führen und auf ein tolerantes, aber entschiedenes Verhalten mit Humor bauen: "In der Konfrontation mit Fanatikern hilft es wenig, die eigene moralische Überlegenheit auszuspielen, die unüberbrückbaren Differenzen zu beschwören und jeden Dialog zu verweigern" (S.187/188).

Lantermanns Band gibt einen tiefgreifenden und erhellenden Einblick in die Hintergründe und Ursachen für die zunehmende Radikalisierung und Fanatisierung in unserer Gesellschaft; er ist wegen des klaren und verständlichen Schreibstils und der beispielhaften Argumentation flüssig zu lesen und bietet reichlich Stoff zur weitergehenden Reflexion eines gesellschaftlich brisanten Themas.

Ernst-Dieter Lantermann
Die radikalisierte Gesellschaft.
Von der Logik des Fanatismus.
Karl Blessing Verlag, München 2016
gebunden
224 Seiten
19.99 EURO

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Quelle:
© 2017 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2017

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