Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/132: "Abenteuer Freiheit - ein Wegweiser für unsichere Zeiten" von Carlo Strenger (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Carlo Strenger
Abenteuer Freiheit - ein Wegweiser für unsichere Zeiten

von Klaus Ludwig Helf, März 2017


Bereits in seinem Band «Zivilisierte Verachtung« (2015) hat der israelische liberale Intellektuelle Carlo Strenger den Mangel an einer selbstwussten und wehrhaften Verteidigung «westlicher Werte« kritisiert. Ebenso kritisiert er darin die Haltung einer politischen Korrektheit gegenüber einer rassistischen, populistischen, nationalistischen, fundamentalistischen und anti-aufklärerischen politischen Propaganda und Rhetorik. Dagegen fordert Sprenger in seinem kontrovers diskutierten Essay eine «zivilisierte Verachtung« und klare, kritische Grenzziehung statt aufklärerischer, respektierender Toleranz. In seinem neuesten Essay vertieft und erweitert er diesen Ansatz um die Dimension der Freiheit.

Carlo Strenger (*1958) ist Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität in Tel Aviv, praktizierender Existenzialpsychoanalytiker und Publizist; er ist im akademischen Beirat der Sigmund-Freud-Stiftung in Wien, Senior Research Fellow am Institut für Terrorforschung an der City University of New York und Mitglied im Daseinsanalytischen Seminar in Zürich. Strenger praktiziert eine interdisziplinäre Integration von flexibler psychoanalytischer Praxis mit Ergebnissen aus Soziologie, Ökonomie und den Neurowissenschaften und gilt als einer der kreativsten zeitgenössischen psychoanalytischen Theoretiker. Als politischer Publizist kritisiert er Israels Siedlungspolitik als auch die einseitige Verurteilung Israels.

Im ersten Teil seines Essays streitet Sprenger gegen den von Rousseau verbreiteten Mythos, nach dem jeder Mensch frei geboren sei und in jedem ein wahres Selbst schlummere, das nur durch gesellschaftliche Instanzen wie Eltern, Erzieher oder falsche Normen verschüttet werde; dieser Mythos - so Sprenger - führe dazu, dass sich immer weniger Menschen der westlichen Welt mit dem langen und schwierigen Prozess der Erringung dieser Freiheiten auseinandersetzten.

Im zweiten Teil entfaltet Sprenger Traditionen der westlichen Kulturgeschichte, die davon ausgingen, dass die menschliche Existenz grundsätzlich tragisch und von unlösbaren Konflikten geprägt sei und dass persönliche und politische Freiheiten ständig erkämpft werden müssten. In der Tradition der klassischen Freiheitskonzeptionen, der Psychoanalyse von Freud und der Philosophie der Existentialisten geht Sprenger - ganz im Gegensatz zu Rousseau - davon aus, dass Freiheit und Glück nicht angeboren, dass das menschliche Dasein grundsätzlich von unlösbaren Konflikten geprägt und die menschliche Existenz "grundsätzlich tragisch" sei: "Wir sind das unmögliche Tier, ein leibliches, verletzliches Wesen, das altert und irgendwann stirbt. Im Gegensatz zu allen anderen Tieren sind wir zum Bewusstsein unserer Freiheit und Endlichkeit verdammt, können mit diesem Bewusstsein aber nicht wirklich leben ... Dementsprechend ist Freiheit auch in liberalen Gesellschaften kein selbstverständliches Geschenk, sondern sie setzt permanente geistige und existentielle Arbeit voraus" (S.11/12). Statt sich über die erkämpften Freiheiten und zivilisatorischen Errungenschaften zu freuen und diese zu genießen, beklagten wir die Anstrengungen, diese zu pflegen und verleugneten die fundamentale Tragik der menschlichen Existenz - dies schwäche die westliche Kultur - so die Hautthese Sprengers: "Der Mythos, wir seien frei geboren, führt dazu, dass immer mehr Bewohner der westlichen Welt nicht begreifen, dass wir uns mit dem langen Prozess, der die freiheitlichen Ordnung möglich gemacht hat, auseinandersetzen müssen, wenn wir die Freiheit wirklich schätzen und bewahren wollen" (S.13).

Der Mainstream der postmodernen westlichen Kultur habe den "Geschmack am Tragischen" verloren und leugne meist dessen Existenz: "Ein schwieriges oder misslungeneres Leben sei die Folge einer nicht erbrachten Dienstleistung, die uns die Welt schuldig ist. Die Kinder werden in dem Glauben erzogen, die Eltern seien dafür verantwortlich, dass sie zu kreativen Menschen heranwachsen ... Die Gesellschaft schulde ihnen nicht nur eine gute Schulausbildung und gesundheitliche Fürsorge auf dem neuesten Stand der medizinischen Forschung, sondern auch Anerkennung, materielles Wohlergehen und Respekt für ihre individuelle und kollektive Identität" (S.60).

Der gemeinsame Nenner so unterschiedlicher Kulturkritiker wie Houellebecq, Barber, Fingerkraut oder Gray bestehe darin, dass die Menschen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften zutiefst davon überzeugt seien, dass das gute Leben zu den gesellschaftlichen, politischen oder persönlichen Grundrechten gehöre. Im Gegensatz zu Rousseau, der menschliches Glück und Freiheit als Geburtsrecht begreift, das dem Menschen einfach zustehe, geht Sprenger auf die klassische Philosophie zurück, nach der Freiheit immer das prekäre Resultat permanenter Arbeit am Selbst sei. In der Moderne mangele es "keineswegs an ästhetischen, philosophischen und psychologischen Ansätzen, welche die Tragik des menschlichen Daseins ohne religiöse Vorzeichen packend und tiefgehend beschrieben und analysiert haben" (S.61). Das Abenteuer Freiheit bestehe darin, dass jeder von uns die Möglichkeit und das Recht, aber auch die Pflicht habe, sein Leben bewusst zu gestalten; jeder müsse für seine Werte und Entscheidungen Verantwortung übernehmen. Viele Menschen in den westlichen Wohlstandsgesellschaften - so scheint es - könnten mit ihrer Freiheit nichts Sinnvolles anfangen und betäubten sich mit permanenter Ablenkung, mit Konsumismus, Populismus, billiger Unterhaltung und entfremdetem Sex - wie es der Schriftsteller Houellebecq in seinen Romanen vor allem aber in «Unterwerfung« in hyperbolischer und zugespitzter Weise illustriere.

Wir dürften aber - so Sprenger - nicht in diesem Requiem auf die Traditionen der Aufklärung verharren, da die passive Konsummentalität kein unabänderliches Schicksal sei. Die Chance zu deren Überwindung liege - darin ist Sprenger fest überzeugt - in einer «liberal education«, einem Projekt der Freiheit: "Wir dürfen das Ideal der freiheitlichen Erziehung nicht den Marktkräften opfern, die Schule und Ausbildung fast ausschließlich danach beurteilen, ob sie den Karrierechancen nützen und wie viel sie zur Wirtschaftsleistung beitragen. Freiheitliche Erziehung ist kein Luxus, sondern die Bedingung dafür, dass unsre Freiheit die zahlreichen Stresstests der Gegenwart bestehen kann" (S.28).

Carlo Sprenger hat mit seinem neuesten Essay ein pointiertes und leidenschaftliches Plädoyer für den Kampf um die Freiheit und um die Grundwerte der aufgeklärten liberalen Gesellschaften geschrieben. Leider vermissen wir bei diesem reflektierten liberalen Denker die Einbeziehung der sozialen Werte und Errungenschaften in den Abwehrkampf um die Freiheit, da diese neben den bürgerlichen Freiheitsrechten auch zum Kanon der mühsam und langwierig erkämpften Grundwerte gehören.

Carlo Strenger
Abenteuer Freiheit - ein Wegweiser für unsichere Zeiten.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
122 Seiten
14 Euro

*

Quelle:
© 2017 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2017

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang