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BUCHBESPRECHUNG/171: Jürgen Kuczynski - Asche für Phönix oder Vom Zickzack der Geschichte (Gerhard Feldbauer)


40 Jahre waren zu wenig

Eine Hilfestellung bei der Einordnung der DDR in den Geschichtsprozess

von Gerhard Feldbauer, 15. Juli 2019


Zwei der Spätwerke des als letzter Universalgelehrter bekannten Jürgen Kuczynski hat der Payrossa-Verlag verdientsvoller Weise in einem Band zusammengefasst vorgelegt. Sie geben einen Überblick über 2000 Jahre Geschichte seit der Antike, besonders auf Aspekte von Ökonomie und Technik, Kunst, Philosophie und Literatur und ihres Einwirkens auf die historischen Prozesse. Herausgearbeitet wird, und das ist im Kern eine höchst aktuelle Frage, dass sich keine der auf die Sklavenhalterordnung folgenden Gesellschaftsformationen im ersten Anlauf durchsetzen konnte. Es geht um den Zickzack der Geschichte und um das, was man den Zeitfaktor nennen könnte. JK regt an, darüber nachzudenken.

Nehmen wir also einige seiner Gesichtspunkte zum Anlass einer Analyse. So darüber, dass von den rund 1500 Jahren der Existenz des Römischen Reiches, "der größten Sklavenhalterwirtschaft der Weltgeschichte", fast die Hälfte auf ihre nicht von Anfang an sichtbar werdende Untergangsphase fiel. Das Westreich wurde von Goten, Vandalen, Burgundern und Alemannen, zuletzt von den Franken überrannt. Über sich Jahrhunderte hinziehend entsteht in Europa das bedeutendste Reich des frühen Mittelalters, das germanische und romanische Völker umfasst und zur Grundlage der politischen und kulturellen Entwicklung des Abendlandes, insbesondere Deutschlands und Frankreichs wird.


Abbildung: Massimo d'Azeglio [Public domain] via Wikipedia Commons

Die Schlacht bei Legnano 1176 - dargestellt in einem Gemälde von Massimo d'Azeglio von 1831
Abbildung: Massimo d'Azeglio [Public domain] via Wikipedia Commons

Wenn JK vom "Frühkapitalismus" spricht, dann steht dafür als ein Synonym die Schlacht bei Legnano nahe Mailand am 29. Mai 1176, in der das Ritterheer Kaiser Barbarossas vom Fußvolk des Lombardischen Städtebundes besiegt wird. Auf dem Höhepunkt ihrer Macht erleidet die Feudalordnung eine Niederlage, zugefügt vom städtischen Bürgertum, dem Träger der kommenden neuen Gesellschaftsformation, die im Schoße der alten heranreift. Fortan wirkt es als "die Klasse, in der die Fortentwicklung der Produktion und des Verkehrs, der Bildung, der sozialen und politischen Institutionen sich verkörpert fand" (Engels), entscheidend auf die sozialökonomische Entwicklung ein. Die weitgehend unabhängigen Städte wurden als "Glanzpunkt des Mittelalters" (Marx) innerhalb der Feudalgesellschaft zum vorwärtsweisenden Element des Geschichtsprozesses. Die Kaufleute werden "die ersten Träger weltlicher Kultur in der Zeit des Feudalismus" (JK). Die von ihnen hervorgebrachten Ware-Geld-Beziehungen drängen die bis dahin vorherrschende Naturalwirtschaft zurück.


Abbildung: Master of the Codex Manesse (Foundation Painter) [Public domain] via Wikipedia Commons

Walther von der Vogelweide - Darstellung in der Großen Heidelberger Liederhandschrift, entstanden um 1300
Abbildung: Master of the Codex Manesse (Foundation Painter) [Public domain] via Wikipedia Commons

Literatur und Wissenschaft erleben eine Blütezeit. Erste Universitäten (JK spricht am Beispiel der Gründung in Heidelberg 1386 von "Eigenschöpfungen (...) des Feudalismus") entstehen, "die Dichtkunst gedieh". Die großen Epiker Walther von der Vogelweide (die politischen Lieder), Wolfram von Eschenbach (Parzival), Hartmann von Aue (Der arme Heinrich) und Gottfried von Strassburg (Tristan und Isolde) ergreifen bewußt Partei in den Auseinandersetzungen jener Zeit, indem sie gegen die feudal-kirchlich-religiöse Auffassung des Daseins Werke schufen, die nicht nur ihre Zeitgenossen beeinflussten, sondern alle nachfolgende deutschsprachige Literatur und so frühe Grundlagen für den langwierigen Weg der Nationbildung legten.

Das bewirkte, hebt JK hervor, der Kapitalismus, der im Schoß des Feudalismus, "die Renaissance in Bewegung brachte". "Die Zeit seit der Mitte des 14. bis wohl zur Mitte des 15. Jahrhunderts, in der man in Norditalien von kapitalistischen Verhältnissen sprechen kann, ist eine der erstaunlichsten in der Geschichte der Menschheit", schreibt er weiter. An diesen Tatsachen ändert auch nichts, dass es der herrschenden Feudalklasse noch mehrere Jahrhunderte gelang, darunter am längsten in Deutschland, wichtige Positionen in Wirtschaft und Staat zu behaupten und mit neuen Machtmitteln sogar zu festigen, wenn auch auf Kosten der ausgebeuteten und unterdrückten Volksmassen. Vor allem mißlang in Deutschland wie auch in Italien der Aufbau eines zentralen Königsstaates und damit die Überwindung der politischen Zersplitterung. Das erzeugte, so JK, in Deutschland auf allen Ebenen der Gesellschaft "Verfall, Fäulnis, Verwesung. Die Produktivkräfte verkamen, die Produktionsverhältnisse waren verknöchert und bröckelten, der Überbau ächzte".

Kein Wunder, dass "die Produktivkräfte, die so geschunden wurden wie die Bauern Deutschlands, nur noch unwillig und so wenig wie möglich leisteten". So spitzen sich alle Widersprüche zu einer gesamtgesellschaftlichen Krise zu, die im deutschen Bauernkrieg erstmals offen ausbrach. Diese frühbürgerliche Revolution löste die Konflikte nicht, trieb aber den historischen Prozess voran. Über das Scheitern an diesen Aufgaben im Dreißigjährigen Krieg und in den bürgerlichen Revolutionen von 1848/49 bis zur "Lösung" durch Bismarcks "Revolution von oben" geht es weiter.


Foto: Roland.h.bueb [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)] via Wikipedia Commons

Dem Bauernaufstand im Gedenken - Fassade der Kramerzunft am Weinmarkt in Memmingen mit der Inschrift "In diesem Haus versammelten sich im März 1525 die aufständischen Bauern um ihre Forderungen in den berühmten ZWÖLF ARTIKEL festzulegen"
Foto: Roland.h.bueb [CC BY 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/3.0)] via Wikipedia Commons

Diesen Prozess zu analysieren, vermittelt aufschlussreiche Erkenntnisse über seine geschichtlichen Dimensionen, eben den Zickzack der Geschichte und die Zeit, die er in Anspruch nimmt. Denn angefangen von seinen frühen Erscheinungsformen in Gestalt des sozialökonomischen Wachstums der Städte, der Wissenschaft, der Technik, brauchte der Kapitalismus, bis er sich in Europa als neue Gesellschaftsordnung gegenüber dem Feudalismus durchsetzte, etwa vier bis sechs Jahrhunderte. Der Weg der bürgerlichen Klasse zur politischen Macht war von Niederlagen und Rückschlägen, Fehlentwicklungen, Kapitulationen und Kompromissen gezeichnet. Dass er für die aufsteigende Bourgeoisie weniger mit Problemen gepflastert war als für ihren bereits im 19. Jahrhundert die historische Bühne betretenden Totengräber (Marx/Engels), die Arbeiterklasse in der sozialistischen Revolution, ergibt sich vor allem aus der grundlegenden Tatsache, dass es beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus um die Ablösung einer alten Ausbeuterordnung durch eine neue ging.

Im Lichte dessen, was JK über den Zickzack der Geschichte darlegt, hätten sozialistischen Revolutionären historische Analysen eigentlich offenbaren müssen, dass der Aufbau ihrer neuen Gesellschaft nicht in Jahrzehnten bewältigt und voreilig die voluntaristische These von der Unumkehrbarkeit des Erreichten zu Lebzeiten des Imperialismus verkündet werden konnte. Ein zumindest Jahrhundertwerk war bzw. ist weiter zu bewältigen. Diesen Zeitraum jedenfalls setzen heute die chinesischen Kommunisten voraus.


Abbildung: Scanvorlage: Wolfgang Drösser: Brühl. Geschichte-Bilder-Fakten-Zusammenhänge. Brühl 2005. [Public domain] via Wikipedia Commons

Eisenbahnbau als Ausdruck der industriellen Revolution - hier die Bonn-Cölner Eisenbahn in einem 1841 vor ihrer Eröffnung entstandenen Gemälde von Nikolaus Christian Hohe
Abbildung: Scanvorlage: Wolfgang Drösser: Brühl. Geschichte-Bilder-Fakten-Zusammenhänge. Brühl 2005. [Public domain] via Wikipedia Commons

Zur Gegenwart hielt der 1997 verstorbene JK fest, dass sich der Kapitalismus mit der "zweiten industriellen Revolution" auf dem "Weg in die Barbarei" befindet, zu der er "eine genaue Analyse der historischen Entwicklung" für erforderlich hielt, wenn man "im Sinne einer vorausschauenden politischen Praxis auf die Möglichkeiten gefährlicher Konsequenzen dieser Entwicklung Bedacht nehmen will".

Eine Einordnung des ersten sozialistischen Anlaufs in den Jahrhunderte währenden Kampf der Ausgebeuteten und Unterdrückten offenbart aber auch, dass für das vergangenen Jahrhundert nicht die Niederlage des Sozialismus charakteristisch war bzw. ist, sondern die des Kapitals, die ihm von seinem Totengräber zugefügt wurde.


Foto: Bundesarchiv, Bild 183-19400-0029 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Als "Schöpfern" des Marxismus-Leninismus wurde Marx, Engels, Lenin und Stalin bei einer Demonstration zum 1. Mai 1953 in Ost-Berlin gedacht
Foto: Bundesarchiv, Bild 183-19400-0029 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)]

Breiten Raum widmet JK schließlich den inneren Bedingungen, an denen aus seiner Sicht der Sozialismus in der DDR gescheitert ist und den Gründen, "warum wir der Idee des Sozialismus treu bleiben". Nicht nur, "weil wir Marxisten sind (...), sondern weil wir angesichts der Kenntnis der heutigen gesellschaftlichen Entwicklung wissen, dass nur eine sozialistische Lösung der sozialen Frage in unserer Epoche existiert". Und diese Gesellschaftsformation werde, "wenn auch wohl unter einem anderen Namen - wegen der damit verbundenen historischen Imponderabilia (Unwägbarkeiten) den Sieg davontragen. Weder der Name noch die gemischte ökonomische Form dieser Neuerscheinung wird ausschlaggebend sein; das wesentliche Moment liegt darin, dass der Sozialismus in dieser oder jener Form als Folge der heutigen technologischen und industriellen Revolution unausweichlich sein wird".

Und wenn JK über seinen Zickzack der Geschichte "Asche für Phönix" setzt, besagt das, er setzt darauf, dass der Sozialismus aus der Asche verjüngt emporsteigt, was - das dürfte sicher sein - keine fünf Jahrhunderte mehr dauern dürfte.

Jürgen Kuczynski
Asche für Phönix oder: Vom Zickzack der Geschichte
Aufstieg, Untergang und Wiederkehr neuer Gesellschaftsordnungen
Papyrossa, Köln 2019
ISBN 978-3-89438-695-5
214 Seiten
14,90 Euro

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2019

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