Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/173: Markus Metz, Georg Seeßlen, Kapitalistischer (Sur)realismus (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Markus Metz, Georg Seeßlen

Kapitalistischer (Sur)realismus. Neoliberalismus als Ästhetik

Klaus Ludwig Helf, August 2019


Das Autoren-Duo Markus Metz und Georg Seeßlen legen in ihrem Band eine brillante kultur- und sozialpsychologische Analyse der Weiterentwicklung des Neoliberalismus zum 'kapitalistischen Surrealismus' vor. Alles - auch die privatesten Lebensbereiche -, so ihre These, werde der Logik der kapitalistischen Warenform unterworfen, die Ökonomie werde ästhetisiert und die Ästhetik ökonomisiert. Nach dem Prolog (Kurze Geschichte des Neoliberalismus) folgen drei Hauptkapitel: Vom kapitalistischen Realismus zum kapitalistischen Surrealismus/Markiertes Leben/Mit dem Ferrari zum Ein-Euro-Laden. Jedes Kapitel hat einen Anmerkungsapparat im Anhang. Am Schluss des Bandes sind Kurz-Biografien der Autoren und ein Fotonachweis.

Metz und Seeßlen knüpfen an Mark Fishers These vom 'kapitalistischen Realismus' an: Kapitalismus sei neben dem ausbeuterischen auch ein kulturelles System, das die Grenzen unserer individuellen wie auch kollektiven Vorstellungskraft reguliere. Das führe zu der weit verbreiteten Vorstellung, dass der Kapitalismus nicht nur das einzig gültige politische und ökonomische System darstelle, sondern dass es fast unmöglich sei, sich eine kohärente Alternative überhaupt vorzustellen.

Der Neoliberalismus als 'Heilslehre' des Kapitalismus habe - so Metz und Seeßlen - mit seiner großen Erzählung von Erfolg, Glück, Wohlstand, Fortschritt und Frieden fast alle seine Versprechungen gebrochen und die meisten von ihnen in ihr Gegenteil verkehrt. Aus der Utopie eines freien Marktes habe sich ein apokalyptisches Desaster entwickelt:

"Aber dieser Neoliberalismus, der keine Zukunft mehr verspricht, sondern totale Gegenwart erzeugt, ist ... so sehr RELIGION ..., so sehr POP mit der großen Gabe zum Selbstwiderspruch..., so sehr mit Mythos, Lust und Ästhetik aufgeladen, dass er sich 'ernsthafter' Kritik widersetzt. Eben dies ist der Augenblick, da der kapitalistische Realismus durch den kapitalistischen Surrealismus ersetzt wird." (S. 55) 

Der kapitalistische Surrealismus funktioniere wie René Magrittes Darstellung einer Pfeife mit dem Titel "Ceci n'est pas une pipe": Das ist kein Kapitalismus (mehr) - postuliert die neoliberale Ideologie. Diese verursache nicht nur ökonomische Krisen, Kriege und Finanzmarkt-Crashs, sondern verändere auch systematisch und essenziell die kulturellen, politischen und sozialen Parameter, ebenso die Persönlichkeit der Menschen. Inzwischen habe - so Metz und Seeßlen - der 'kapitalistische Realist' ausgedient, der das System vernünftig und seine Kritiker als romantisch empfinde. Der 'kapitalistische Surrealist' habe ihn abgelöst, der obsessiv und lustvoll an der Zerstörung aller Ordnungen und Beziehungen arbeite. Wie der Surrealist in der Kunst wolle er im Patchwork der Postmoderne Dinge zueinander bringen, die nicht zueinander passen. So ist z.B. ein idealer Protagonist der 'Hipster', der radikal Form über Inhalte stelle, modebewusst und narzisstisch ein ausgesprochener Individualist sei, der nur für sich und exzessiv lebe, nicht an öffentlichen Diskursen teilnehme und sich selbst zum Kunstwerk erhebe - ästhetischer Eklektizismus kombiniert mit politisch-weltanschaulicher Indifferenz.

Das Marktgeschehen beim Übergang vom 'kapitalistischen Realismus' zum 'kapitalistischen Surrealismus', bestehe jetzt darin, ein irrationales System mit den Eigenmitteln auszutricksen und in drei Punkten drastisch zu verändern: Die Verlagerung des Interesses von der Qualität zum Preis, vom Produkt zur Marke und von der Anschaffung zur Erbeutung - 'Ästhetik' werde zu einer Schlüsselindustrie. Ein anderer, in allen Schichten der Bevölkerung weit verbreiteter Idealtypus sei der 'Smartshopper', der bei der Jagd nach Schnäppchenangeboten viele Stunden und Energien seines Alltags verbrauche und auf jede Gelegenheit lauere, ein 'hochwertiges' Markenprodukt zum Schnäppchenpreis zu ergattern - aber kaum noch Muße habe zum wirklichen Genießen der erbeuteten Produkte. Die Verbindung von Smartshoppen und Markenbewusstsein/Markenfetischismus sei für die Dynamik des Konsumgütermarktes entscheidend - einerseits eine parasitäre Strategie, andrerseits entwerte sich aber die Marke selbst. Das führe zu einem raschen Wandel der Marken, wie man vor allem in der Modebranche deutlich erkennen könne. Der Neoliberalismus transferiere die Ökonomie bis in die intimsten alltäglichen Verrichtungen und Beziehungen, wie z.B. das Beherbergen (Airbnb), den Transport (Uber) oder das Flirten (Parship):

"Man hantiert nicht mehr mit Kaffeemaschinen und Sonnenschirmen, sondern immer gleich immer zugleich mit Dingen, die Wert darstellen und transportieren. Die Waren haben kein Endpunkt mehr, sie sind flüchtiger Teil der Biografien und vorgefertigter Baustein." (S. 278) 

Metz und Seeßlen nennen das 'Luxese' - eine Kombination aus Luxus und Askese -, Distinktion durch hemmungslosen Konsum, nicht durch gereifte Persönlichkeit. Das sei das das aktuelle Lifestyle-Motto der neuen surrealen Persönlichkeit, die ein Segment ihrer Biographie in luxuriösen Kontexten gestalte, etwa in Urlauben auf Kreuzfahrten u. ä., und ein anderes Segment, möglicherweise aus finanziellen Gründen, hochgradig diszipliniert oder asketisch, Proll-Ästhetik aus dem Ein-Euro-Markt und Porsche in der Garage. Das Marketing halte dazu ein reichhaltiges Angebot moralisierender Werbung vom Cue-Marketing über das Greenwashing bis zum Tier- und Klimaschutz parat. Im postmodern inszenierten und kuratierten Leben werde alles mit allem beliebig kompatibel angelegt, Identitäten durch Waren und Dienstleistungen erschaffen, Persönlichkeiten trendgerecht gestylt. Sharing Economy, Recyclingmode, Retrolook, kulinarische Hypes oder Veganismus, Vegetarismus und ähnliches sind aktuelle Ausformungen und Erscheinungen des neoliberalen, globalen und digitalen Finanz- und Konsum-Kapitalismus, politisch-gesellschaftlich eingebettet in eine illiberale, marktkonforme Post-Demokratie. Trump & Co lassen grüßen.

Metz und Seeßlen nehmen uns mit auf einen Höllentrip durch die überbordende, zynische Welt des Konsums und es ist ihnen wieder einmal gelungen, analytisch scharfsinnig und enzyklopädisch die surreale Alltagswelt des neoliberalen, realen Kapitalismus zu durchdringen und beispielhaft zu illustrieren.

Markus Metz, Georg Seeßlen
Kapitalistischer (Sur)realismus.
Neoliberalismus als Ästhetik.
Bertz + Fischer Berlin 2018
Broschur
300 Seiten
18 Euro

*

Quelle:
© 2019 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang