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BUCHBESPRECHUNG/180: Carlo Rovelli, Die Geburt der Wissenschaft. Anaximander und sein Erbe (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Carlo Rovelli

Die Geburt der Wissenschaft. Anaximander und sein Erbe

Von Klaus Ludwig Helf, Januar 2020


Carlo Rovelli versucht im vorliegenden Band das Erbe des Forschers Anaximander von Milet, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte, aus der Sicht eines zeitgenössischen Naturwissenschaftlers darzustellen, zu analysieren und dabei gleichzeitig über das Wesen des naturwissenschaftlichen Arbeitens und Denkens zu reflektieren. Er zeichnet dabei das Bild eines "Giganten des menschlichen Denkens", dessen Ideen einen bedeutenden Wendepunkt in der Forschung markierten. Anaximander habe - soweit man heute weiß - als einer der ersten Astronomen, Biologen und Geografen gewirkt, der die Bewegung der Gestirne beobachtete, rational analysierte und versuchte, sie in einem geometrischen Modell zu erfassen, in dem die Erde frei im Raum treibt, wo es kein "unten" und kein "oben" gibt - der Entwurf einer Kosmologie. Er habe es auch für möglich gehalten, dass sich Lebewesen im Lauf der Zeit evolutionär verändern und dass Naturgesetze die zeitliche Entwicklung von Phänomenen steuern. Für Rovelli gibt es zwei weitere zentrale, revolutionäre Positionen für wissenschaftliches Denken. Anaximander habe die kritische und selbstreflexive Methode eingeführt. Er folgte dem Weg seines Lehrers Thales, erkannte jedoch, dass dieser sich in einigen Punkten geirrt hatte: Was offensichtlich ist, kann falsch sein, wissenschaftliches Denken ist eine permanente Suche nach neuen Pfaden, die Welt zu erklären; unser Bild der Welt kann falsch sein und wir sollten es dann korrigieren. Lehrer Thales und sein Schüler Anaximander hätten - so Rovelli - beide gemeinsam gegen das jahrtausendlange Vorherrschen des mystisch-religiösen Erklärens der Welt rebelliert und die Möglichkeit gezeigt, dass die Welt auch ohne Götter rational erklärbar sei.

Carlo Rovelli ist seit 2000 Professor für Theoretische Physik an der Universität Marseille; zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation (Loop-Theorie), die aktuell als genialer Weg zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantenmechanik gilt. Sein letztes Buch "Die Wirklichkeit, die nicht so ist, wie sie scheint" erschien 2017.

Nach der Einleitung folgen im Band elf Kapitel, das Fazit (Anaximanders Erbe), Danksagung, Literaturverzeichnis, Personen- und Sach-Register und ein Abbildungsnachweis für zwanzig Abbildungen (Karten, Pläne, Fotos). Rovelli schreibt nicht nur eine Biografie des Forschers Anaximander, sondern involviert gleichzeitig eine Genealogie der wichtigsten Etappen und Gedankengänge der Wissenschaft selbst, vor allem der modernen Naturwissenschaft, deren Urvater Anaximander sei.

Mit seinem Buch setzt Rovelli ein Denkmal für Anaximander, der vor 2600 Jahren lebte, Schüler von Thales und Lehrer von Pythagoras war und methodische und programmatische Gedanken und Beiträge entwarf, die bis heute noch in der Wissenschaft prägend sind. Anaximander schrieb den ersten Prosatext über Naturphänomene ("Über die Natur"), der nur noch fragmentarisch erhalten ist. Die Rekonstruktion von Anaximanders Gedanken sei daher - so Rovelli - ein "komplexes Puzzle-Spiel" gewesen aus zahlreichen unterschiedlichen Quellen u.a. bei Aristoteles und dessen Schüler Theophrastos. Die wichtigsten Vorstellungen, Erkenntnisse und Ideen Anaximanders: Meteorologische Phänomene wie Regen, Donner und Blitz haben natürliche Ursachen und werden nicht von übernatürlichen Kräften wie Göttern erzeugt. Die Erde ist ein Körper von endlicher Ausdehnung, der nicht fest steht, sondern im Weltraum schwebt. Sie fällt nicht, weil es keine ausgezeichnete Richtung gibt, in die sie fallen könnte. Sonne Mond und Sterne drehen sich auf geschlossenen Kreisbahnen um die Erde und werden von riesigen Rädern bewegt. Die Vielfalt der Dinge, die Natur ausmachen, lässt sich auf ein unverwechselbares, unbegrenztes Prinzip ("Apeiron") zurückführen, das sich bei der Entstehung der Welt in kalt und warm aufspaltete. Alle Tiere lebten ursprünglich im Meer oder im Wasser, das die Erde bedeckte, daher waren die ersten Tiere Fische oder fischähnliche Lebewesen. Die Menschen entwickelten sich aus anderen Tieren, da sich Säuglinge nicht aus eigener Kraft ernähren können. Anaximander zeichnete die erste bekannte geografische Erdkarte, die die Grundlage für alle späteren Karten der Antike war. Er erfand den "Gnomon" (Schattenzeiger), mit dem eine komplexe Astronomie der Sonnenbewegungen erstellt werden konnte. Auch wenn sich Anaximander in einigen Begründungen und Annahmen getäuscht habe, so sei doch seine Suche nach der natürlichen Erklärung für atmosphärische Phänomene, sein kosmologischer und biologischer Naturalismus von großer Bedeutung für die Geschichte der Naturwissenschaften: "In seiner Weltgeschichte gibt es kaum noch einen Hinweis auf Übernatürliches. Die Dinge der Welt werden durch Dinge der Welt erklärt: Feuer, Hitze, Kälte, Luft, Erde. Erklärt werden Dinge der Welt: die Sonne, der Mond, die Sterne, das Meer und die Erde - und nicht die Autorität des göttlichen Zeus" (S. 64). Anaximanders Vorschlag, die Existenz und Komplexität der Welt ohne Einbeziehung der Götter oder eines Gottes zu verstehen, war im 6. Jahrhundert vor Christus eine radikale Idee mit enormen Konsequenzen für das philosophische und naturwissenschaftliche Denken und ist es bis heute geblieben: "Viele, wenn nicht gar die meisten unserer Zeitgenossen, kämpfen mit aller Macht gegen diese zentrale These Anaximanders" (S.186). Rovelli hat ein unterhaltsames, spannendes und anregendes Buch über die antike Wissenschaftsgeschichte geschrieben und die nach wie vor aktuellen und klugen Einsichten von Anaximander herausgearbeitet und sie reflektierend in ein zeitgemäßes, modernes Ethos der Wissenschaft eingearbeitet: ständige Bereitschaft zur Hinterfragung und Selbstkorrektur durch genaue Beobachtung und durch rationales Denken ohne mystischen Schleier.


Carlo Rovelli
Die Geburt der Wissenschaft.
Anaximander und sein Erbe
Aus dem Französischen von Monika Niehaus
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
232 Seiten
22 Euro

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Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2020

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