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BUCHBESPRECHUNG/214: Mimmo Lucano - Das Dorf des Willkommens. Der Bürgermeister von Riace erzählt aus seinem Leben (Gerhard Feldbauer)


"Das Dorf des Willkommens"

Der Bürgermeister von Riace Mimmo Lucano erzählt aus seinem Leben und seinem Kampf

von Gerhard Feldbauer, 4. März 2022


Am 30. September 2021 verurteilte ein Gericht in Locri in der süditalienischen Region Kalabrien den früheren Bürgermeister der kleinen, kaum mehr als 1800 Einwohner zählenden Gemeinde Riace, Domenico "Mimmo" Lucano, zu 13 Jahren und zwei Monaten Haft. Der 63jährige wurde der Beihilfe zu "illegaler Migration" und in Zusammenhang damit des Betrugs, der Veruntreuung, des Amtsmissbrauchs und der Bildung einer kriminellen Vereinigung beschuldigt, hieß es in der Begründung des Urteils. Dass er Italiener, die Migrantinnen heirateten, bei der Eheschließung unterstützte, wurde ihm im Prozess als das Organisieren von Scheinehen angelastet, mit denen er den Frauen Aufenthaltsgenehmigungen verschafft habe. Dass er die Müllentsorgung des Dorfes nicht öffentlich ausgeschrieben und statt dessen an Genossenschaften vergab, denen Migranten angehörten, wurde als Amtsmissbrauch ausgelegt. Außerdem muss er 500.000 Euro zurückzahlen, Gelder, die die Regierung in Rom und die EU für Flüchtlinge bereitgestellt hatten, die er nutzte.

Der Verurteilte erklärte, "ich habe mein Leben damit verbracht, gegen die Mafia zu kämpfen, habe mich auf die Seite der Schwachen gestellt, und nun werde ich wie ein Mafioso verurteilt." Seine Anwälte Giuliano Pisapia und Andrea Daqcua, die den mittellosen Angeklagten kostenlos verteidigten, sprachen von einem "politisch motivierten" Prozess, einer "ungerechtfertigten Verurteilung, die völlig im Widerspruch zu den Beweisen steht". Ihr Mandant lebe in Armut, er habe Flüchtlingen und Migranten geholfen und keine finanziellen oder anderweitigen Vorteile aus seiner Tätigkeit als Bürgermeister von Riace gezogen. Sie legten sofort nach der Verlesung des Urteils Berufung ein.


Porträt - Foto: Secretaría de Cultura de la Nación, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Domenico Mimmo Lucano bei Diálogos Globales am 3. Juli 2017 in Buenos Aires
Foto: Secretaría de Cultura de la Nación, CC BY-SA 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0], via Wikimedia Commons

Unter dem Titel "Das Dorf des Willkommens" hat der Zürcher Verlag rüffer & rub das Buch herausgebracht, in dem Mimmo Lucano Einblick in sein Leben gibt, das ihn an die Seite der Verfolgten, der Migranten und Hilfsbedürftigen führte. In seiner Kindheit und Jugend erlebte er in einem Bergdorf im Süden selbst, wie mehrere Geschwister nach Übersee auswanderten und sie sich nie wieder sahen. In Turin war er in der radikalen Lotta Continua aktiv, die sich für die Rechte der aus dem Süden emigrierten Arbeiter einsetzte. Zurück in seinem Dorf fühlte er sich dem "proletarischen Riace" immer verbunden und kämpfte an der Seite der Armen und Schwachen gegen Unrecht und gegen die Macht der Mafia. Er orientierte sich an dem Slogan "eine andere Welt ist möglich" des Weltsozialforums im brasilianischen Porto Alegro von 2001, das den Bewegungen der Zivilgesellschaft, die sich gegen Neoliberalismus und Kapitalismus einsetzen, eine Stimme geben wollte, schreibt er.

Als 1998 ein Boot mit kurdischen Flüchtlingen in Riace landet, hilft er ihnen. Er ist zutiefst beeindruckt von ihrem Freiheitskampf, und als er 2004 Bürgermeister von Riace wird, ernennt er Abdullah Öcalan zum Ehrenbürger seiner Gemeinde. Mit MitstreiterInnen gründet er einen Verein "Città Futura" (Stadt der Zukunft), der kleine Werkstätten und Läden fördert, Arbeitsplätze für Einheimische und Flüchtlinge schafft. Er bringt Migranten in leerstehenden Häusern unter und hilft ihnen materiell. So kommen zu den 1800 Einwohnern 450 Flüchtlinge hinzu. Mit ihnen zieht in die Verlassenheit des zurückgebliebenen Dorfes Leben ein. Der Autor schildert, wie er staatliche Aufnahmeprogramme unbürokratisch umsetzte. Tief bewegend ist, wie er das Schicksal der Migrantin Becky Moses, die aus Nigeria geflohen war, erzählt. Sie kam 2015 nach Riace, nach der Ablehnung ihres Asylantrags zog sie 2018 zu Freundinnen in das berüchtigte Lager San Ferdinando bei Reggio Calabria. In dem slumartigen Camp schufteten Hunderte Migranten für Hungerlöhne in den Olivenhainen und Orangenplantagen. Als dort ein Feuer ausbrach, verbrannte Becky Moses in einem Zelt. Bei der Toten wurde der Personalausweis gefunden, den Mimmo Lucano ihr kurz zuvor ausgestellt hatte. "Die Erinnerung an sie bleibt für immer", schreibt er. Es könne nicht sein, dass "die Ablehnung eines Asylantrags den Tod bedeutet". Er ließ Becky Moses auf dem Friedhof von Riace beisetzen.

Lucano gehörte zu den Bürgermeistern, die sich wie Leoluca Orlando aus Palermo, Luigi de Magistris aus Neapel oder Giuseppe Sala aus Mailand geweigert hatten, das vom damaligen Innenminister und Vizepremier Matteo Salvini (2018/19), dem Chef der faschistischen Lega, eingebrachte rassistische und gegen die Verfassung verstoßende "Sicherheitsgesetz" anzuwenden und die für die Öffnung der Häfen für Schiffe mit Flüchtlingen eintraten. Im Oktober 2018 wurde er unter Hausarrest gestellt, danach aus Riace ausgewiesen. Erst 11 Monate später durfte er zurückkehren.

Riace wurde unter seinem Bürgermeister Lucano weltweit bekannt, erhielt den inoffiziellen Beinamen "Willkommensstadt". 2016 wurde ihr Bürgermeister in die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten des US-Magazins Fortune aufgenommen. 2010 erhielt Lucano die Auszeichnung als drittbester Bürgermeister der Welt und inspirierte Wim Wenders zu einem Film. Die Stadt Dresden zeichnete ihn 2017 mit ihrem Internationalen Friedenspreis aus.

Die Mailänder Soziologieprofessorin Giovanna Procacci würdigt in einem Nachwort das Willkommensmodell von Riace als Beispiel der Flüchtlingshilfe. Dagegen sei mit der Verurteilung Lucanos ein politisch motivierter Prozess der europäischen Abwehr gegen Geflüchtete geführt worden, "um humanitäre Einsätze zugunsten von Migranten zu blockieren und zu diffamieren". Das Urteil sei "ein Angriff auf alle, die an den Wert von Solidarität und an den Respekt für die Menschenrechte glauben."


Mimmo Lucano
"Das Dorf des Willkommens".
Aus dem Italienischen von Elvira Bittner.
Verlag rüffer & rub, Zürich 2021, 288 Seiten, 28,50 Euro
ISBN 978-3-906304-87-8.

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. März 2022

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