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BUCHBESPRECHUNG/215: Martin Sonneborn - 99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie (Klaus Ludwig Helf)


Martin Sonneborn & seine politische Beraterin

99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie. Das kom(munisti)sche Manifest.

von Klaus Ludwig Helf, März 2022


Im Jahr 1516 veröffentlichte Thomas Morus den philosophisch-dialogischen Roman 'Utopia', den Entwurf eines fiktiven Staates als Traum von einer besseren Welt, einer frühsozialistischen Republik ohne Privateigentum und Geldverkehr - und das 300 Jahre vor Karl Marx. Diese Schrift war und ist immer noch Schlüsselwerk und Bezugspunkt aller modernen politischen Utopien und Zukunftsentwürfe von einem 'guten Leben'. Fünf Jahrhunderte später habe sich - so Martin Sonneborn, der Autor des vorliegenden Bandes - nicht eine fortschrittliche Utopie, sondern ein "hyper-globalisierter Digitalkapitalismus mit sprechenden Staubsaugern und einer Reihe lethargischer Parteien, die durchgehend von sog. Realisten dominiert werden" durchgesetzt. Realisten und Realpolitiker, nicht Utopisten, hätten uns, wie der Soziologe Oskar Negt zu Recht feststellte, diesen "krass defizitären Gesellschafts- & Weltzustand überhaupt erst eingebrockt" (S. 8). Es sei daher unabdingbar, den "variantenreichen Fehlbildungen der Wirklichkeit" einen guten Ort oder eine gute Idee entgegenzusetzen: "Utopisches Denken bedeutet, die in der Wirklichkeit verborgenen Möglichkeiten aufzuspüren. Und im WIRKLICHEN wieder das ANDERE sichtbar zu machen: die unterdrückte MÖGLICHKEIT. Dazu könnte es hilfreich sein, dem geschlossenen Wirkungsablauf dieser verhärteten Realität "paarmal höflich vors Schienbein zu treten" (S. 9). Das ist das bescheiden formulierte Ziel des vorliegenden Bandes, das er vortrefflich erfüllt.

Martin Sonneborn ist seit 2014 Mitglied des Europäischen Parlaments von Die PARTEI, deren Gründungsmitglied und Bundesvorsitzender er ist, Mitherausgeber des Satire-Magazins TITANIC. Er beendete sein Studium der Publizistik, Germanistik und Politikwissenschaften mit einer Magisterarbeit über die absolute Wirkungslosigkeit moderner Satire, war Redakteur, dann Chefredakteur der TITANIC, TV-Journalist u.a. bei der "ZDF-heute-show" und fällt neben gelungenen und treffsicheren, gelegentlich auch durch grenzwertige satirische Aktionen und Äußerungen auf.

Am Anfang des Vorworts stellt Martin Sonneborn eine steile These auf, mit der er die Phantasielosigkeit und Kapitalhörigkeit des politischen Establishments mit Recht scharf kritisiert: "Unser schönes geteiltes Land ist kaputt. Längst ist unser Demokratiegefüge zu einem dilettantisch dekorierten Operettendings geworden, in dem politische Zukunfts- und Gestaltungsentwürfe nur mehr als scheindialektische Schattenspiele (Baudrillard, Marcel Marceau) vorkommen. Ein utopisches Bewusstsein, eine auf 'Veränderung des Ganzen'... gerichtete Intention sucht man im Maschinenraum des Bundestags vergeblich. Jede einzelne Partei ... ist eine Kapitulationserklärung des Politischen gegenüber dem Bannkreis des Geldes und der sog. realpolitischen Notwendigkeit" (S. 5).

Nach dem Vorwort folgen 99 Bausteine und "33 Bonus-Tracks" von unterschiedlicher Länge, Witzigkeit, Gedankentiefe und Utopie-Tauglichkeit, in denen Martin Sonneborn seine Ideen und Forderungen für eine bessere Politik und einen gesellschaftlichen Fortschritt aufblättert. Der Band hat keine erkennbare Struktur, sondern präsentiert ein Sammelsurium von Gedankenblitzen und Vorschlägen, von denen manche einfach nur witzig, provokant oder entlarvend und lästerlich sind, die meisten aber haben einen gehaltvollen und reflektierten Kern. Hier seien aus der Fülle produktiver Ideen nur wenige erwähnt: elektronische Beschleunigungssperre und Luxus-Steuer für SUV, Gesetz zur Aufhebung des Adels, Begrenzung der Obergrenzen für Wahlkampfausgaben der Parteien und Parteispendenverbot für Firmen und juristische Personen, striktes Nebentätigkeitsverbot für Träger öffentlicher Ämter (ausgenommen Lehre, Kunst und Wissenschaft), Freigabe der Patente auf Corona-Vakzine, Schließung der privatwirtschaftlichen Schufa Holding AG.

Die Privatisierung und Kommerzialisierung der politischen Diskurs-Struktur müsse dringend geändert werden: "Die Agora ist ein Ort der politischen, der republikanischen Freiheit. Niemand sollte sich den Zugang zur Öffentlichkeit, diesem blanken bürgerlichen Grundrecht, durch ein schlechtes Geschäft mit der Privatwirtschaft & ihren Daten ausbeutenden Plattformunternehmen erkaufen müssen ... Das ganze Zeugs muss augenblicklich demokratisiert werden: Facebook & Twitter fairstaatlichen!" (S. 54).

Es müsse Schluss sein mit der Gesundschrumpfung des Bildungswesens auf seinen ökonomisch potenten Kern. Die Universitäten müssten geschützt werden vor dem "krakenhaften Ausgreifen der Ökonomisierung aller Lebensbereiche": "Bildung ist keine Ware und der Student kein Ausgangsmaterial für den industriellen Produktionsprozess. Die wirtschaftsinteressenkonforme Aufzucht arbeitsmarkttauglicher, selbstausbeutungsbereiter Teletubbies mag vielleicht mit den Bildungsidealen von Milton Friedman korrelieren, nicht aber mit denen der europäischen Kulturgeschichte" (S. 89). Diese seien aber wichtiger als die Verwertungsinteressen der europäischen Industrie.

Das Aufstiegsversprechen in der Gründer-Phase der Bundesrepublik als ein Grundpfeiler unseres Gesellschaftsvertrages habe sich in Luft aufgelöst. An die Stelle der sozial austarierten Wirtschaftswunderbewegung, an der alle im Aufzug nach oben beteiligt waren, sei ein 'sozialer Paternoster' getreten (Andreas Reckwitz) oder die 'rasante Rolltreppen-Fahrt nach unten' (Oliver Nachtwey), deshalb müsse ein bedingungsloses Grundeinkommen, eine Grundsicherung und eine Vermögenssteuer eingeführt werden, ebenso eine Vermögensumverteilung durch eine einmalige Vermögensabgabe wie sie z.B. 1952 mit dem Lastenausgleichsgesetz unter Adenauer und der CDU möglich gewesen sei.

Die "Fackelträger" der französischen Revolution hätten trotz ihrer grundstürzenden Umwälzung aller Verhältnisse die Frage nach der Legitimität von Privateigentum völlig vernachlässigt, was Folgen hätte bis in die heutigen Tage. Der bürgerliche Eigentumsbegriff, der rechtlich nicht in Stein gemeißelt sei, müsse daher im 21. Jahrhundert dringend revidiert werden - wie auch der Wirtschaftshistoriker Thomas Piketty festgestellt habe. Millionen von Menschen könnten trotz Arbeit von ihrem Lohn kaum leben und seien auf Sozialleistungen wie "Hartz IV" angewiesen, dessen Erfinder und Architekt eine "fünfjährige Isolationshaft im Schloss Bellevue" verbüßen sollte: "Und dabei 10.000-mal Marx' kategorischen Imperativ ins Gästebuch schreiben, nach dem es gilt, 'alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist'" (S. 178).

Neben diesem nicht ganz wörtlich zu nehmenden satirischen Vorschlag mit Tiefsinn gibt es auch klamaukhafte Vorschläge wie Verbot von Euphemismen (wie Preisanpassung, Freistellung, Flexibilisierung), die Bierpreisbremse und das Denkmal für Hefe oder Wortspielereien wie "Verkehrsminister Andi B. Scheuert" oder Beatrix von Strolch, Groko Haram. In Anlehnung an Joseph Beuys' Idee der sozialen Plastik schlägt Martin Sonneborn zum Schluss seines Bandes vor, Politik nicht dem elitären Handwerk der Politiker zu überlassen, sondern dass sich der politisch denkende Mensch direkt und aktiv einmischen solle und spricht den Lesenden direkt an: "Sie sind Bestandteil einer politischen Plastik, eines gesellschaftlichen Projekts, das Sie persönlich plastizieren. Wer hätte das gedacht, ausgerechnet Sie. JEDER MENSCH IST EIN POLITKER" (S. 185).

"Das kom(munist)ische Manifest" ist eine zuweilen übersteigerte, aber durchweg ernstzunehmende politische Satire, die mit den politischen Parteien und Mächtigen im Lande abrechnet, witzig und provokant die negativen Auswüchse des politischen Establishments aus Korn nimmt und gleichzeitig durchaus reflektierte und nachhaltige Ideen für eine "bessere Welt" vorstellt. Für Martin Sonneborn selbst kann gelten, was er für Christoph Schlingensief in seinem Band attestiert hat: "ein furchtloser Handwerker der erkenntnisfördernden Verstörung" (S. 154).


Martin Sonneborn & seine politische Beraterin: 99 Ideen zur Wiederbelebung der politischen Utopie. Das kom(munisti)sche Manifest. Verlag Kiepenheuer & Witsch Köln 2021, 185 Seiten, kartoniert, Paperback, EUR 10,00.

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Quelle:
© 2022 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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