Ein Klassiker
von Horst Möller, 11. Mai 2022
Um Erfreuliches handelt es sich selten, wenn das Heute von Gestrigem oder gar Vorvorgestrigem eingeholt wird. 1892/93 hatten 16.596 Hamburger die Cholera, 8.605 starben. Nur wenige Jahre zuvor bestand auch für die Insel Skiathos die Gefahr, verseucht zu werden. Wie die Geängstigten sich da gebärdeten, darüber schreibt - zeitlos - der dort geborene und aufgewachsene Alexandros Papadiamantis (1851-1911). Und er schreibt, als dröhne ihm Schillers Glocke im Ohr: Nichts Heiliges ist mehr, es lösen / Sich alle Bande frommer Scheu, / Der Gute räumt den Platz dem Bösen, / Und alle Laster walten frei. Dass sich Szenarien so gleichen können! Um die Krankheit zu bannen, müssen alle herannahenden Schiffe zunächst bei einem vorgelagerten Inselchen ausharren. Wessen Quarantäne abgelaufen und Befund negativ ist, für den endet die Isolation. Vor Ort der Arzt, ein Deutscher, erfährt höchste Wertschätzung. Hingegen führt zu Ärger und Hohn, dass behördlicherseits zwar strenge Vorkehrungen, aber keine vernünftigen Regelungen für danach getroffen worden sind. Denen, die das auszubaden haben, bleibt nichts anderes übrig, als auf eigene Faust los zu fahren - ohne Gewähr auf freies Geleit. Dann, noch einiges vom angesteuerten Hafen entfernt, hören sie dort die Glocken Sturm läuten und erleben, wie die Leute herbeistürzen, bereit, mit ihren Schießeisen, Knüppeln, Wurfgeschossen und viel Geschrei ein Anlanden zu verhindern. Papadiamantis setzt wie zumeist in seinen Erzählungen auch hier eine Gegenfigur ins Bild: Skevo, vom Schicksal geschlagen, eine Witwe. Abenteuerlich gewitzt gelingt es ihr, zur Quarantäneinsel überzusetzen, um dort ihren sonst auf den Schiffen im Mittelmeer sein Brot verdienenden Sohn gesund zu pflegen. Ein hohes Lied der Mütterlichkeit.
In einem Land, das ohnehin schon epidemisch notleidet, wirkt sich
eine Katastrophe, wie sie hier beschrieben ist, doppelt schwer aus.
"Leider sind wir bankrott" zitiert Andrea Schellinger, Herausgeberin
und Übersetzerin, in ihrem Nachwort den damaligen Ministerpräsidenten
Charilaos Trikoupis (1893) - inzwischen längst ein geflügeltes Wort.
Papadiamantis ist nicht zimperlich damit, griechisch gleichzusetzen
mit gerissen sein. Landauf landab machen sich Wucherer ausweglose Not
zunutze. Und deren Zinspresserei erscheint auch nicht niedlicher,
weil es von jüdischen Krämern im damals noch immer türkisch
verwalteten Thessaloniki heißt, sie kaschieren alte Ware, indem sie
frische obenauf tun. Gesellschaftliche Konturen lässt Papadiamantis
nicht verschwimmen. Einem Adonis gleicht der Hirtenjunge, im Lesen
und Schreiben vom Popen unterwiesen, er kann der Flöte noch so
sehnsuchtsvolle Töne entlocken, in die Villa zu seiner Angebeteten
wird er niemals vordringen. Und ähnlich lässt eine zärtlich
Umschwärmte bei aller Zuneigung sich um nichts in der Welt auf ihren
Verehrer ein, einen Studenten mit ungewisser Zukunft. Oder: heroisch
überwindet der junge Seemann seine Seelenpein und lässt das Boot samt
Jungendliebchen, die einem anderen verheiratet wurde, auf der Fahrt
in die Fremde nicht kentern. Die Sympathie des Erzählers gehört
unverkennbar den Benachteiligten, Geplagten, Schwachen. Ohnehin
verschafften dem heute viel Gelesenen seine Veröffentlichungen zu
Lebzeiten auch selber keine auf Rosen gebettete Existenz, ein
Künstlerschicksal wie so viele, nicht nur in Athen. "Erotiker par
excellence", malt er voll Hingabe mit Worten auch die Schönheiten
seiner Inselheimat: die Klippen, Schluchten, das Meer. Rauhe
Schönheiten, nichts Idyllisches. Da hätten Illustrationen unbedingt
dem fein gestalteten Buch zu einem Augenschmaus verhelfen können.
Dass der Elfenbeinverlag, gerade wieder mit einem Verlegerpreis
beglückt, sich abermals diesem griechischen Klassiker gewidmet hat,
alles stimmig neu ins Deutsche herübergebracht - einiges erstmalig -,
ist allerdings überaus erfreulich.
Alexandros Papadiamantis,
Wunschtraum in den Wellen.
Erzählungen.
Berlin 2022, 256 S., 19.- Euro
ISBN 978-3-96160-076-2
*
Quelle:
© 2022 by Horst Möller
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022
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