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BUCHBESPRECHUNG/009: Blick in den braunen Abgrund - Romandebüt von Moritz Rinke (Arn Strohmeyer)


Blick in den braunen Abgrund

Moritz Rinke hat einen Roman über Geschichte und ihre Verdrängung im Künstlerdorf Worpswede geschrieben

Von Arn Strohmeyer, März 2010


Der Historiker Eberhard Jäckel hat mit Blick auf den Nationalsozialismus einmal geschrieben: "Was verdrängt wird, kommt als Bedrängnis wieder!" Was ja nichts anderes heißt als: Ein Schlussstrich ist nicht möglich, so lange die Sünden der Vergangenheit nicht aufgearbeitet sind, sonst kehrt sie in beängstigender Weise zurück. Moritz Rinke hat diese schlichte psychologische Einsicht seinem Worpswede-Roman "Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel" zugrunde gelegt. Aber er tut das nicht in belehrender Form mit erhobenem Zeigefinger. Denn dieser Schriftsteller, der aus dem Dorf an der Hamme stammt, verfügt über eine Gabe, die vermutlich nicht viele deutsche Autoren besitzen: eine hintergründige Komik, die weit über Humor und Satire hinausgeht.

Sein Künstlerdorf an der Hamme ist eine so groteske Ansammlung von skurrilen Figuren: verschrobenen, durchgeknallten und verrückten Typen und Außenseitern, dass selbst der Bürgermeister des Ortes einmal entsetzt ausruft: "Ist in diesem Ort denn niemand normal?" Und der Leser fragt sich angesichts dieses Kuriositätenkabinetts von schrägen Vögeln, ob in diesem Künstlerdorf auch ernsthaft an Kunst gearbeitet wird. Man erfährt es von Rinke nicht.

Aber so viel kann man sagen: Der provinzielle Kunst-Kosmos dieser kauzigen Eigenbrötler und Originale ist fern der Wirklichkeit des realen Lebens - so wie es schon der Schriftsteller Karl Jacob Hirsch nach dem Ersten Weltkrieg notiert hatte: "Das Worpsweder Leben barg in sich einen geheimnisvollen Zauber: Es hielt die Künstler, die dort wohnten, davon ab, mit irgendeiner Erscheinung des wirklichen Lebens in Berührung zu treten. Worpswede war trotz Krieg eine Art Elfenbeinturm, von der Außenwelt abgeschnitten und isoliert (...) Es gab keine eigentliche Entwicklung in dem Dörfchen. Die Menschen, die dort wohnten und arbeiteten, wussten nichts von dem rauen Leben, das draußen herrschte."

Daran scheint sich auch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart - also die Zeit, in der Rinkes Roman spielt - nichts geändert zu haben. Der Ort hat immer noch eine magische Anziehungskraft auf ausgeflippte Querköpfe, die durchaus auch dem weiblichen Geschlecht angehören können, wie Rinke mit Blick auf die vielen älteren Damen schreibt, die sich alle in Kostümierung und Gestus wie "Paula" aufführen und sich auch alle als große Künstlerinnen empfinden.

Aber weltferne Idylle oder isolierter Elfenbeinturm heißt nicht unpolitische Zone! Ein Bremer Historiker, den Rinke auftreten lässt und der sich intensiv mit der Geschichte des Dorfes zwischen 1933 und 1945 beschäftigt hat, rechtfertigt sein Tun mit den Worten: "Die Menschen haben ein Recht zu wissen, dass man hier in Worpswede nicht all die Jahre einen friedlichen Dornröschenschlaf abgehalten hat!" Und an anderer Stelle heißt es: "In Worpswede, da ruht alles schon im Reichsacker! Und man hält 60 Jahre die Klappe!"

Mit dem Dornröschenschlaf ist es vorbei, als Rinkes Held (oder Antiheld) Paul Wendland aus Berlin-Kreuzberg anreist, wo er äußerst erfolglos eine Galerie für blinde Maler betreibt. In Worpswede, woher er selbst stammt, soll er im Auftrag seiner auf Lanzarote lebenden Mutter das Haus der Familie sanieren, das im Teufelsmoor zu versinken droht. Aber es wird eine unfreiwillige Reise in die Vergangenheit - die der Familie und der jüngsten deutschen Geschichte. Im Garten des Hauses stehen lebensgroße Bronzestatuen herum, die Pauls Großvater, der Bildhauer Paul Kück, geschaffen hat. Um eine seltsame Gesellschaft handelt es sich da: Napoleon, Otto von Bismarck, Rainer-Maria Rilke, Heinrich Schliemann, Ringo Star, Martin Luther, Albert Einstein, Friedrich Nietzsche, Max Schmeling, Heinz Rühmann und Willy Brandt sind da versammelt. Aber auch die Großmutter, die ein Tablett voll mit frisch gebackenem Butterkuchen in der Hand trägt, und eine "verschwundene", angeblich von der Gestapo "abgeholte" Tante stehen da - alle mit Stricken angetaut an eine große Eiche, weil auch sie im Moor zu versinken drohen.

Paul Wendland heuert eine Baufirma an, die das Haus mit Betonsäulen im nassen Untergrund abstützen und stabilisieren soll. Als man Gräben für den Abfluss des Moorwassers aushebt, geschieht es: Der Blick in den braunen Abgrund ist furchtbar, denn dort liegt im brackigen Torf - lebensgroß und in Bronze gegossen, vergraben vom Großvater Kück - Hitlers Reichsbauernführer und Landwirtschaftsminister Richard Walter Darré. Das war im "Dritten Reich" der Mann, der für "Blut und Boden" stand und Bücher mit so eindeutigen Titeln geschrieben hat wie: "Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse" und "Blut und Boden - ein Grundgedanke des Nationalsozialismus".

In Worpswede soll der Reichsbauernführer auch einmal gewesen sein, als der NS-Propagandafilm "Landvolk in Not" gedreht wurde. In dem Streifen spielt eine Szene im Teufelsmoor: Moorland wird kultiviert, Bauern heben Abzugsgräben aus. Hitlers Reichsbauernminister fährt im Auto vor, steigt aus und hilft mit. Ein kleines blondes Mädchen dreht an seinem Zopf. Ein Maler kommt vorbei, grüßt mit "Heil Hitler" und malt das Mädchen mit Minister. So zitiert Rinke die 114. Regieeinstellung. Vermutlich hatte Pauls Großvater Darré bei dieser Gelegenheit persönlich kennengelernt und ihn dann in Bronze verewigt. Aber wie peinlich: Ausgerechnet dieser Paul Kück war nun posthum von der Worpsweder Tourismus-Marketing-Gesellschaft in diesem Jahr, in dem Paul Wendland dort weilt, zum Künstler des Jahrhunderts ausgerufen worden!

Rinke hätte beim Auffinden Darrés den Gründer der Künstlerkolonie und von den Nazis mit dem Titel "Gottbegnadeter" geehrten Fritz Mackensen zitieren können, der einmal über sich und seine Malerkollegen im Ort stolz verkündete: "Wir waren fest verbunden mit Blut und Boden und daraus erwuchs unsere überragende Leistung." Aber er braucht dieses Zitat gar nicht anzuführen, denn die braune Indizienkette wird von allein immer größer. Papiere tauchen auf: Der Großvater saß auch im "Großen Rat" der in Lübeck ansässigen "Nordischen Gesellschaft", deren Grundgedanke der "Glaube war, dass das Heil der Menschheit im Norden liegt." So prominente Nazis wie Reichsinnenminister Wilhelm Frick, Reichsführer SS Heinrich Himmler und Reichbauernführer Richard Walter Darré saßen auch im Rat der "Nordischen". Paul erfährt außerdem: Als Großvater Kück auf dem Worpsweder Friedhof beigesetzt wurde, warf seine Frau ihm wehmütig eine Medaille in die Gruft hinterher, die Hitler persönlich dem Bildhauer auf der Großen Deutschen Kunstausstellung 1939 in München umgehängt hatte.

Aber auch damit noch nicht genug: Beim Ausheben eines neuen Entwässerungsgrabens kommt eine zweite NS-Bronzefigur ans Tageslicht. Es ist Herbert Ernst Backe, der Nachfolger von Darré im Amt des Reichsministers für Landwirtschaft, vorher SS-Obergruppenführer im Rasse- und Siedlungshauptamt. Dieser Volksgenosse hatte einen Plan ausgearbeitet, wie man nach dem Überfall auf die Sowjetunion 20 bis 30 Millionen Menschen verhungern lassen sollte, um "Lebensraum" für deutsche Neusiedler zu schaffen. Auch er lag da in Bronze gegossen im Moorgraben - aber wie Darré (und sich damit von den anderen Figuren unterscheidend) überlebensgroß. Und die Worpsweder älteren Bauern, die bei der Bergung dabei waren, schlugen im Angesicht dieser beiden "hohen Tiere" noch ehrfurchtsvoll die Hacken zusammen.

Paul Wendland hat keinen Zweifel: "Das Dorf steckt tief im Nazisumpf". Aber wie damit umgehen? Was tun, wenn überall im Garten "sprechende Nazis aufsteigen"? Schweigen oder lügen? Der Großvater und seine Familie hatten es sich nach dem Krieg leicht gemacht: Natürlich war Opa kein Nazi gewesen! Er hatte doch immer zur SPD gehört! Hätte er sonst Willy Brandt modelliert? Und selbst den Juden Einstein hatte er mit seinen Händen gestaltet! Ja, der Großvater war eher ein Mann des Widerstandes gewesen, denn er hatte die Bronzen von Darré und Backe doch aus "Angst vor den Nazis" im Garten vergraben! Und außerdem: Was geht uns die Vergangenheit an, wir wollen in der Gegenwart leben!

Auch Paul Wendlands Mutter, eine 68erin, die zur unpolitischen Esoterikerin konvertiert war, stimmte in den Verdrängungschor mit ein. Sie hatte in Lanzarote ein Studio für "Neuprägung und Historical Change" gegründet. Mit Hilfe dieser Methode sollte es möglich sein, belastende Erinnerungen aus der Vergangenheit zu verändern, indem man negative Gefühle aus der Vergangenheit "ankert", um dann aus der Gegenwart einen neuen und besseren "Gefühlsanker" in die Zukunft zu werfen. Ein Vorgehen, das so neu gar nicht war, sondern im Dorf selbst schon seit Jahrzehnten erfolgreich in Bezug auf die eigene belastete Geschichte praktiziert wurde. Paul kommen aber tiefe Zweifel an dieser Methode und er fragt: "Wie tief saß die Vergangenheit im Land, dass die Gegenwart nie beginnen konnte?"

An anderer Stelle resümiert Rinkes Antiheld, der ganz unschuldig und unvorbereitet im Künstlerdorf "durch die Geschichte des Jahrhunderts fällt", dass man in Worpswede alles Unangenehme mit riesigen Taschentüchern einfach "wegschnäuzt", was wohl die dortige Art des Verdrängens ist: "Ja, in diesem flachen Land schnäuzte man grundsätzlich alles weg, was unangenehm zu beantworten war. Die Zeit, in der man hätte antworten oder Dinge ansprechen können, wurde weggeschnäuzt und zwar so lange, bis das Leben längst weiter gegangen war, dachte Paul. Und so blieben Enkel und Söhne ohne Antworten und irrten ahnungslos durch die Welt. Und wenn sie etwas finden wollten, dann mussten sie graben und graben und zu graben aufhören, wenn sie es nicht mehr ertragen konnten und ihr Leben ohne die Wahrheit für ruhiger und sicherer hielten."

Paul wird ganz unfreiwillig zum "Geschichtsmüllmann", der alles wegräumen muss, was die vorige Generation stehen ließ. So entsorgt er den bronzenen Reichsbauernführer Darré in dunkler Nacht in der Hamme. So hatte seine esoterische Mutter es ihm auch geraten: "Das Moorwasser ist durchblutungsfördernd, es saugt Nervöses im Körper ab, die Vergangenheit auch, die Hamme absorbiert die reinste Entschlackung."

Den anderen Reichsbauernführer hatte ein Worpsweder Künstler inzwischen aus dem Garten gestohlen. Er war ein früherer Freund von Pauls Mutter gewesen und hatte als verschmähter Liebhaber noch eine Rechnung mit der Familie Kück zu begleichen. Dieser Clan hatte nicht nur den "inneren Hitler" in sich, sondern auch ein "gruseliges Moorgespinst". Denn der Großvater war nicht nur ein gläubiger Nazi gewesen, sondern hatte auch die Frau seines Sohnes, der im Krieg war, in der Scheune als Sex-Sklavin gefangen gehalten. Die Frau starb bei der Geburt eines dementen Kindes und wurde wie die großen Nazi-Statuen auch im Garten vergraben. Die offizielle Version war, dass die Gestapo sie "abgeholt" habe. Die desaströsen Folgen dieses Familien-Dramas reichen bis in die Gegenwart dieser im wahrsten Sinne des Wortes "irren" Familie. Paul bleibt gar nichts anderes übrig, als Licht in diese tragischen Verwicklungen, Verstrickungen und menschlichen Katastrophen zu bringen, die "Wahrheit" zu finden, die da im sumpfigen Boden des Künstlerdorfes ruht. Dass es dabei auch oft grotesk, burlesk und komisch zugeht, ist Rinkes großer Wortkunst zuzuschreiben.

Moritz Rinke ist kein Historiker, er hat einen Roman geschrieben, einen Text, in dem sich historisch Faktisches und Fiktives mischen. Sein Thema ist die große Verdrängung: die Vergangenheiten - die braune und die familiäre, die sich überlappen - steigen ungefragt und ungerufen aus dem Moor hervor und bedrängen, machen die Gegenwart höchst ungemütlich. Das Moor wird zur Metapher für Schweigen, Abschieben, Vergessen- und Nicht-Wissen-Wollen. Aber auch die Aufklärung und das Wissen befreien in Rinkes Roman nicht, machen nicht glücklich, bestenfalls illusionslos. So steht sein Held Paul am Ende geschockt, aber auch in beinahe nihilistischer Klarsicht da. Alles ist ihm unter den Füßen weg gebrochen - die "heile" Familie samt ihrer Geschichte und ihrem Haus, das nicht mehr zu retten ist und endgültig im Moor versinkt, und die "Heimat" des Künstlerdorfes, die sich als leerer Schabernack entpuppt und für ihn nicht identitätsstiftend ist. Kein Ort, an dem man sich finden kann. Paul muss weiter suchen, ja noch einmal ganz von vorn anfangen. Trost spendet dieser dennoch sehr lesenswerte Roman nicht.


Moritz Rinke:
Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel
Kiepenheuer&Witsch Verlag Köln 2010
482 Seiten, 24.95 Euro


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Quelle:
© 2010 Arn Strohmeyer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2010