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REZENSION/006: Don DeLillo - Sieben Sekunden (Thriller) (SB)


Don DeLillo:


Sieben Sekunden



An diesem 1991 erschienen Roman von Don DeLillo werden sich sicherlich die Geister scheiden, denn kaum ein Ereignis der frühen sechziger Jahre hat die Menschen Amerikas so sehr bewegt wie das Attentat auf John F. Kennedy am 22. November 1963 in Dallas, und kaum historisches Ereignis besitzt heute noch eine so große Aktualität. Die einen werden das Buch, das als literarische Interpretation der damaligen Ereignisse einen Freiraum für sich in Anspruch nimmt, der selbst Hobbykriminalisten nicht zur Verfügung steht, aufgrund der Vermischung von Fakten und Fiktion verwerfen, andere werden es vielleicht als eine entspannende Abwechslung im Reigen der Theorien und Mutmaßungen sehen, die zu diesem Thema nach wie vor heiß diskutiert werden.

Dabei dreht sich die Handlung des Romans in erster Linie um die Person Lee Harvey Oswalds, der in Übereinstimmung mit den meisten Theorien zumindest nicht allein geschossen hat, wenn er überhaupt als Schütze in Frage kommt. Als Grundraster aller Vertuschungsversuche, die mit der These des einsamen Einzeltäters aufwarten, dient die Geschichte Oswalds den amerikanische Verschwörungstheoretikern mittlerweile bei jedem politischen Attentat als Präzedenzfall, bei dem Hinweise auf ein Komplott unter Verweis auf einen allein handelnden Gewalttäter unterdrückt werden sollen, dessen Tatmotiv zudem häufig hinter einer psychischen Störung versteckt wird.

Und wo an anderer Stelle erbittert um Fakten gerungen wird, indem zum Beispiel der berühmte Zapruder-Film in digital nachbearbeiteten Versionen Aufschluß über die Theorie bieten soll, nach der Kennedys Fahrer selbst den tödlichen Schuß abgegeben hat, holt Don DeLillo weit aus und entspinnt eine biografische Erzählung, die das Bild eines introvertierten und überdurchschnittlich interessierten Menschen entwickelt. Der Autor bedient sich dabei aller Mittel literarischer Freizügigkeit, vom Plädoyer der Mutter gegenüber einem imaginären Richter, in dem sie die Härten seiner Jugend und ihres eigenen Schicksals schildert, bis hin zu einer assoziativen Aneinanderreihung der Reflektionen Oswalds über Gesellschaft und Geschichte, über Macht und Gewalt. Die Quintessenz dieser Überlegungen gibt ein Zitat aus einem Brief Oswalds an seinen Bruder Robert wieder, mit dem das Buch eingeleitet wird:

Das Glück ruht nicht in dir selbst, es besteht nicht aus einem Häuschen, aus Geben und Nehmen. Das Glück findest du, wenn du an dem Kampf teilnimmst, bei dem es zwischen deiner eigenen privaten Welt und der Welt im allgmeinen keine Grenze gibt.

Der Versuch, überpersönliche Sinnerfüllung durch rückhaltloses Engagement inmitten der sozialen Auseinandersetzungen seiner Zeit zu erreichen, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte Lee Harvey Oswalds. Sie beginnt mit seiner Jugend in der Bronx, wo er allein bei seiner Mutter in ärmlichen Verhältnissen aufwächst und zum Ziel häufiger Anfeindungen seiner Altersgenossen wird, weil er mit den üblichen Ritualen der Jugendlichen nichts anfangen kann. Von dort ziehen sie nach New Orleans, der Heimatstadt der Mutter, wo Oswalds Erfahrungen mit den sozialen und politischen Widersprüchen des Amerikas der fünfziger Jahre sein Interesse am Marxismus wecken. Während er sich mithilfe von Büchern aus der Leihbücherei praktisch als Autodidakt zum Kommunisten ausbildet, beschäftigt er sich gleichzeitig mit den Dienstvorschriften des Marinekorps, in dem sein älterer Bruder dient. DeLillo beschreibt die Phantasien Oswalds von einer Existenz im politischen Untergrund mit Bildern voller Gewalt und Verschwörung:

Er war kurz vor dem Einschlafen, kam ins Träumen, die packende Welt Oswalds, des Helden, wo Gewehre im Dunkeln blitzten. Tagträume von der Macht, Raserei in Vollendung, Sehnsucht in Vollendung, die Phantasiebilder der Nacht, regennasse Straßen, die tiefen Schatten von Männern in dunklen Mänteln, Männern wie auf Filmplakaten. Die Dunkelheit besaß Macht. Der Regen fiel auf leere Straßen. Immer tauchten Männer auf, mit langen gekrümmten Schatten hinter sich, dann das Gewehr in seinen Händen, die 22er Marlin, der Gedanke, auf den Bauch zu zielen, um das Sterben in die Länge zu ziehen.

Ausführlich werden die einzelnen Stationen in Oswalds kurzem Leben geschildert, immer auf sehr detaillierte und konsistente Weise. Sein Aufenthalt auf der amerikanischen Basis Atsugi in der Nähe von Tokio, von der aus die legendären U 2-Spionageflugzeuge zu ihren Erkundungsflügen über Rußland starten, wird durch eine eindrücklich geschilderte Episode im Bunker der Marines zu einer aufschlußreichen Studie über die Grundzüge einer Disziplinierung, in der alles darauf abgestellt ist, den Soldaten zu einer bedingungslos funktionierenden Tötungsmaschine zu machen. Oswald ist mit radikalen japanischen Studenten befreundet und nimmt schließlich Kontakt zu einer KGB-Agentin auf, um seinen Wunsch zu verwirklichen, in die Sowjetunion auszuwandern.

Das gelingt ihm jedoch erst, nachdem er das Marine Corps verlassen hat und über Finnland in die Sowjetunion einreist. Allerdings wird ihm das Überlaufen nicht einfach gemacht, da man ihn für einen Doppelagenten hält. Und so schickt man ihn nach ausführlicher Prüfung entgegen seinem Wunsch, eine Aufgabe im Geheimdienst zu erhalten, in die weißrussische Stadt Minsk, wo er in einer Fabrik für Radioteile arbeitet. Dort lernt er seine Frau Marina kennen, mit der er, enttäuscht von der Enge und Dumpfheit des Lebens in der russischen Provinz, wieder in die USA zurückkehrt. Sie lassen sich in Fort Worth nieder, und er bringt die inzwischen auf drei Personen angewachsene kleine Familie mit Gelegenheitsjobs durch. Als Ex-Marine mit Zugang zu Militärgeheimnissen, der zwei Jahre in der Sowjetunion gelebt hat, wird er vom FBI überwacht, das bald mit einem Auftrag an ihn herantritt.

Parallel zu Oswalds Lebensgeschichte entfaltet sich das Szenario der Verschwörer, allesamt ehemalige CIA- und FBI-Agenten, die in maßgeblicher Position an der mißglückten Invasion Kubas in der Schweinebucht beteiligt waren. Nach den vielen erfolglosen Versuchen, Fidel Castro umzubringen, entschließt man sich, mit einem Attentat auf den amerikanischen Präsidenten und fingierten Spuren, die auf kubanische Drahtzieher hinweisen, den Konflikt neu anzuheizen. Kennedy hatte den Zorn der Anti-Kuba-Fraktion aus mehreren Gründen auf sich gezogen. Bei der Schweinebuchtinvasion hat er unerwarteterweise jede Luftunterstützung verweigert, anschließend soll er die Feindseligkeiten gegen Castro zumindest nach außen hin eingestellt haben. Die immer noch aktiven Castrogegner, die in den Everglades, den Sümpfen Floridas, weiterhin den Krieg gegen Kuba übten, riesige Waffendepots angelegt hatten und kleine Operationen gegen die Insel ausführten, wurden plötzlich von verschiedenen Bundesbehörden observiert und verfolgt. Viele der für die Planung der Schweinebuchtaktion verantwortlichen Beamten waren frühzeitig pensioniert oder in ihren Organisationen kaltgestellt worden.

Auch die einzelnen Verschwörer gewinnen im Roman ein persönliches und der Logik verdeckter Operationen entsprechendes Profil. Auf der planerischen Ebene werden Schwierigkeiten bei der Organisation und vor allem der Abschottung deutlich, und so wird zum Beispiel die erst in Miami geplante Aktion von einem randläufig daran beteiligten Rechtsradikalen verraten. Im weiteren Verlauf erweist sich das jedoch als taktische Finte, mit der unzuverlässige Teile der Anti-Kubabewegung von der eigentlichen Aktion isoliert werden sollten. Den Verschwörern geht es um eine kühl kalkulierte Aktion, die eine bestimmte Funktion im Gesamtplan der Rückeroberung Kubas für ihre Interessen erfüllt, wobei auch Querverbindungen zu Mafiasyndikaten eine Rolle spielen.

In den geflüsterten Gesprächen der Planer wird über das Wesen konspirativer Arbeit philosophiert, Insiderwitze machen die Runde und bei Operationen spricht man von Objekten und nicht von Personen. Geheimdienstliche Praktiken und Organisationsstrukturen werden erläutert und die schwere Bürde derjenigen, die im Dunkeln bleiben, weil sie die eigentliche Arbeit leisten, wird gewürdigt:

Wissen bedeutete Gefahr, Nichtwissen war ein geschätzter Aktivposten. In vielen Fällen waren dem DCI, dem Direktor der CIA, wichtige Informationen vorzuenthalten. Je weniger er wußte, desto entschiedener konnte er agieren. Er könnte vor einem Untersuchungsausschuß oder bei einer Anhörung oder bei einem Oval-Office-Plausch mit dem Präsidenten nicht so leicht die Wahrheit sagen, wenn er wüßte, was sie in 'Leader 4' trieben, oder auch nur, worüber sie redeten oder im Schlaf murmelten. Die Vereinigten Stabchefs brauchten nicht alles zu wissen. Die schauerlichen Details von Operationen waren nicht für ihre Ohren bestimmt. Details waren eine Art von Verseuchung. Die Minister waren gegen Wissen abzuschirmen. Sie waren besser dran, wenn sie nichts wußten oder erst zu spät informiert wurden. Ihre Stellvertreter interessierten sich für Strömungen und Tendenzen. Sie wollten getäuscht werden. Sie verließen sich darauf. Dem Justizminister waren die bedenklichen Details vorzuenthalten, nur Ergebnisse mitzuteilen. Jede Ebene des Ausschusses sollte eine höhere Ebene abschirmen. Ihre Sprache war voller Doppeldeutigkeiten. Es gehörte schon eine besondere Erfahrung und viel Hintergrundwissen dazu, den wahren Sinn gewisser dunkler Bemerkungen zu entschlüsseln. Da gab es Pausen und leere Blicke. Geistvolle Rätsel gingen zwischen verschiedenen Befehlsebenen hin und her, wurden zerlegt, gelöst, ignoriert. Es mußte wohl so sein, gab Win im stillen zu. Die Männer auf seiner Ebene brachten immer neue Geheimnisse hervor, die zitterten wie die Eier von Reptilien.

Geheimdienstler bilden eine verschworene Gemeinschaft, und wie klischeehaft diese Vorstellung auch sein mag, im Roman wird sie durch Darstellung der individuellen Motive, bei denen es nicht nur um Geld und Macht, sondern um grundsätzliche Fragen persönlicher Durchsetzung und Behauptung geht, transparent. Planungs- und Ausführungsphase der Schweinebuchtaktion werden aus Sicht der Verantwortlichen ebenso wie aus der der eigentlichen Söldner immer wieder gestreift, Schuldige werden gesucht und gefunden. Die Söldner rekrutieren sich aus in Florida lebenden Kubanern, und zwei der direkt am Attentat beteiligten Verschwörer sind in Don DeLillos Geschichte sogar Veteranen der Sierra Maestra, wo sie mit Fidel Castro und einer kleiner Gruppe Revolutionäre die landesweite Revolution begannen. Ihr Wechsel auf die andere Seite wird als Enttäuschung über den sowjetischen und kommunistischen Einfluß dargestellt, und Castro ist in ihren Augen ein Intrigant, dem es immer nur um die persönliche Macht ging.

Auch das Innenleben dieser Kämpfer, die als amerikanische Agenten in kubanischen Gefängnissen gesessen haben und sich von aller Welt verraten fühlten, wird nicht als das hirnloser Gewalttäter geschildert, sondern eher im Sinne verschworener Abenteurer romantisiert:

Sie saßen da und redeten über die Gewehre. Wayne war der Überzeugung, daß Gewehre Freundschaft bedeuteten. Das mochte paradox sein oder nicht. Seine Lebenserfahrung und seine Filmkenntnisse sagten ihm, daß Frieden die Bande der Freundschaft verschleißen kann. Das war die Lektion der Samurai. Im Handeln ist Wahrheit, und Wahrheit bleibt auf der Strecke, wenn der Kampf zuende ist und die Dorfbewohner auf die Felder zurückkehren können. Wieder überleben wir, wieder verlieren wir, sagt jemand in den 'Sieben Samurai'.

Die Fahrt des kleinen Teams nach Dallas gerät denn auch zu einem apokalyptischen Road-Movie, dessen düstere Farben vom unheilvollen Kommentar eines Disk-Jockeys einer Radiostation aus Big D illuminiert wird. Und auch Kennedys Fahrt in die City von Dallas wird wie eine Fahrt in Feindesland geschildert. In der Zeitschrift Morning News war eine Anti-Kennedy Anzeige aufgegeben worden, die mit "Willkommen in Dallas, Mr. Kennedy" überschrieben und nach Art einer Todesanzeige schwarz umrandet war. Diese wird ihm vom Straßenrand her entgegen gehalten, und DeLillo schildert noch einige andere Anzeichen für den massiven Unmut, der dem Präsidenten entgegenschlägt.

Lee Harvey Oswald kämpft in diesem Umfeld zwar um einen eigenen Standpunkt, manövriert sich aber schließlich in eine ambivalente Rolle zwischen den Fronten. Als einziger Aktivist der Ortsgruppe New Orleans des Fair Play for Cuba Committee äußert er sich auf der Straße und im Rundfunk für Kuba, gleichzeitig wird er zum Zuträger für FBI und CIA gemacht, die mehr über die Aktivitäten einer speziellen Anti-Castrogruppe herausfinden wollen. Von den Geheimdienstlern wird er praktisch zur Zusammenarbeit gepreßt, da sie ihn aufgrund seines Rußlandaufenthalts sozial demontieren können. Don DeLillo stellt Oswald als eine von verschiedenen Gruppen getriebene Person dar, die hart kämpfen muß, um ihre Ideale zu verwirklichen. Die Vision eines der Initiatoren des Attentats, einen Täter zu konstruieren, nimmt in Form einer literarischen Parabel Gestalt an:

Er würde jemanden konstruieren, eine Identität aufbauen, ein Gewebe aus Überzeugungen und Gewohnheiten, so raffiniert wie möglich. Er wollte einen Mann mit glaubhaften Macken. Er würde einen Raum voller Schatten schaffen, das Zimmer des Attentäters, das die Ermittler schließlich finden würden, um jede Einzelheit aufs genaueste zu untersuchen und allen Freunden, Verwandten, Zufallsbekanntschaften bis in ihre engen Schattenräume nachzuspüren. Unser Leben ist interessanter, als wir glauben. Wir sind Romanfiguren, aber ohne die Verdichtung und den höheren Glanz des Romans. Unser Leben, in all seinen Beziehungen und Zusammenhängen sorgfältig erforscht, ist reich an vielsagender Bedeutung, an Themen und komplizierten Verwicklungen, die wir nie ganz haben sehen wollen. Er würde die geheimen Symmetrien in einem nichtssagenden Leben aufzeigen.

Oswalds Traum besteht darin, nach Kuba auszuwandern, und zu diesem Zweck war er bereits einmal in Mexiko beim kubanischen Konsulat. Die Planer des Kennedy-Attentats konnten es jedoch aufgrund ihrer Verbindungen verhindern, daß ihm ein Visum ausgehändigt wurde, da er für die Öffentlichkeitsrolle beim Attentat bereits fest vorgesehen war. Nachdem man genügend Beweise für seine alleinige Täterschaft gepflanzt hatte, sollte er in einem Kino bei der Flucht vom gleichen Team erschossen werden, das auch das Attentat erfolgreich zu Ende gebracht hatte.

Die eigentliche Tat wird minutiös und unter Verarbeitung bekannter und weniger bekannter Zeugenaussagen beschrieben. Im weiteren Verlauf wird die Ermordung Oswalds durch Jack Ruby, die über die Mafiaverbindungen der Verschwörer zustandegekommen sei, da man die Ermordung im Kino aufgrund der frühzeitigen Verhaftung Oswalds nicht mehr hatte durchführen können, geschildert. Das Buch endet mit der Beerdigung Oswalds. Er wurde unter einem fremden Namen begraben, und lange Zeit wollte sich kein Geistlicher bereit erklären, das Begräbnis abzuhalten.

Die Geschichte und insbesondere die konkrete Verbindung Oswalds zu den Verschwörern ist zu komplex, als daß man sie in kurzen Zügen erzählen könnte, und man muß schon recht aufmerksam lesen und sich viele Personen vergegenwärtigen, um den Aufbau der Handlung zu verstehen. Diese wird nicht etwa in strenger chronologischer Ordnung präsentiert, sondern die Handlungsebene der Verschwörer, die sich auf den Zeitraum von einigen Monaten beschränkt und von Rückblenden auf die Ereignisse durchbrochen wird, die zu dem Attentatsplan führten, wechselt mit der Biographie Oswalds, die sich wiederum aus episodenartigen Schilderungen, Erinnerungen der Mutter, aktuellen Ereignissen und unvermittelten Handlungssprüngen zusammensetzt.

Erschwerend auf das schnelle Verständnis der Zusammenhänge wirkt sich der assoziative Stil des Autors aus, der wichtige Fakten gleichrangig mit Alltagseindrücken und ganz trivialen Impulsen aller Art behandelt. Das macht jedoch auch den Reiz des Buches aus, in dem das Geschehen gerade durch die Aneinanderreihung von Momentaufnahmen und kleinen, abgeschlossenen Szenen Aktualität und Dynamik gewinnt. Diese Machart unterstreicht den synthetischen Charakter der Personen, die bei aller Plausibilität der Motive und Stringenz in der Handlung ein wenig den Charakter archetypischer Desperados aus der Welt konspirativer Mythen und subversiver Existenzen annehmen.

Wenn man die nach wie vor brisante Thematik bedenkt, die vielen Leser, die mit einer überdurchschnittlich emphatischen Rezeption jede Bewertung und Interpretation des Autoren in den Himmel heben oder verdammen werden, dann hat Don DeLillo mit der Romanform einen der wenig noch verbliebenen Wege gewählt, etwas zum Kennedy- Attenat zu äußern, ohne von vorneherein in die Ecke der professionellen Verschwörungstheoretiker gestellt zu werden. Er verwendet an keiner Stelle das Mittel des Tatsachenberichts oder der Reportage, und macht doch nichts anderes, als seine Version der Ereignisse zu schildern. Es werden keine Jahreszahlen angegeben, und die als Kapitelüberschriften fungierenden Orts-, Tages- und Monatsangaben bieten einen eher losen Handlungsrahmen. Dennoch wird zumindest jeder amerikanische Leser genau wissen, an welcher Stelle des zeitgeschichtlichen Dramas er sich gerade befindet.

Der Kunstgriff des Autors besteht insbesondere darin, daß das Buch nicht in erster Linie das Attentat zum Thema hat, sondern sich um die menschlichen Hintergründe der seiner Ansicht nach wesentlichen Akteure bemüht. Im englischen Originaltitel "Libra" bezieht er sich denn auch auf Oswalds Sternzeichen Waage und seine Rolle im Niemandsland zwischen den Fronten, als Objekt vieler Interessen, das in diesen Scharaden alleingelassen um die eigene Position kämpft. Oswald und die anderen Handlungsträger gewinnen ihr Profil vor dem Hintergrund damaliger Ereignisse. So geht der Autor ausführlich auf die Lebensumstände der sozial und ökonomisch unterprivilegierten Bevölkerung Amerikas, auf die Rassenkonflikte und die Instrumentalisierung von Menschen durch fremde Mächte und Interessen ein.

Das Thema Kuba kann als zweites Hauptthema verstanden werden. Gerade heute wird deutlich, wie sehr die Ereignisse vor 30 Jahren auf der Linie einer auf die Demontage Kubas abzielenden US-Politik liegen. Angesichts der uneingeschränkten Aktivitäten gegen die kubanische Revolution kann man sich gut vorstellen, mit welchen wirtschaftlichen und machtpolitischen Mitteln man im Laufe dieser Zeit versucht hat, die Basis für das Gelingen des sozialistischen Experiments zu zerstören. Das kleine Kuba, wie Oswald es im Buch immer nennt, ist ohne den mächtigen Verbündeten Sowjetunion nun so allein, wie Oswald es damals als Marxist in den USA war.

So versetzt Don DeLillo den Leser in die Rolle eines Zeitzeugen, der in der auf die sieben Sekunden des Attentats zustrebenden Handlung eine ganze Epoche amerikanischer Geschichte kennenlernt. Der Autor zeigt einen Querschnitt durch die antikommunistischen und rassistischen Gruppierungen jener Zeit, von der John Birch Society bis zu den Minutemen, und die gegeneinander gerichteten Aktivitäten von Geheimdiensten und konspirativen Organisationen, offizieller Politik und privater Verschwörung bis hinunter zur kleinsten Ebene eines Attentatsversuchs auf den rechtsradikalen General Walker, das Oswald mit einem Freund aus Militärzeiten ausführt, bieten das Bild einer von Schützengräben durchzogenen Gesellschaft. Auch das soziale Elend eines großen Teils der Amerikaner ist nicht etwa ein Phänomen der neunziger Jahre, sondern wird durch die Haus- und Arbeitslosigkeit einiger der Akteure illustriert.

Auch die Freunde Oswalds in Japan leben in den Randbereichen einer ganz dem Profit- und Erwerbsstreben gewidmeten Gesellschaft, und in der Sowjetunion muß man schon zur privilegierten Klasse administrativer Funktionsträger gehören, wenn man dem öden Alltag in einer Fabrik entgehen will. In dieser Welt wird der Kampf um Veränderung und um eine Vision zum einzig interessanten Daseinszweck, und Oswald verschreibt sich ganz der Idee einer einschneidenden Tat, die ihm schließlich in Kuba eine Heimstatt bescheren soll. Doch noch während des Attentats bemerkt er, daß der tödliche Schuß nicht von ihm kam und begreift sofort, zu welchem Zweck er als einzelner Schütze auf Kennedy schießen sollte.

Auf einer weiteren Handlungsebene wird ein pensionierter leitender Analytiker der CIA beschrieben, der in einem Büro voller Akten und Beweismittel die geheime Geschichte des Attentats schreibt. Das ganze findet in einem abgelegenen Raum statt, wo er ohne ersichtlichen Sinn und Zweck im Zweikampf mit der Materialflut letztlich immer nur weitere Fakten sammelt, ohne zu Ergebnissen zu gelangen. Diese Fakten sind jedoch schon für sich genommen interessant, insbesondere die lange Liste der in der Folge des Attentats zumeist gewalttätig gestorbenen Verschwörer und Zeugen. Das auffällige, plumpe Auftreten eines oder mehrerer Doppelgänger Oswalds und die vielen widersprüchlichen Eigenschaften, die ihm zugeschrieben werden, lassen die Akteure und die offizielle Attentatsversion immer fragwürdiger erscheinen:

Er sucht Zuflucht bei seinen Notizen. Die Notizen werden zum Selbstzweck. Branch ist zu dem Schluß gekommen, daß es noch zu früh für einen ernsthaften Versuch ist, aus diesen Notizen zusammenhängende Geschichten zu machen. Vielleicht wird es dafür immer zu früh sein. Weil immer neues Material dazu kommt. Weil laufend neue Menschenleben in den Akten auftauchen. Die Vergangenheit verändert sich, während er schreibt.

Wo immer Zeichen und Spuren interpretiert und gedeutet werden, kann diesen Schluß ziehen, und so wird es sicherlich auch weiterhin viele mehr oder minder abwegige Verschwörungstheorien geben, von dem Wirken einer mit Außerirdischen paktierenden Schattenregierung bis hin zu einer Konspiration aller nur erdenklichen Interessengruppen sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Don DeLillos Roman hat dieses Szenario mit einem unterhaltsam zu lesenden Werk bereichert, dessen historischer Gültigkeit im Sinne besagter Kontingenz des Vergangenen keine Bedeutung zukommt. Was sollte sich schon durch die Verifikation dieser oder jener Verschwörungstheorie ändern?


Don DeLillo:
Sieben Sekunden
Kiepenheuer & Witsch 1991