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REZENSION/035: Siegfried Lenz - Exerzierplatz (Familiengeschichte) (SB)


Siegfried Lenz


Exerzierplatz



Manchem Literaturgourmet wird der Roman "Exerzierplatz" sicherlich zum Exerzitium geraten, enthält er doch nichts von dem, was sich in der schwarzen Kunst gemeinhin als stimulierend erwiesen hat: keinen demonstrativ "unverklemmten" Sex, keine philosophischen Weltbetrachtungen und auch nicht die gewisse Portion Zynismus, die den anspruchsvollen Autor mit dem Flair weltüberlegener Abgeklärtheit umduftet.

Sicherlich, Lenz ist etabliert genug, um nicht mehr auf die Verkaufszahlen schielen zu müssen. Nicht viele Autoren können es sich leisten, einfach nur zu sagen, was sie zu sagen haben. Und noch weniger sind in der Lage, diese Möglichkeit jenseits des Postulierens von Tiefgründigkeiten oder der Selbstberauschung an den eigenen Formulierungen zu nutzen.

Die Geschichte des Exerzierplatzes von Hollenhusen, einem kleinen Dorf in Schleswig-Holstein, ist eigentlich die Geschichte der ostpreußischen Familie Zeller, die am Ende des 2. Weltkriegs als Heimatvertriebene in den Baracken eben jenes Exerzierplatzes einquartiert wurde. Das Ungewöhnliche und Unmittelbare an diesem Roman mag wohl in der Wahl des Berichterstatters begründet sein. Bruno Messmer, der als Jugendlicher auf der Flucht gleich zweimal von Konrad Zeller vor dem Ertrinken bewahrt wurde, wird von seinem Retter in die Familie aufgenommen, nachdem seine Eltern vermißt bleiben.

Weil Bruno die Gewohnheit fremd scheint, einen anderen nicht ernst zu nehmen, sich grundsätzlich überlegen zu wähnen oder sich eifrig soziale wie materielle Vorteile zu sichern, wird er im allgemeinen als einfältiger "Döskopp" abgetan. Und gemäß den Gesetzen sozialer Gegenseitigkeit wird der auch dementsprechend ausgenutzt, herumgestoßen und verspottet. Nur Konrad Zeller, der den respektvollen Beinamen "der Chef" trägt, weil er es trotz zahlreicher Widrigkeiten fertiggebracht hat, den Exerzierplatz in einen gutgehenden Gärtnereibetrieb umzuwandeln, hält mit seiner Frau Dorothea fest zu Bruno. Auch die Zeller-Kinder, vor allem Ina und Max, sind Bruno zugetan, ohne ihn jedoch als gleichrangig zu erachten.

Neben seiner Sichtweise der Ereignisse um die Familie Zeller schildert Bruno auch Wahrnehmungen und Gedanken, die jenen Erwachsenen ungewöhnlich anmuten mögen, die mit ihrer Kindheit gleich eine ganze Reihe von Möglichkeiten zum Abschluß gebracht haben. Ob es der Hakenmann ist, der nach einem nur ihm selbst bekannten Plan in manchen Nächten Spitzen der Jungpflanzen knickt oder der Unsichtbare, der aus dem Nichts heraus Fußspuren hinterläßt, die genauso abrupt wieder enden, ob es die Wurzelleute sind, die Bruno in einem Gesträuch versteckt hält oder die toten Soldaten, deren Stöhnen im Dänenwäldchen manchmal noch zu hören ist - alle diese Gestalten bewegen sich mit selbstverständlicher Anschaulichkeit durch Brunos Welt.

Die Art, zu seiner Umgebung Kontakt zu halten, teilt Bruno zumindest teilweise mit dem Chef. Dieser pflegt sich mit seinen Pflanzen intensiv zu beschäftigen, indem er mit ihnen spricht und ihnen auf eine Weise zuhört, die andere als verschroben belächeln würden, gäbe nicht sein gärtnerischer Erfolg ihm recht. Dennoch ist nur Bruno an seinem umfassenden Wissen auf diesem Gebiet interessiert und Zeller nennt ihn schließlich seinen einzigen Freund.

Der in der Aufbauphase des Betriebs noch recht enge Zusammenhalt der Familie Zeller entpuppt sich als reine Farce, als Konrad Zeller mittels einer Schenkungsurkunde verfügt, daß sein langjähriger Mitarbeiter Bruno nach seinem Tode das fruchtbarste Stück Land aus dem Grundbesitz erhalten soll. Die gesamte Familie Zeller strengt daraufhin ein Entmündigungsverfahren gegen den alternden Chef an, der angeblich nicht mehr weiß, was er tut.

Obwohl die gerichtliche Entscheidung über die Entmündigung noch aussteht, scheint alles, was dem Chef in seinem Leben wichtig gewesen ist - die Gärtnerei, der große Hausstand mit seinen altbewährten Angestellten und nicht zuletzt die Ehe mit Dorothea, die ihm in den schweren Aufbaujahren unverdrossen zur Seite gestanden hat - zu zerbrechen. Bruno, der als Adressat der ihm unwillkommenen Schenkung zum Stein des Anstoßes geworden ist, kann es nicht ertragen, daß ausgerechnet die beiden Menschen, von denen er stets nur Gutes erfahren hat, sich über ihn entzweien. Nach mehr als dreißig Jahren geht er, der noch nie einen Zug betreten hat, mit einer Fahrkarte nach Schleswig in der Tasche eines Nachts auf und davon.

Siegfried Lenz' Bruno ist mehr als ein Anti-Held, er ist ein Mensch, wie nur selten einer beschrieben worden ist, denn er gehört einer aussterbenden Spezies an, die in der heutigen Gesellschaft keine Lobby hat und die nach herkömmlichen Maßstäben nicht einmal eindeutig identifiziert werden kann. Dem "Exerzierplatz" kommt das Verdienst zu, Bruno nicht eingeordnet, sondern selbst zum Maßstab erhoben zu haben. Zu einem Maßstab, dem sein gesamtes soziales Umfeld in seiner scheinbaren Souveränität und Lebenstüchtigkeit nicht standzuhalten vermag. Denn nur Bruno bleibt bis zum Schluß sich selbst treu, obgleich er der Konfrontation mit dem Alptraumgeschöpf menschlicher Blut- und Bodeninteressen aus dem Wege geht. Zumindest seine offenkundige Furcht vor dieser unbenannten Kreatur, die seine Hände zittern läßt und ihm den Hals zuschnürt, beweist, daß er nicht ganz auf deren Seite steht. Bruno hat sich nicht für das soziale Maskenspiel entschieden, unter dem das eigene Gesicht unbemerkt verkümmert, sondern die Schmerzen vorgezogen, die damit verbunden sind, als Dorftrottel angesehen zu werden.

Obgleich Bruno weit davon entfernt scheint, seine vermeintliche Schwäche zur Position zu machen, läßt er doch zumindest ahnen, daß es zwischen Menschen eine Verbundenheit geben kann, von der heutzutage höchstens noch ein heimlicher Döskopp wagt, zu träumen:

Ich weiß nicht, wieviel ein Vormund zu bestimmen hat, doch falls er den Chef einschließen darf, dann bin ich immer bereit, ihm die Türen zu öffnen, so leise, daß es keiner merkt, und wenn er es nur will, würde ich überall mit ihm hingehen. Das müßte der Chef eigentlich wissen, er, der mich besser kennt als jeder andere hier, und der mich noch immer gehört hat, wenn ich ihm dringend etwas mitteilen mußte; auch wenn wir noch so weit voneinander entfernt waren, hat er mich verstanden. Als mich einmal die Kräfte verließen im Großen Teich, habe ich mich einfach an ihn gewandt, habe nicht einmal laut gerufen, sondern nur gedacht, daß er kommen muß, und obwohl er vorher nicht zu sehen war, kam er aus dem Dänenwäldchen gerannt und hatte gleich einen Strick in der Hand und warf ihn mir zu. (S. 77)

Ganz in diesem Sinne kann den Lesern dieses außergewöhnlichen Romans nur gewünscht werden, daß sie hören können, was Bruno ihnen mitzuteilen hat ...


Siegfried Lenz
Exerzierplatz
Familienroman
Hoffmann und Campe, 1985
ISBN 3-455-04213-9