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REZENSION/038: Viktor Nekrassow - Stalingrad (2. Weltkrieg) (SB)


Viktor Nekrassow


Stalingrad



Dieser Roman wird im Untertitel als "Authentischer Bericht eines sowjetischen Offiziers über die Kämpfe um Stalingrad" bezeichnet, und diesem Anspruch wird das Buch voll und ganz gerecht. Wer nun allerdings vermutet, in diesem Werk auf unterhaltsame Weise mit geschichtlichen Fakten rund um Stalingrad und dem damit zusammenhängenden Verlauf des Zweiten Weltkriegs an der Ostfront konfrontiert zu werden, sieht sich unter Umständen enttäuscht, denn es liefert eben keinen historischen Gesamtüberblick in leicht verdaulicher Romanform aus der Sicht eines distanziert- kritischen Beobachters.

Von Überblick kann keine Rede sein, und gerade das macht diesen Roman eines sowjetischen Frontoffiziers so authentisch und wertvoll. Viktor Nekrassow begann nach einer schweren Verwundung in der zunächst erzwungenen Hospitalruhe, sich seine Stalingrad- Erlebnisse von der Seele zu schreiben. Von der ersten bis zur letzten Seite wird der Leser eine gewisse hintergründige Ungeduld nicht los; er möchte wissen, wie's denn überhaupt so steht, wie man sich den jeweiligen Frontverlauf vorzustellen hat, in welchem Zusammenhang die Erlebnisse der Romanfiguren zum Gesamtgeschehen stehen usw. Doch der Roman endet, ohne Antworten auf all diese und ähnliche Fragen gegeben zu haben - sieht man einmal davon ab, daß natürlich deutlich wird, daß die deutsche Armee in Stalingrad geschlagen wurde, weil die Gegenoffensive der Roten Armee am Ende zum Erfolg führte.

Angesichts der unmittelbaren Lebenszusammenhänge der geschilderten Soldaten - und das ist in erster Linie natürlich die autobiographische Figur des Leutnant Kershenzew - spielt selbst dies eine nur untergeordnete Rolle, zumal der Krieg gegen Hitler-Deutschland damit noch lange nicht beendet war. Historiker und Militärexperten mögen darüber streiten, ob die Schlacht um Stalingrad das Ende des deutschen Angriffs einleitete und somit eine kriegsvorentscheidende Wende herbeiführte oder nicht - für die betroffenen Menschen waren solche Fragen und Diskussionen, so kann nach der Lektüre dieses Buches vermutet werden, von nachrangigem Interesse.

Der vermeintliche Überblick, von dessen Existenz nachfolgende Generationen und Geschichtswissenschaftler wie selbstverständlich ausgehen, mag wohl bestenfalls in abstrakter Form auf den Kartentischen der jeweiligen Oberkommandos existiert haben. Mit dem Leben und Sterben der Soldaten und Offiziere hatte das wenig zu tun, und es ist diesem Roman als Verdienst anzurechnen, daß er auf unaufdringliche Weise deutlich macht, wie `klein' die Welt aller am Krieg Beteiligten gewesen sein muß. Die Menschen rechts und links im Schützengraben, der eigene Gefechtsstand, die in unmittelbarer Nähe liegenden deutschen Stellungen, ein feindlicher Panzer, der direkt auf einen zukommt - das war's auch schon. Kaum jemand, der mehr davon wußte, was wann wo geschah und Antwort auf die Frage hätte geben können, ob man nicht längst auf `verlorenem Posten' stand.

Folgender Textausschnitt gibt einen Einblick in diesen normalerweise kaum für erwähnenswert gehaltenen Aspekt:

Wo ist die Front? Vorne, hinten, rechts, links? Existiert sie überhaupt noch? Auf der Karte wird sie gewöhnlich durch eine fette rote Linie bezeichnet und der Gegner durch eine blaue. Gestern war die blaue Linie jenseits des Oskol. Und jetzt? Bis zum Morgen haben die Deutschen wahrscheinlich nichts unternommen. Spähtrupps haben sie gewiß nicht vor zwei Uhr morgens geschickt, erst als sie gemerkt haben, daß wir schweigen. Gegen drei oder vier Uhr mögen sie angefangen haben, Infanterie überzusetzen - vielleicht sogar noch später. Appell, Befehle und ähnliches - so gegen fünf Uhr. Jetzt ist es acht Uhr, fünf vor acht. (...) Warum hört man kein Schießen? Vorgestern noch war Kanonendonner vom Norden her vernehmbar, dann wurde er leiser und verschob sich nach Nordost. Jetzt ist überhaupt nichts zu hören. Stille. (S. 30)

Diese Szene spielte sich noch `vor' Stalingrad ab. Die Rote Armee zog sich bekanntlich immer weiter nach Osten zurück; dicht gefolgt, wie auch hier, von der deutschen Wehrmacht. Nicht zu wissen, wo der Gegner steht, und dennoch überall mit ihm rechnen zu müssen - das war für viele Soldaten bitterer Alltag.

Der fast autobiographisch zu nennende Roman `Stalingrad' schildert den Zweiten Weltkrieg, die Schlacht um Stalingrad, aus der persönlichen Sicht eines russischen Frontoffiziers. Daß es ein Russe ist, der dieses Werk verfaßt hat, spielt dabei keine wesentliche Rolle. Wer etwa meint, die geschilderten Erlebnisse müßten ideologisch verfärbt und mehr oder minder subtil mit `anti- deutschen' Beimengungen befrachtet sein - schließlich handelt es sich um Sowjet-Literatur -, wird feststellen, daß es für diese Vermutung im Roman keinerlei Anhaltspunkte gibt.

Das heißt nicht, daß Viktor Nekrassow `deutsch-freundlich' geschrieben hätte; für ihn war Hitler-Deutschland der zu bekämpfende Gegner. Was den Roman so lesenswert macht, ist der Umstand, daß in ihm zur Sprache gebracht wird, was wohl jeden Krieg ausmacht - und nicht etwa nur den deutschen Angriff gegen die Sowjetunion oder die Stalingrad-Schlacht, über deren besondere Bedeutung noch heute debattiert wird.

Hätte Viktor Nekrassow den Roman als Deutscher geschrieben, so darf spekuliert werden, wäre er nicht viel anders ausgefallen. Die autobiographische Figur - Leutnant Kershenzew - wäre nur eben kein `Genosse Leutnant' gewesen und hätte nicht in einem russischen, sondern in einem deutschen Schützengraben gelegen. Der Roman hat einen eigenständigen dokumentarischen Wert, gerade weil die Kriegserlebnisse menschlich nachvollziehbar, einfühlsam und ohne Zuhilfenahme besonderer dramaturgischer Effekte geschildert werden - Erlebnisse, die in ihrer unaufdringlichen Eindringlichkeit an keine Armee der Welt gebunden sind.


Die Kunst der Kriegführung besteht im wesentlichen darin, gegnerische Heere in eine Lage zu bringen, in der ihnen nichts anderes übrigbleibt als der Angriff, und sei er auch noch so aussichtslos. Keine Armee der Welt wird in ihrer Selbstdarstellung betonen, wie häufig Soldaten im Krieg unter der Androhung, sonst erschossen zu werden, zu Angriffen gezwungen wurden, die einem Selbstmordkommando gleichkommen. Auch Militärexperten werden dieses Tabu im großen und ganzen beachten; wenn solche Schilderungen überhaupt einen Weg von der Front zur Nachwelt finden, dann als `tragische Einzelfälle', nie jedoch als Charakteristika der Kriegsmaschinerie.

Viktor Nekrassow legt in seinem Roman Zeugnis davon ab. Auch seine Schilderung erweckt den Eindruck, hier handele es sich um das persönliche Versagen eines vorgesetzten Offiziers. Worum es ging, ist schnell erzählt: Im Zuge der russischen Gegenoffensive ergeht der Befehl, eine bestimmte von den Deutschen gehaltene Position - Wassertürme - anzugreifen. Im Frontalangriff ist das nicht zu machen, denn die deutschen Stellungen sind mit Maschinengewehren bestückt, so daß die Russen in den fast sicheren Tod laufen würden. Statt dessen wird eine Sprengung der deutschen Verbindungsgräben vorbereitet, um auf diese Weise einen Vormarsch zu ermöglichen. Doch bevor diese Pläne vollständig in die Tat umgesetzt werden können, befielt Stabschef Abrossimow mit Waffengewalt den sofortigen Angriff:

Wir stehen im Laufgraben im Eingang zum Unterstand. Auf einmal werden Schirjaews Augen schmal, die Nase zieht sich kraus. Er packt mich an der Hand. "Teufel, Teufel ... Er kommt schon angetobt." "Wer?" Am Abhang der Schlucht klettert, sich an Sträuchern festhaltend, Abrossimow. Hinter ihm sein Melder. Schirjaew spuckt aus und schiebt die Mütze in die Stirn. Abrossimow schreit schon von weitem: "Wozu, zum Teufel, habe ich dich hierhergeschickt? Zum Schwatzen, was?" Er hat seine Jacke aufgeknöpft und ist ganz außer Atem. "Ich läute, läute ... Niemand kommt ans Telefon ... Wollen Sie kämpfen oder nicht?" Er atmet schwer und leckt sich mit der Zunge die trocken gewordenen Lippen. "Ich frage Sie - wollen Sie kämpfen oder nicht?" "Wir denken, doch", antwortet ruhig Schirjaew. "Dann kämpft, zum Teufel! ... Verflucht noch mal, was steckst du hier, Ingenieur?" ... Und ich muß wie ein Trottel herumlaufen ..." "Erlauben Sie, daß ich Ihnen erkläre", sagt Schirjaew genau noch so ruhig und beherrscht, nur die Nasenflügel beben. Abrossimow läuft rot an. "Ich werde dir was erklären!" Er greift zur Pistolentasche. "Marsch, zum Angriff!" Ich fühle, wie es in mir kocht, Schirjaew atmet schwer, den Kopf vornübergebeut, die Hände zu Fäusten geballt. "Marsch, zum Angriff! Hast du gehört? Noch einmal wiederhole ich es nicht ..." In seinen Händen hält er die Pistole. Seine Finger sind ganz weiß, völlig blutleer. "Ich werde in keinen Angriff gehen, ehe Sie mich nicht angehört haben", sagt Schirjaew mit zusammengebissenen Zähnen, jedes Wort schrecklich langsam aussprechend. Einige Sekunden blicken sie einander in die Augen. Gleich werden sie aufeinander stürzen. Ich habe Abrossimow noch niemals so gesehen. "Der Major hat mir befohlen, diese Laufgräben dort zu erobern. Ich habe mit ihm verabredet ..." "Bei der Armee verabredet man sich nicht, sondern führt Befehle aus", unterbricht ihn Abrossimow. "Was habe ich Ihnen am Morgen befohlen?" "Angreifen." "Wo ist Ihr Angriff?" "Steckengeblieben, weil ..." "Ich fragte nicht, warum." Und wieder plötzlich von Wut übermannt, fuchtelt er mit der Pistole in der Luft. "Marsch, in den Angriff! Werde euch als Feiglinge niederschießen ... Befehle nicht auszuführen!" Mir scheint, daß er gleich hinfallen und sich in Krämpfen winden wird. "Alle Offiziere nach vorn .. Und du selber nach vorn. Ich werde euch zeigen, was das heißt, seine Haut zu retten ... Redet von Laufgräben! ... Drei Stunden ist es her, daß der Befehl erteilt wurde ..." Ich kann das nicht mehr mit anhören. Ich drehe mich um und gehe fort. (S. 279/280)

Wie bei jedem Militär gilt auch in der Roten Armee: Befehl ist Befehl, und dieser Befehl kostet vielen Soldaten das Leben. Leutnant Kershenzew stürmt als einer der ersten nach vorn und stürzt sich ob des sofort einsetzenden Maschinengewehrfeuers in den nächsten Granattrichter. In diesem Trichter bleibt er liegen - zehn Stunden lang, neben sich einen Toten. Er muß mitanhören, wie einige seiner Kameraden bei dem Versuch, zu den eigenen Stellungen zurückzukehren, niedergemäht werden. Gegen Mittag - die Uhrzeit erfuhr er von einem Kameraden im Nachbartrichter - hält auch er es nicht mehr aus. Mit steifgefrorenen Gliedern rennen beide los, werfen sich noch vor der eigenen Stellung zu Boden, um der ersten Salve zu entgehen - und schaffen dann den Sprung in den rettenden Unterstand. Daß die Uhr des Kameraden stehengeblieben war und in nur einer Stunde die hereinbrechende Dunkelheit ihnen eine gefahrlose Rückkehr ermöglicht hätte, könnte man als `Ironie des Schicksals' bezeichnen.

Für Hauptmann Abrossimow hat diese Geschichte ein (militär-) gerichtliches Nachspiel. Major Borodin klagt ihn an:

Der Befehl ist im Krieg heilig. Die Nichtausführung eines Befehls ist ein Verbrechen. Es wird immer der letzte Befehl ausgeführt. Die Leute haben ihn ausgeführt - und liegen jetzt vor unseren Gräben. Und Abrossimow sitzt hier. Er hat seinen Regimentskommandeur betrogen. Er hat seine Machtbefugnisse überschritten. Und die Leute sind umgekommen ... Das ist alles. Meiner Meinung nach genug. (S. 294)

Abrossimow wird degradiert und in ein Strafbataillon versetzt. Es gibt keinen Anhaltspunkt, in diesem Punkt die Authentizität der Schilderungen in Zweifel zu ziehen. An dieser Stelle offenbart sich das `wahre Gesicht' des Krieges. Gerade weil einer der Offiziere für schuldig und damit zum Einzeltäter erklärt wurde, bleibt das Tabu aufrechterhalten, der Schein gewahrt.

Viktor Nekrassow bleibt auch hier seiner Linie treu. Er beschränkt sich auf die Schilderung der damaligen Ereignisse, die ohnehin keinerlei Kommentierung oder dramaturgischer Zuspitzung bedürfen. Es bleibt dem Leser überlassen, daraus Schlußfolgerungen zu ziehen und den Ost-West-Gegensatz einmal beiseite zu lassen. Man könnte sagen, dieser Befehl war besonders grausam, weil die Soldaten ins offene Feuer laufen mußten. Man könnte sagen, die Schlacht um Stalingrad war besonders sinnlos, weil die Stadt längst zerstört war, als noch immer um jeden Stein gekämpft wurde. Man könnte sagen, der deutsche Angriff auf die Sowjetunion war besonders grausam, denn in keinem Land sind im Zweiten Weltkrieg so viele Menschen, so viele Zivilisten umgekommen wie in Rußland - oder man könnte sagen: All das und nichts anderes ist Krieg.


Interessant ist in diesem Zusammenhang sicherlich, daß Viktor Nekrassow, obwohl - oder gerade weil? - er seinen Roman so `unpolitisch' und ohne ideologischen Überbau geschrieben hat, auch im eigenen Land recht umstritten war. `Stalingrad' erschien in der Sowjetunion 1946 (`Vokopach Stalingrada'), auf deutsch erstmals 1948 unter dem Titel `In den Schützengräben von Stalingrad'. Der Autor beschrieb vierzig Jahre später in einem Nachwort zur russischen Ausgabe von 1981, wie zwiespältig sein Buch damals zunächst aufgenommen wurde:

Die literarische Öffentlichkeit reagierte verwirrt. Ein Buch über den Krieg, über Stalingrad, verfaßt von keinem Profi, sondern von einem einfachen Offizier. Kein Wort über die Partei, drei dürftige Zeilen über Stalin ... Ein Unding. Andererseits hatte sich die bestens reputierte `Snamja' und ihr Chefredakteur dafür hergegeben. (S.324)

Ausgerechnet Stalin, der nach den Vorstellungen des Schriftstellerverbandes in diesem Roman viel zu kurz gekommen war, verhalf dem Buch schließlich zum Durchbruch. Der damalige Generalsekretär des Verbandes, zugleich Vorsitzender des Stalinpreis-Komitees, hatte kritisiert, daß der Roman über eine "Betrachtung aus dem Schützengraben" nicht hinausgehe und einen zu engen Blickwinkel habe - und strich Nekrassow von der Kandidatenliste für den Stalin-Preis. Doch der sowjetische Machthaber entschied sich ausgerechnet für diesen Roman, der nach dieser Auszeichnung in der Sowjetunion hohe Verkaufszahlen erreichte und als Vorbild propagiert wurde. Die Anerkennung durch den sowjetischen Staat währte nicht ewig. 1963 warf Chruschtschow dem Schriftsteller "ideologisches Fehlverhalten" vor. Nekrassow protestierte öffentlich gegen Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion. 1972 wurde er aus der Partei ausgeschlossen, 1974 mußte er nach Verhören und Hausdurchsuchungen durch den KGB das Land verlassen. Er starb am 3. September 1987 im Exil.

Dem historisch-authentischen Wert seines Romans konnte der staatliche Gesinnungswandel nichts anhaben. Anfang 1947, noch vor der Preisverleihung, hatte eine Zensorin zu ihm gesagt:

Ein gutes Buch haben Sie geschrieben. Aber wie das - über Stalingrad und ohne den Genossen Stalin? Irgendwie peinlich. Der Inspirator und Organisator aller unserer Siege (...). Sie sollten eine kleine Szene ergänzen im Arbeitszimmer des Genossen Stalin. Zwei, drei Seitchen, mehr nicht.

Diesem Ansinnen hat Nekrassow sich genauso widersetzt wie zehn Jahre später dem dringenden Appell, die zwei, drei Sätze zu streichen, in denen Stalin erwähnt wird.

In der heutigen (westlichen) Geschichtsschreibung paßt der Autor zweifellos gut ins Bild. Aus seinem Buch wird gern zitiert, wenn es um Stalingrad geht, so etwa in einer 1992 erschienenen Dokumentation:

"Wir kamen nach Stalingrad als fast Zerschlagene und haben trotzdem fünfeinhalb Monate ausgehalten. (...) Sicher, wir waren schwächer, auch technisch schlechter ausgerüstet. (...) Aber verteidigt haben wir unsere Häuser, unsere Familien." (Entscheidung Stalingrad - Der verdammte Krieg, von Guido Knopp, Bertelsmann Verlag, S. 8)


Viktor Nekrassow
Stalingrad
2. Weltkrieg
Aufbau Taschenbuch Verlag, 1992