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REZENSION/044: Boris Chasanow - Der Zauberlehrer (Rußland) (SB)


Boris Chasanow


Der Zauberlehrer



Derjenige Leser, der eine ethno-magische Beschreibung eines Schüler-Zauberlehrer-Verhältnisses à la Castaneda erwartet, sieht sich enttäuscht. Der Roman spielt im tiefsten Rußland und von Zauberei ist im Grunde nichts zu finden - es sei denn, man spinnt sich seinen eigenen Zauber.

Die Hauptfigur Kusma Kusmitsch Fotijew wird auch als "Heilslehrer" bezeichnet. Ein Titel, der ihn treffender charakterisiert und die Erwartungen des Lesers in Bahnen lenkt, die dem Romangeschehen eher entsprechen, wenn auch nicht gerecht werden.

Inwieweit das gesamte Geschehen sowie die Hauptperson authentisch zu nennen sind, läßt sich nicht belegen. Da die Aufzeichnungen als Roman und nicht als dokumentarischer Bericht herausgegeben wurden, darf man Zweifel hegen. Gleichwohl ist der Herausgeber in seinem Vorwort bemüht, dem Ganzen Authentizität zu verleihen. Er beschreibt, wie sehr das Manuskript bearbeitet werden mußte, da über den Erzähler nur das im Roman Preisgegebene bekannt wäre. Der Autor Boris Chasanow, der nicht mit dem Erzähler identisch sei, hätte das Manuskript nur zur Durchsicht erhalten.

Entspricht das Vorwort nun den Tatsachen oder entstammt die Idee allein der Phantasie des Romanautors Boris Chasanow, der in Leningrad geboren, in Moskau Altphilologie studierte und 1949 zu acht Jahren Zwangsarbeit wegen "antisowjetischer Propaganda" verurteilt wurde? Erstaunlicherweise wird der Zustand der leichten Irritation, der durch diese Fragen hervorgerufen wird, während des Romans weiterhin genährt.

Die im Anhang aufgeführten Traktate könnten, nach Angaben des Herausgebers, möglicherweise von Kusma Kusmitsch Fotijew selbst oder einem seiner Getreuen geschrieben worden sein.

Die Traktate legen jedoch die Vermutung nahe, daß dem Verfasser - wer immer das auch gewesen sein mag - eher eine gekonnt angebrachte Gesellschaftskritik wichtig war, als die Verbreitung einer Heilslehre. Die Annahme des Herausgebers, das Manuskript sei in den sechziger oder siebziger Jahren entstanden, stützt diese Vermutung insofern, da die angeschnittenen Themen, wie Christentum und Esoterik, freie Liebesbeziehungen und Homosexualität sowie Überwachung und Behördenwillkür, im Rußland jener Jahre unter strengstem Tabu standen.

Im ersten Kapitel beschreibt der Erzähler seine Beweggründe für den abgegebenen "Bericht". Sein Anliegen ist es, die Lügengeschichten beziehungsweise die Verunglimpfungen, die über den Heilslehrer Kusma Kusmitsch Fotijew in der Presse verbreitet wurden, durch eine Wahrheit aufzudecken, die allerdings nicht immer stimmig sei.

Eigentlich müßte die Einleitung bereits durch die Andeutung der Umstände (des auf den Bahngleisen gefundenen Leichnams, des geheimen Plans der Katakomben sowie seine eigene selbstvergessene Hingabe an die Aufklärung) eine Spannung hervorrufen. Aber die Leidenschaftslosigkeit, mit der das Geschehene wie durch ein verkehrt herum durchschautes Fernglas betrachtet wird, beläßt den Leser in seiner Distanz.

Die Reise führt ins tiefste Rußland, in eine verlassene Stadt namens N mit einem rostigen Bahnhof.

Traumhaft unwirklich schildert der Erzähler den Schmutz und das Verlorensein, das jedoch auch ein wenig Zuversicht in sich birgt. Er gelangte zufällig in diese abgelegene kleine Stadt, die durch einen Jagdunfall im elften Jahrhundert entstand. Der örtliche Fürst ließ an jener Stelle ein Kloster bauen, dessen Ruinen bis heute erhalten blieben und dessen Fortbestand sich der "Heilslehrer" und seine Getreuen mit der "Gesellschaft zum Schutz des Altertums" unter anderem als Ziel setzten.

Skurril und unheimlich zieht eine Atmosphäre auf, in der der Erzähler Traum und Wirklichkeit ineinanderwebt, ohne sich in Verzerrungen zu verlieren. Die Angst vor Überwachung, vor Nachfragen, die er kaum beantworten kann, ohne suspekt zu wirken, wie soeben Geträumtes, das sich mit geringen Einbußen durchaus nachvollziehbar realisiert, schaffen letztlich ein Band, das den Leser zu fesseln vermag.

Dennoch bleibt der Titel irreführend. Nur weil der Bettler- Philosoph K. K. Fotijew eine Theorie aufstellt, in der er astronomische Zahlenübereinstimmungen mit den Ereignissen der Evangelien gleichsetzt, quasi ein Welthoroskop erschafft, ist er noch kein Zauberlehrer. Die weiteren Ausführungen mit "Schülern" oder anderen Diskussionspartnern sind eher metaphysischer Art. ("Das Bewußtsein ist Energie." S. 180, Kap. XIV)

Man sieht sich also in seinen Erwartungen getäuscht, sollte man auf eine zauberische Auseinandersetzung oder ein magisches Lehrbeispiel hoffen. Doch der Autor bewerkstelligt es, eine unwirklich-wirkliche Atmosphäre herzustellen. Wiewohl er Realistisches erzählt, gelingt es ihm, den Leser in die Unsicherheit zu führen, was wahr und was imaginiert ist. Gleichzeitig bringt der Autor den russischen Alltag nahe - in seiner Enge und mit seinen Unzulänglichkeiten. Das macht einen Großteil der Sympathie aus, die dann doch langsam für das Romangeschehen erwacht.

Seinsfragen mischen sich mit Alltäglichem. Auf die einfache Frage eines Rentners: ""Was sind sie eigentlich?"", antwortet er halb im Scherz, halb philosophisch: ""Was ich bin? Wissen Sie, wenn Sie mir antworten könnten, was ich bin, dann würde ich Ihnen hundert Rubel zahlen."

"Hast du die denn?" fragte er und löste sich in Luft auf." (S. 38, Kap. III)

Der Erzähler entdeckt den Sinn des Lebens, den er allerdings nicht im Einzeldasein erkennt, sondern im allgemeinen Dasein, und zwar in der Einbindung an "etwas Unbestreitbares ..., etwas Höheres, das gemächlich und unmerklich auf ein fernes Ziel zuströmt". Das Dasein eines einzelnen sei "an sich sinnlos und chaotisch", der Wert "nur vom Standpunkt dieses höchsten Sinns aus und in Anbetracht dieses fernen Ziels" zu bestimmen. (S. 39, Kap. III)

Sein Fazit aber:
Wie sich der Staat nicht einem einzelnen Menschen zum Opfer bringen kann, sondern vom Menschen fordert, daß er bewußt in ihm aufgeht und sich um seinetwillen opfert, so kann auch der Sinn des Daseins nicht in Millionen Teilchen zerspalten werden. (S. 39, Kap. III)

rührt wohl eher von der Propaganda der kommunistischen Parteidoktrin, denn man kann die Betrachtung nicht vollends ernstnehmen, tritt doch eine gewisse Ironie zutage, die Mißtrauen gegen Staat und Behörde durchklingen läßt.

Die Kritik an den ausführenden Organen des opferempfangenden Staates klingt an unbedeutender Stelle leise durch, an der der Erzähler schreibt:

Vielleicht übte das, was sonst immer mein Verhältnis zu den Behörden trübte, nämlich mein intelligentes Aussehen, diesmal einen günstigen Einfluß aus. (S. 44, Kap. IV)

Deutlicher wird er, wenn er bemerkt "... ein so intensives intellektuelles Leben anzutreffen, war ich doch gewohnt, mich meiner geistigen Interessen zu schämen, ja, sie sogar zu verbergen. Bekanntlich mache sie das Leben sehr kompliziert. Von der aggressiven Volkstümlichkeit der Obrigkeit will ich gar nicht reden, die übrigens völlig zu Recht in einem Menschen, der fehlerlos schreiben und sich sprachlich richtig ausdrücken kann, ein feindliches Element sieht." (S. 108, Kap. X) Amüsant schildert der Erzähler auch seinen Argwohn Formularen gegenüber, ahnt die Falle der sich widersprechenden Fragen, die den Ausfüllenden als Existenz mit minderwertigen Eigenschaften entlarven soll.

Die Kombination von Bettler und Gelehrtem, wie sie uns in der Philosophie häufiger begegnet, ist auch in diesem Roman thematisiert. Die Idee des Erzählers dem Bettlertum einen Platz in der Gesellschaft einzuräumen, den es eigentlich nicht einnehmen darf, gelingt ausgezeichnet. Der Erzähler, ein intellektueller Illegaler und Randständiger, will in die Zunft der Bettler eintreten. Doch mit seinen gesellschaftlich geprägten Gerechtigkeitsvorstellungen scheitert er kläglich. Er wird von anderen Bettlern verprügelt und ausgeraubt. Unter dem Schutz seines Lehrers K. K. Fotijew versucht er - recht halbherzig -, das Handwerk zu erlernen. Daß Schutzgelder an den dortigen Popen zu zahlen sind, erstaunt ihn.

Die Auseinandersetzungen und Gespräche mit dem "Heilslehrer" sind rar gestreut. Er selbst taucht in dem ersten Viertel des Buches lediglich zweimal auf. Und auch im restlichen Teil des Romans sind die Auftritte des "Zauberlehrers" recht spärlich gehalten.

Die Hauptperson ist und bleibt der Erzähler, dessen bisweilen depressive Gedanken aufgrund seiner unbefriedigenden Alltagssituation zwar treffende Gesellschaftskritik formulieren, aber seine Beziehungsprobleme erheblich in den Vordergrund drängen und dadurch den an Zauberlehren interessierten Leser gefangennehmen und gleichzeitig enttäuschen.

Die Textstellen, die im Ansatz Magie erwähnen, sind nicht häufig. K. K. Fotijew spricht gelegentlich über althergebrachte Magiethemen:

Die erotische Terminologie der Alchemie impliziert ja gerade die Überwindung des Niedrigen im Menschen. ... Die Romanze der Seele wird auf die Stoffumwandlung projiziert. Schließlich der sich in den Schwanz beißende Uroboros. Ist das etwa nicht der direkte Hinweis auf die Rückkehr zu den erzeugenden Ursprüngen? (S. 127, Kap. X)

Eines muß man dem Erzähler (oder den Reden des "Zauberlehrers") jedoch zubilligen: gleichgültig, ob es absichtlich untergebracht wurde oder ob es zufällig aus der geschickt zusammengewürfelten Konstellation von Inhalten der Alchemie, Wissenschaft, Christentum und Philosophie zustande kam - er trifft mit einem Satz ein grundmagisches Anliegen:

... in den natürlichen Stoffkreislauf einzugreifen, die Prozesse der Zersetzung rückgängig zu machen, dem Toten Leben einzuhauchen und das Zerfallene wiederherzustellen, was glauben Sie, ist das denn so phantastisch? (S. 127, Kap. X)

Die Machenschaften der Menschen, ihre Intrigen, ihre Autoritätshörigkeit, ihre Liebe, ihre Hoffnung, ihr Realitätssinn wie auch ihre Alltagsbewältigung - das alles bringt der Autor zu Papier. Ebenso die Probleme der Intellektuellen in Rußland, ihren Konflikt zwischen der Auseinandersetzung mit der eigenen Entwicklung, Parteidoktrin und Behördenwillkür. Das macht den Stoff sympathisch, bietet intellektuellen Ersatz im Rahmen des weithin Bekannten und versöhnt schließlich den erbitterten Leser auf eine angenehm dezente Weise.

Wer sich mit der Materie der Zauberei bereits eingehender beschäftigt hat, wird sich allerdings nur allein aus der traumverlorenen Weise der Erzählung und dem mitunter theoretisch- abgehobenen Gedankengut ein wenig "Zauber" herausfiltern müssen.


Boris Chasanow
Der Zauberlehrer
Aus dem Russischen von Annelore Nitschke
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1996
ISBN 3-421-05038-4