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REZENSION/056: Kai Meyer - Der Schattenesser (Magie) (SB)


Kai Meyer


Der Schattenesser



Prag im Jahre 1620 - Krieg, Pest, Mord, Kannibalismus und unheimliche Wesen durchziehen diesen mystisch wie auch historisch angelegten Roman. Angesiedelt nach der Schlacht zwischen dem Heer der katholischen Liga und der Armee Friedrichs von der Pfalz entsteht vor dem Hintergrund der abgeschotteten Hauptstadt Böhmens ein Roman, der in seiner Grausamkeit und Phantastik stark einem Märchen ähnelt.

Der junge Autor flicht aus Legenden der jüdischen Mystik und dem Volksglauben verschiedenster kultureller Verbänden eine Geschichte, die durch ungewöhnliche Ideen zwar verblüfft, aber nicht fesselt.

Obwohl die Geschichte vor der altertümlichen Kulisse Prags spielt, steigt vor dem geistigen Augen des Lesers nicht die dazugehörige Atmosphäre auf. Durch knappe, fast zeitlos wirkende Beschreibungen und moderne Umgangssprache fördert der Autor das Gefühl, der Roman spiele in der Jetzt-Zeit und nicht vor Jahrhunderten während des 30jährigen Krieges.

Ein junges Mädchen ist die Hauptfigur, die eine Aufgabe von kosmischen Ausmaßes zu bewältigen hat. Sie kämpft gegen den Schattenesser, einem von Gott gesandten Engel, der sich ihrer und vieler anderer Seelen bemächtigen will, indem er ihre Schatten stiehlt. Nach einem alten Volksglauben ist der Schatten Wohnsitz der Seele sowie des Schutzengels der Menschen.

Ein Golem, der durch einen Fluch zum Helfen verdammt, aber gleichzeitig an sein Versteck gebunden ist; ein Alchimist, der viele Geheimnisse kennt, aber kaum das Geringste zu bewirken vermag; ein Kult von leicht zu täuschenden "Hühnerweibern"; ein Unsterblicher, der als erster Mensch die Angst besiegte und eine alte Hexe, die kannibalistische Rituale vollführt, ziehen zwischen Schauplätzen brutaler Kriegsverbrechen und den Todeskarren der an der Pest Verstorbenen am Leser vorüber.

Zwar konstruiert der Autor hin und wieder eine Gelegenheit, in der er durch weitere bizarre Gestalten ein wundersames Zartgefühl erwachsen läßt, doch eine gewisse kühle Distanz bleibt bis zum Ende des Romans erhalten.

Da begegnet man beispielsweise einem großen, stummen Schlachter, dessen Vater ein verwachsener Gnom ist. Rührend, wie der riesige Bursche beim Schlachten einen kleinen Vogel in der linken Hand hält, um nicht so heftig mit der rechten zuzuschlagen. Wenn man allerdings glaubt, er übe Gewalt auf das Vögelchen aus, so täuscht man sich. Als dieses frei fliegen darf, setzt es sich auf die Schulter des Schlachters und kehrt bald schon freiwillig in die Faust des Stummen zurück.

Wenngleich sich einige Wesen in der Geschichte nicht ohne Zauberei bewegen könnten, bleibt die Darstellung von Zauberei in diesem Zusammenhang ebenso wie sie stets im Märchen abgehandelt wird. Sie ist verantwortlich für all die kuriosen Gestalten und wirkenden Kräfte, unerreichbar wie auch selbstverständlich - eben märchenhaft.

Aufgrund der Rahmenhandlung könnte der Fehler unterlaufen, den Roman in eine Reihe mit den Erzählungen Gustav Meyrinks zu stellen, doch diese Qualität präsentiert der Roman nicht. Allerdings weckt er das Verlangen, sich wieder einmal dem unerreichten Altmeister zuzuwenden.


Kai Meyer
Der Schattenesser
Rütten & Loening, Berlin 1996
ISBN 3-352-00524-9