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REZENSION/102: Licht auf zerborstenen Säulen - Attia Hosain (Indienroman) (SB)


Attia Hosain


Licht auf zerborstenen Säulen

Übersetzt aus dem Englischen von Anna Winterberg



In ihrem bereits 1961 in London unter dem Titel "Sunlight on a Broken Column" erschienenen Roman "Licht auf zerborstenen Säulen" beschreibt Attia Hosain (1913-1998), in Anlehnung an die eigene Biographie, ein Stück Lebensweg der moslemischen Inderin Laila, eines verwaisten Mitglieds einer wohlhabenden Großgrundbesitzerfamilie.

Laila, die sowohl an den Ansichten ihres streng religiösen Großvaters als auch ihres britisch-konservativ orientierten Onkels eine Menge auszusetzen hat, vermeidet es tunlichst, vor der Familie ihre Meinung zu äußern. Denn daß selbst Verwandtschaftsbande ein weibliches Familienmitglied nicht schützen, wenn es eines Regelverstoßes bezichtigt wird, erlebt sie hautnah am Beispiel ihrer Kindheitsgespielin Nandi, der Tochter des Wäschers im Haushalt ihres Großvaters.

Nandis Vater Jumman genügt die Aussage des Chauffeurs der Familie, eines von Nandi zurückgewiesenen Verehrers, daß seine Tochter mit dem Hausreiniger in der Garage für einige Augenblicke allein gewesen sei, um sich von ihr abzuwenden:

"Ich wollte ihm nur ein Hemd geben, das er vergessen hatte", jammerte Nandi.

"Sei still, du schamloses Flittchen!" donnerte Jumman. "Ich habe ihr verboten, allein in die Männerquartiere zu gehen. Jetzt mußte ich die Demütigung ertragen, daß der Fahrer sie nach Hause schleifte, und mir seine Anschuldigungen anhören. Ich kann jetzt nicht mehr in demselben Haus wie die beiden leben."
(S. 25)

Nandi, die daraufhin auch von Lailas Onkel als Schlampe und Dirne beschimpft wird, wagt, trotz ihrer vergleichsweise untergeordneten und abhängigen Stellung im Haushalt der Familie, gegen den Onkel aufzubegehren:

"Schlampe? Dirne? Und gerade Sie sagen das, Sie, der mich dazu gemacht hätte, wenn ich es Ihnen erlaubt hätte?"
(S. 25)

Nichts weiter als ein kaum hörbares "Ich hasse dich" bringt Laila angesichts der offenkundigen Doppelmoral ihres Onkels hervor, der Nandi für ihre "unverschämte" Erwiderung vor allen Leuten auch noch mit einem Stock züchtigt.

Mit sich und ihrer Umgebung hadernd, vollzieht Laila auf 400 langen Seiten den Balanceakt zwischen der Auflehnung gegen das Althergebrachte und der Suche nach neuen sozialen Bindungen, von denen sie sich als Frau mehr persönlichen Freiraum und Einfluß verspricht. Ein radikales Aufbegehren gegen ihre unfreie Lebenssituation kommt für sie allerdings nicht in Frage. Das diesbezüglich weit kompromißlosere Vorgehen anderer Frauen in Lailas Umfeld, wie etwa das von Nandi oder von einer ihrer Kommilitoninnen, Nita Chatterji, rationalisiert die Protagonistin als deren spezifische Charaktereigenschaft. Daher nimmt sie es auch nicht übel, wenn sich beispielsweise Nita zu ihrer Anpassungsbereitschaft recht unverblümt äußert:

"Dein Problem ist, daß du dich im Kreise drehst, denn du bist orientierungslos. Du schwankst oder neigst dich rückwärts und meinst, du seiest flexibel und gerecht, aber in Wirklichkeit bist du unsicher." [...]

Bald nachdem wir einander kennengelernt hatten, fragte sie mich: "Was wirst du tun, wenn du mit dem Studium fertig bist?"

"Ich weiß es nicht."

"Wie typisch für deine Klasse! Du meinst, ein Abschlußzeugnis sei ein Juwel, ein weiteres Schmuckstück in deiner Mitgift!"

"Unsinn! Ich denke, daß mich die Ausbildung zu einem besseren Menschen macht."

"Ich fürchte, ich kann mir diese abstrakten Ideale nicht leisten. Meine Ausbildung soll mir helfen, meinen Lebensunterhalt zu verdienen, daher muß ich konkrete Pläne machen. Ihr seid doch alle gleich: Ihr habt soviel Geld, daß es euch wie in Watte gewickelt vor dem Leben schützt."
(S. 150)

Der materielle Wohlstand, an dem Laila als Familienmitglied teilhat und dem schon damals in Indien die bitterste Armut gegenüberstand, ist sicher ein wesentlicher Grund für ihre Anpassungsbereitschaft und Ängstlichkeit, was Laila sich jedoch nicht eingesteht. Sie geht nie so weit, sich zu fragen, weshalb sie sich die zahllosen Diffamierungen als Frau überhaupt gefallen läßt. Lieber versteckt sie sich hinter der Frage, was sie tun soll, als mit einer eigenen Tat zu beginnen, wie es ihr selbst von ihrem späteren Ehemann Ameer geraten wird:

"Ich möchte weg von all dem!"

"Aber du kannst von deinen Gedanken nicht weglaufen, so wie du nun einmal bist!"

"Was soll ich tun?" fragte ich ungeduldig.

"Tue etwas, irgend etwas, sonst wirst du immer ruhelos und verwirrt sein!"

"Du kannst leicht 'tue etwas' sagen! Was kann ich denn tun?" fragte ich ärgerlich, "was kann ich denn in meiner Lage tun?"
(S. 308)

Auch die Tatsache, daß Laila schließlich Ameer heiratet, der ihrer Familie nicht genehm ist, hat mit ihrer Emanzipation als Frau wenig zu tun. Durch die Heirat verläßt sie ihr soziales Umfeld und flüchtet in ein anderes, ohne ihren eigenen Standpunkt in dem Konflikt nennenswert gefestigt zu haben. Ihr Wunsch nach Orientierung bleibt ungebrochen:

"Ich habe keinen Mut, Ameer. Ich habe nie etwas getan, woran ich wirklich geglaubt habe; vielleicht war der Glaube nicht stark genug. Ich durfte nie Entscheidungen für mich selbst treffen, sie wurden für mich getroffen. Am Ende werden nicht nur die Handlungen eines Menschen lahmgelegt, sondern auch sein Geist. Manchmal möchte ich schreien: 'Ihr erdrückt mich, ihr zerstört meine Persönlichkeit!'"
(S. 334)

Die Heirat ohne Einwilligung der Familie ist Laila ohnehin nur aufgrund der zur selben Zeit in Indien stattfindenden sozialen Umbrüche möglich. Sie findet in einem bereits vorhandenen Freiraum statt, der durch die Neuordnung der Gesellschaft im Zuge der Kämpfe um die Unabhängigkeit des Landes entstand. Die Eröffnung dieses Freiraums ist zum Teil auch der von Gandhi geforderten Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frau zu verdanken.

Insofern sich Lailas Lebenssituation also für sie positiv verändert, liegt das hauptsächlich an der Auflösung gesellschaftlicher Regeln im Zuge des Befreiungskampfes und am sich langsam durchsetzenden Einfluß des britischen Lebensstils bei wohlhabenden indischen Familien wie der von Lailas Onkel, hat aber mit einer konsequent-emanzipatorischen Handlungsweise der Protagonistin nichts zu tun.

Auch als Laila mit dem inzwischen als Politiker erfolgreichen Ameer ins Ausland geht, kann ihr das Leben dort offenbar nicht ganz erfüllen, was sie sich ersehnt. Nach Jahren kehrt sie, unterdessen Mutter und verwitwet, wieder zurück zu einem Familientreffen in das alte Haus ihrer Jugendzeit, das verkauft werden soll.

Das inzwischen verfallene Haus wird zum Sinnbild für Lailas auseinandergebrochene Familie, der zuletzt ihr Onkel Hamid vorstand. Während des Gesprächs mit einigen anläßlich des Hausverkaufs zurückgekehrten Familienmitgliedern wünscht Laila sich für einen Moment sogar ihren Onkel zurück:

Ich dachte, daß jeder von uns Onkel Hamid so vermißte wie ich, denn er hätte uns vielleicht mit seiner unlogischen, aber jetzt willkommenen Autorität zusammengehalten.
(S. 358)

Dieser Wunsch nach Autorität und Anleitung begleitet Laila, wenn auch nicht so klar formuliert, bis zum Ende des Buches. Sie wünscht sich einen Rahmen, in dem sie sich als Frau relativ frei bewegen, an den sie sich aber gegebenenfalls auch anpassen kann. Daß sie sich zuletzt Asad anschließt, einem entfernten Verwandten und Anhänger der Politik Gandhis, deutet an, daß sie durch die Wahl eines Ehemanns adäquater Lebenseinstellung diesen Rahmen gefunden zu haben glaubt.

Asads Stimme rief: "Laila, wo bist du?" Ich stand schnell auf und wischte mir die Augen, als ich seine große schlanke Gestalt an der Tür sah. "Laila", fragte er und blinzelte in die Dunkelheit, "was hast du so lange in dem leeren Haus gemacht?"

"Ich habe auf dich gewartet, Asad. Jetzt bin ich bereit zu gehen."
(S. 405)

In jedem Fall verlangt Attia Hosains Roman vom Leser die Bereitschaft, sich mit den durch ihre Romanfiguren repräsentierten Einstellungen auseinanderzusetzen. Wer ein orientalisches Liebesdrama mit Bollywood- Flair erwartet, sollte das Buch lieber gleich beiseite legen, zumal die Liebesbeziehung zwischen Laila und Ameer als solche von der Autorin nur randläufig und eher unter gesellschaftlichen denn unter emotionalen Aspekten abgehandelt wird. Auch hinsichtlich des Sprachstils hat der Roman keinerlei Indienromantik zu bieten. Daß Attia Hosain ihn nicht in ihrer Muttersprache verfaßte, sondern sich des Englischen bediente, könnte für die etwas unbeholfene Ausdrucksweise verantwortlich sein, muß möglicherweise aber auch der Übersetzerin ins Deutsche angelastet werden.

Dennoch - wer an Fragen zum Scheitern emanzipatorischer Bestrebungen und/oder an den gesellschaftlichen Begleiterscheinungen des Abspaltungsprozesses Pakistans von Indien interessiert ist, findet in Attia Hosains Roman einen anregenden und nachdenklich stimmenden Lesestoff. Empfehlenswert ist der Roman auch für alle, die sich nicht davor fürchten, am Beispiel der Protagonistin Laila während der Lektüre bei sich selbst auf Spuren des ureigenen Opportunismus und jener wohlkalkulierten Standpunktlosigkeit zu stoßen, die Laila mit ihrer Frage "Was kann ich denn in meiner Lage tun?" so trefflich artikuliert.

26. April 2007


Attia Hosain
Licht auf zerborstenen Säulen
Übersetzt aus dem Englischen von Anna Winterberg
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006
412 Seiten
ISBN 10: 3-421-04238-1
ISBN 13: 978-3-421-04238-5