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REZENSION/118: Andrew Brown - Würde (Krimi, Südafrika) (SB)


Andrew Brown


Würde



Es wäre schade, an dieser Stelle zuviel über dieses Buch zu verraten, weil das einen Teil der Spannung nehmen könnte. Ebenso bedauerlich wäre es allerdings, es aus diesem Grund nicht genügend zu würdigen, denn es ist in jeder Hinsicht die Lektüre wert. Ort der Handlung ist zwar Südafrika, der Autor Südafrikaner mit Antiapartheid-Vergangenheit, doch muß man realisieren, daß sich eine ähnliche Geschichte genausogut in einem anderen Land, auch hierzulande also, hätte zutragen können. Natürlich erfährt man auch einiges über die Verhältnisse im Land selbst. Wer allerdings einen Afrikaroman mit lokalem Sehnsuchtskolorit à la Stefanie Gercke erwartet, das sei hier gleich gesagt, wird glücklicherweise absolut enttäuscht.

Ifasen und Abayomi, ein junges Ehepaar mit Kind aus bessergestellten Verhältnissen, flieht vor politischer Verfolgung aus Nigeria und findet unter Inanspruchnahme eines Schleppers Zuflucht im Kapstaat. Doch seine Hoffnung auf ein ruhiges und sicheres Leben dort erfüllt sich nicht. Fremdenhaß spielt hier zwar eine Rolle, letztlich sind es aber wirtschaftliche Interessen im Zwielicht zwischen organisiertem Verbrechen und Korruption und eine vom Autor plausibel konstruierte Verkettung verhängnisvoller Ereignisse, die für dieses Paar die Katastrophe herbeiführen.

Im Vordergrund der Geschehnisse steht ein südafrikanischer Anwalt, Richard, Mitglied einer angesehenen Kanzlei, ein an Routine erstickender Familienvater mittleren Alters mit Luxuskarosse, der als Strafverteidiger einen einflußreichen Gangsterboß unangenehmster Gangart zum Klienten hat und dadurch selbstverschuldet in manch mißliche Situation gerät. Ausgerechnet dieser rät ihm, endlich einmal wieder ein bißchen zu leben und Entspannung in einem ganz bestimmten Massagesalon eindeutigen Charakters zu suchen. Hier trifft Richard auf Abayomi, die das Überleben ihrer Familie als Prostituierte mit Niveau sichert und bei ihm mit ihren Künsten langverdrängte Sehnsüchte und Empfindungen wachruft. Das Gefühl, mit seinem bisherigen Leben wesentliches verpaßt zu haben, das ihn schon geraume Zeit den Alltag über begleitet hat, wird nun zur Gewißheit und führt ihn auf bisher ungekannte und für ihn abenteuerliche, aber auch gefährliche Pfade.

Er schien bislang, wie die meisten Menschen in seiner Umgebung, selbstzentriert unter einer Art Glocke zu leben, die ihn vor ungewünschten Zusammenstößen mit der gesellschaftlichen Realität, wie sie die Schlechtergestellten trifft, schützte. Im Verlauf der Handlung verliert er zunehmend diesen Schutz, was zu schmerzhaften, aus der Sicht des Autors wohl allerdings nötigen Erkenntnissen führt. Deutlich wird, wie abgeschottet die Oberschicht gegenüber den Nöten der einfachen Menschen lebt. Eine ganz typische Situation, die an einen literarischen Klassiker erinnert, ist eine der unabwendbar öden, von Richards Frau mit immer neuen Gästen veranstalteten Dinnerparties, auf der der rassistische Diskurs eines der Gäste auf eine Mischung von Zustimmung und betretenem Schweigen stößt. Hier ist man unter sich in der besseren Gesellschaft. Hier ist man sich einig, auch wenn es politisch vielleicht nicht korrekt sein mag, über die kleinen fleißigen Asiaten, die weltweit einsetzbar sind, und die faulen afrikanischen Migranten, die Drogen und Frauen verkaufen, zu schwadronieren. Richard, den diese Einstellung abstößt, fällt eher versehentlich aus der Rolle und entzieht sich durch die Flucht. Das ist einer der Wesenszüge, die der Autor ihm mitgibt. Seine Selbstzweifel und ein Mangel an Skrupellosigkeit kommen dazu, und diese ermöglichen unter anderem die weitere Entwicklung.

An Abayomis Seite erhält Richard Einblick in das schwierige Leben der Nigerianer in Südafrika und die repressiven Verhältnisse in ihrem Heimatland. Er hat sicherlich den einen oder anderen Charakterzug vom Autor selbst geerbt und wirkt in seinem Denken und Handeln vielleicht etwas naiv, aber real und nachvollziehbar. Auf einem Fest der nigerianischen Gemeinde erfährt er eine offene und ungezwungene Gastfreundschaft, die seine Zweifel an seinem bisherigen Leben mit anspruchsvoller Frau, kultiviertem Heim, gezwungenen Dinnerpartys und Konkurrenzdruck in der Kanzlei nur verstärkt. Dem Neugeborenen wünscht er dann auch, als man ihn, wie jeden Gast, um einen persönlichen Segen für das Kind bittet, ganz unverstellt: "Mögest du mit mehr Klugheit und Neugier gesegnet sein als ich". Als Abayomi, deren Mann durch eine falsche Anschuldigung ins Gefängnis geraten ist, den Anwalt verzweifelt um seine Hilfe bittet, willigt er ein. Die Ehe hatte sie ihm bisher allerdings verheimlicht, und er stürzt aus seiner erregenden Gefühlsverwirrung in eine Realität, die sich mit Fortschreiten der Handlung zunehmend in einen Alptraum verwandelt.

Das Buch hat alles, was auch einen Filmthriller packend machen würde. Neben der spannenden Handlung, die den Leser nicht losläßt, bietet es kurze Einblicke in die politischen Verhältnisse in Nigeria von der Zeit der Unabhängigkeitserklärung der Republik Biafra im Jahr 1967 über die blutige Niederschlagung dieser Bewegung mit westlicher Unterstützung 1970 bis zur heutigen Zeit. Im Anhang gibt der Autor noch Tips für Leser, die sich weiter mit Nigeria beschäftigen möchten.

Abayomi hat als Jugendliche nicht nur die Hinrichtung Ken Saro-Wiwas erlebt, der ein Freund ihres Vaters war, sondern mußte mit ansehen, wie ihr Vater im Haus der Familie abgeschlachtet wurde:

"Man hat ihn, als sie fünfzehn war, vom Esstisch weggerissen, das Essen lag noch auf seinem Teller. Vor ihren Augen haben sie ihm den Hals durchgeschnitten und den Bauch aufgeschlitzt. Wie einer Ziege, so hat sie es mir erzählt." ... "Man sagt, daß er ein guter Mann war. Aber auch ein Unruhestifter. In dieser Welt gibt es keinen Platz für gute Menschen." ... "Wenn du einmal miterlebt hast, wie so etwas deinem eigenen Fleisch und Blut passiert, dann geht es nur noch ums Überleben, mein Freund." Für einen Moment glaubte Richard das Aufflackern eines echten Gefühls in dem Russen zu sehen, etwas, das ihm bisher verborgen geblieben war. "Dann ist alles möglich. Dann gibt es nichts mehr, gar nichts mehr, was du nicht tun würdest."
(S. 370 und 371)

Ihr Bruder, ein Aktivist der Bewegung 'Freies Biafra', flieht aus Nigeria, kurz nachdem General Abacha die Macht übernommen hat, und auch Abayomi ist bis zu ihrer Flucht wachsender Repression ausgesetzt. Auch sie vertritt Richard gegenüber, daß sie alles tun würde um des Überlebens Willen.

Aus seinem politischen Selbstverständnis gegen Rassismus und Unterdrückung heraus schildert Andrew Brown die Ereignisse in Nigeria und ganz besonders die Verhältnisse, denen diese Flüchtlingsfamilie in Südafrika ausgesetzt ist, mit viel Zuwendung und erschreckendem Realitätssinn. Absolut entfernt von jeglichem Voyeurismus stößt der Autor den Leser auf manches Detail des Flüchtlingsstatus' oder Gefängnisalltags, das dieser vielleicht lieber etwas weniger deutlich vor Augen geführt bekommen hätte, und leistet damit ein Stück gutverpackte und ernstgemeinte Aufklärungsarbeit. Der Autor konnte zwar durch ein Berufungsverfahren einer mehrjährigen Haftstrafe entgehen, war jedoch aufgrund seiner politischen Aktivitäten zur Zeit der Apartheid selbst mehrfach in Haft, kennt also die Situation im Gefängnis aus eigener Anschauung. Zudem wird er aufgrund seiner Tätigkeit als Anwalt sowie als Reservepolizist genügend Erfahrungen sowie Berichte anderer gehört haben, um hier ein umfassendes und realistisches Bild zu zeichnen.

Seine Schilderungen sind weit entfernt von einer Neigung zur Schablonenhaftigkeit, die vielen Kriminalromanen anhängt, weil es mehr um den spannenden Plot als um eine gesellschaftliche Situation geht und der Autor seine Vorstellungskraft mit Hörensagen vermengt. In diesem Roman ist es eigentlich anders herum: Der Krimiplot ist das Mittel, einem breiteren Publikum Inhalte und Denkanstöße zu vermitteln. Brown findet im Schreiben seinen politischen Ausdruck. Und man sollte dabei nicht vergessen, daß er als Südafrikaner primär für die Leser im eigenen Land schreibt. Das heißt unter anderem, daß keinerlei Versuch unternommen wird, Südafrika mit seinen möglichen Eigenheiten zu beschreiben. Hin und wieder wird allerdings deutlich, daß abgesehen von den Migranten natürlich, mindestens zwei Sprachen im Land gesprochen werden: Englisch und Afrikaans. Entsprechende erklärungsbedürftige Begriffe aus dem Afrikaans oder dem nigerianischen Pidgin, die eingestreut sind, werden am Ende des Buches in einem Glossar erläutert. Manchmal merkt man als Leser erst durch diese hingeworfenen Sprachbrocken, mit wem man es wohl gerade zu tun hat. Das ist wahrscheinlich ein Problem, das ein südafrikanischer Leser nicht hat, weil er die dargestellten Verhältnisse und Konstellationen besser zu deuten weiß. Die Übersetzung ist im übrigen so gut gemacht, daß man sie dem Buch absolut nicht anmerkt.

Man braucht sich nicht der Illusion hinzugeben oder vielleicht gar die Formulierung zu eigen zu machen, die Andrew Brown ganz bewußt seinem Erzrassisten am Dinnertisch in den Mund legt: "Das ist Afrika". Der Autor ist ganz sicher nicht der Meinung, daß diese Verhältnisse typisch afrikanisch und naturgegeben sind. Mit seinem Buch weist er auf den Überlebenskampf und die Not der Migranten in Südafrika hin und beleuchtet die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diesem zugrundeliegen. Er legt damit den Finger ganz bewußt in eine Wunde, die nicht nur in Südafrika schwärt. Auch hierzulande sterben genügend schutzsuchende Menschen aus dem Ausland durch eigene oder fremde Hand in (Abschiebe)haft oder werden auf der Straße bedroht, werden genügend Frauen in die Prostitution gezwungen oder aus Not dazu veranlaßt, um nicht unsererseits auf ein diffamierendes "das ist Südafrika" zu verfallen.

Richard macht im Laufe der Handlung eine Entwicklung durch, die zuletzt darin ihren Ausdruck findet, daß er sein Leben auf den Kopf stellt und als kleiner Anwalt mit eigenem Büro und ohne Frau einen Neuanfang wagt. Man könnte ihn fast sympathisch finden, müßte man nicht annehmen, daß die Veränderung in seinem Leben vielleicht lediglich bedeutet, daß er sich aus der Schußlinie gebracht hat. Schließlich hatte er seine Hände voll im Spiel und war an dem Tod eines Menschen beteiligt, wenn er auch letztlich das Opfer einer perfide verschlungenen Intrige abgibt. Der Autor beantwortet hier im nebenherein die Frage 'Wie wird man so, wie man wird?' und verweist zunächst einmal auf die Umstände. Sein Erklärungsansatz ist ein gesellschaftspolitischer, der nicht den einzelnen verurteilt, aber als mitverantwortlich ansieht. Und im Sinne dieser Verantwortlichkeit ist wohl auch sein Engagement als Schriftsteller zu sehen. Der Leser hat in jedem Fall die Chance über die Unterhaltung hinaus, die dieser Roman ohne Zweifel reichlich bietet, ins Nachdenken zu geraten und die eigenen Schlüsse daraus zu ziehen.

6. Juli 2010


Andrew Brown
"Würde"
Roman
Aus dem Englischen von Mechthild Barth
btb Verlag, München 2010
384 Seiten, 19,95 Euro
ISBN 978-3-442-75278-2