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REZENSION/127: Jon Courtenay Grimwood - Silberklinge (Fantasy) (SB)


Jon Courtenay Grimwood


Silberklinge



Eine durch und durch morbide Atmosphäre umfängt den Leser, wenn er mit Jon Courtenay Grimwoods historischem Fantasy-Roman "Silberklinge" ins Venedig des 15. Jahrhunderts eintaucht, in dem

Morgen für Morgen die Leichen der Bettler auf den Straßen lagen und tote Neugeborene in den Kanälen trieben, von verarmten Eltern hineingeworfen, die kein Geld für ein ordentliches Begräbnis hatten. [...] Den Sommer über schliefen die Armen auf den Dächern, Terrassen oder im Freien. Sobald der Winter kam, drängten sie sich in verlassenen, verwahrlosten Mietshäusern zusammen. Sie verrichteten in aller Öffentlichkeit ihre Notdurft, stritten und prügelten sich. In den Treppenhäusern ihrer armseligen Unterkünfte hing der durchdringende Gestank der Armut. Ungewaschen und ungeliebt wie sie waren, legte sich ihr Elend wie langsam versickerndes Abwasser über sie und überzog ihre Haut mit einem Ölfilm, der nach nassem Leder roch. (Seite 25) 

Unbeleckt geblieben von all diesem Elend sind die Herrschenden der Stadt - Patrizierfamilien, die um Einfluß beim Dogen buhlen, und dessen Verwandte sich untereinander bekriegen, wobei sie all jene einbinden und verbrauchen, die unter ihnen auf der Karriereleiter stehen. Jon Courtenay Grimwood, dessen Vorliebe für historische Romane mit veränderter Geschichtsschreibung schon in seinen ersten sieben Werken [*] zur Geltung kam, hat sich nun des Handelsimperiums Venedig angenommen. Anders als in den ersten Werken, in denen er politische Weichenstellungen veränderte, z.B. den Ersten Weltkrieg mit einem Sieg der Deutschen beendete, um die Folgen in die Zukunft zu transportieren, was durchaus interessante Fragestellungen eröffnen könnte, lassen die Ereignisse in "Silberklinge" keine solche Entwicklung erkennen. Hier stellt die von Marco Polo abstammende Familie Millioni bereits seit fünf Generationen die Dogen und muß ihr Reich gegen alle möglichen Feinde verteidigen.

"Im Norden liegt das Reich des Deutschen Kaisers, im Süden das der Byzantiner. Der Papst hat die Herrschaft der Millioni für unrechtmäßig erklärt, und seither sind wir Freiwild für jeden reuigen Sünder, der eine scharfe Klinge und ein schlechtes Gewissen besitzt. Die Mameluken bedrohen unsere Handelswege. Der ungarische König fordert seine Kolonien in Dalmatien zurück. Ein jeder überbietet sich darin, uns vor dem jeweils anderen schützen zu wollen." (Seite 37) 

Da liegt es nahe, daß der Regent eine geheime Killertruppe unterhält, die Assassinen, deren Mitglieder noch im jugendlichen Alter von der Straße weg rekrutiert werden und sich einer barbarischen Ausbildung unterziehen müssen. Einer dieser zwangsweise Rekrutierten ist Tycho, ein Junge mit vampirischen Fähigkeiten, der sich seiner Herkunft nicht mehr erinnert. Er soll zum Nachfolger des Assassinen-Anführers ausgebildet werden, hat aber einen eigenen Kopf und sucht die entführte Millioni-Prinzessin Giulietta, in die er sich verliebt hat.

Dieser Roman weist eine Dichte an Details auf, die der historischen Kulisse geschuldet sein mag. Man erfährt, warum die Gondeln schwarz und so viele verschiedenen Stilepochen in Venedig vertreten sind, wie eine Druckmaschine funktioniert, welche Gilden was für Wappen besitzen, welchen Bestimmungen und Gebräuchen das gemeine Volk und welchem Rechtssystem die Sklaven unterworfen sind und was es an zu Beschreibendem noch so alles gibt. Dabei tritt die Handlung jedoch leider in den Hintergrund und die Romanfiguren bilden lediglich das Beiwerk. 400 Seiten lang gibt es keinen Handlungsstrang, der zu Ende verfolgt wird, kein Gespräch, das beim Thema bleibt und nicht bei der erstbesten Gelegenheit in Nebensächlichkeiten abschweift. Es geht um Macht, Intrigen und Gewalt, wobei das Ausmaß an Brutalität hervorsticht, die Jon Courtenay Grimwood in effektheischender Weise umsetzt.

Da stellt sich die Frage, was Jon Courtenay Grimwood überhaupt vermitteln will. Will er ein authentisches Bild einer historischen Kulisse zeichnen? Das ist ihm zweifellos gelungen. Will er einen spannenden Roman schreiben, bei dem man mit den Hauptpersonen mitfiebert? Dazu ist das Handlungsgeschehen zu zerrissen. Will er die Personen lebendig gestalten? Dazu kommen sie zu wenig vor und gehen in den Situations- und Kulissenbeschreibungen unter. Dabei hätten die Personen durchaus Potential für eine spannende Geschichte gehabt, wenn der Autor mit derselben Akribie, mit der er Venedig beschrieben hat, auf die Persönlichkeit seiner Protagonisten, zu denen auch Werwölfe, Hexen und Gestaltwandler gehören, eingegangen wäre und ihnen Leben eingehaucht hätte. Es gibt zwar endlose Ausführungen darüber, wer wen aus welchen Gründen über's Ohr hauen will, was aber in der entführten Prinzessin Giulietta vorgehen mag, muß man sich selbst ausdenken. Und warum ein mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestatteter, freiheitsliebender Junge, wie Tycho, sich nicht gegen das Sklavendasein wehrt, verrät er dem Leser auch nicht.

Jon Courtenay Grimwood hat mit dem Übernatürlichen seinem ohnehin schon recht deftigem Werk nur eine weitere Geschmacksnote hinzugefügt, dafür aber nichts weiter getan, als in den Klischeetopf zu greifen. Die Verwandlung der Werwölfe wirkt einem drittklassigem Horrorstreifen nachempfunden und das Auftreten von Magie, als würde Alice im Wunderland plötzlich in Umberto Ecos "Im Namen der Rose" auftauchen. Hier werden zwei Genre zusammengebracht, wogegen zunächst nichts einzuwenden ist, allerdings greifen sie nicht, sich gegenseitig bereichernd ineinander, sondern grenzen sich voneinander ab. Fantasy-Liebhaber kommen nicht auf ihre Kosten, weil der Autor sich diesem Metier nicht wirklich widmet und es nur als Beiwerk nimmt, um einen exotischen Reiz zu bilden. Freunde historischer Romane fühlen sich dagegen vom Auftauchen von Wesen aus dem Horrorgenre irritiert, zumal Jon Courtenay Grimwood keine Anstalten macht, ihre Existenz zu erklären.

Einzig den Vampir Tycho, der sich peu à peu an seine Vergangenheit erinnert, umweht ein Geheimnis, an dessen Ergründung der Leser sogar teilhaben darf. Und so wird das Buch auf den letzten hundert Seiten sogar noch spannend, als einem das Schicksal der Hauptpersonen endlich etwas nahegebracht wird. Doch zieht der Autor zu guter Letzt im Moment größter Bedrängnis des Romanhelden eine Hexe aus dem Hut, die den Ausweg aus einer verfahrenen Situation liefert, in die sich der Autor durch logische Brüche selbst manövriert hat. Eine billige Lösung, die in den Nachfolgebänden - bei "Silberklinge" handelt es sich um den Auftakt zu einer Trilogie - hoffentlich keine Entsprechung finden wird.

Fazit: ein an historischen Details reicher Roman, leider mangelt es ihm an durchdachter Dramaturgie; unnötig die Fantasy-Anteile, zweifelhaft das Ausmaß der Gewaltdarstellungen.


Anmerkungen:

[*] "neoAddix" (1997), "Lucifer's Dragon" (1998), "reMix" (1999), "redRobe" (2000), Arabesk trilogy: "Pashazade" (2001), "Effendi" (2002), "Felaheen" (2003)


Jon Courtenay Grimwood
Silberklinge
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: The Fallen Blade
Aus dem Englischen von Sabine Rheinhardus
Knaur Taschenbuch, München 2012
512 Seiten
€ [D] 14,99 / € [A] 15,50 / sFr. 23,50
ISBN: 978-3-426-50959-3
ET: 3. Februar 2012


21. März 2012