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BUCHBESPRECHUNG/002: Robert McNamara - In Retrospect ... (Geschichte) (SB)


Robert McNamara


In Retrospect

The Tragedy And Lessons Of Vietnam



Zum 20. Jahrestag der Eroberung Saigons durch die nordvietnamesische Armee hat der Verteidigungsminister der Regierung Kennedy und Johnson, Robert McNamara, eine Rückschau auf seine Amtszeit auf den Markt gebracht, die mit viel Aufmerksamkeit, aber vor allem mit heftiger Kritik quittiert wurde. Der Auflage des Buches, das sogleich Platz Eins der Bestsellerliste der New York Times stürmte, schadet es offensichtlich nicht, daß die Empörung der Vietnam-Veteranen quer durch die USA hohe Wogen schlug, andererseits wird es dem ehemaligen Präsidenten der Weltbank wohl kaum in erster Linie um das Autorenhonorar gehen. Ihm scheint vielmehr an einer späten Rechtfertigung seiner Politik gelegen zu sein, denn das provokante Geständnis, daß er den Krieg schon im Jahre 1963 für verloren hielt, stellt den Kernpunkt seines Werks dar. Am Schluß des Buches werden elf Lektionen aus dem Dilemma seiner Dienstzeit gezogen, mit denen die vermeintliche Lernfähigkeit des Falken McNamaras dokumentiert werden soll.

1963 waren weniger als 100 GIs gefallen, und ein Rückzug aus Vietnam hätte die ganze Episode zu einer Fußnote der amerikanischen Gegenwartsgeschichte werden lassen. Die umstrittene Tonkin-Resolution, bei der ein Zwischenfall mit der nordvietnamesischen Marine, bei dem es zu keinen amerikanischen Verlusten kam und bei dem heute noch bezweifelt wird, ob er überhaupt in der geschilderten Weise stattgefunden hat, dazu genutzt wurde, einen Vorwand zur Eskalation des Konflikts von amerikanischer Seite her zu schaffen, sollte erst nach diesem Zeitpunkt verfaßt werden. Am Zustandekommen dieser Resolution, die die Regierung Lyndon B. Johnsons mit den erforderlichen Vollmachten für einen massiven Militäreinsatz ausstattete, war McNamara als Verteidigungsminister maßgeblich beteiligt.

Er gehörte zu den wesentlichen Architekten des Krieges, setzte sich 1965 für sogenannte Vergeltungsschläge aus der Luft ein und erfüllte Forderungen der Militärs nach einer Verstärkung der amerikanischen Präsenz in Vietnam bereitwillig. Erst im Jahre 1967 waren Anzeichen für eine Distanzierung McNamaras von der fortschreitenden Eskalation des amerikanischen Kriegseinsatzes in Südostasien zu erkennen. Doch auch hier verhielt er sich angesichts der aktuellen Eröffnung zu einer frühen pessimistischen Einschätzung des Krieges vor allem abwartend und arbeitete auf eine Begrenzung des Krieges hin, um die Verhandlungsoption zu erhalten. Da er mit Präsident Johnson nicht mehr konform ging, trat er zurück und fiel als Präsident der Weltbank gewissermaßen die Leiter hoch.

Falls man nun annimmt, daß diesen "Master of War", um in den Worten eines damals populären Antikriegslieds zu sprechen, das schlechte Gewissen plagte und mit seinem Buch eine reinigende Beichte vollzogen werden sollte, täuscht man sich im Glauben an die menschliche Einsichtsfähgkeit. Vielmehr hebt McNamara in seinem Buch zu einer ausführlichen Rechtfertigungsarie an und schließt jeden Anklang an Beichte oder Reue aus. Ihm geht es angeblich um die Lehren für heutige Politiker, die jedoch keineswegs so grundlegend sind, wie man angesichts des "schrecklichen Fehlers" meinen möchte, der der Vietnam-Krieg gewesen sei.

In einem Interview der Sendung Fresh Air im National Public Radio zeigte sich McNamara dann auch als nicht im geringsten irritierter Bezwinger des Weltkommunismus, der seine Selbstgerechtigkeit mit eben dieser Gefahr begründet, der man habe entgegentreten müssen. Ein dritter Weltkrieg habe gedroht, wenn man dem Vorrücken des Kommunismus in Südostasien nicht Einhalt geboten hätte, wobei er ausdrücklich klarmacht, daß dies die Ansicht des damaligen Außenministers Dean Rusk gewesen sei. Aus heutiger Sicht schließt er sich zwar dem Standpunkt der damaligen Kriegsgegner an, daß es sich beim Vietnamkrieg in erster Linie um einen postkolonialen Befreiungskampf gehandelt hat, das ändert aber nichts am Postulat der angeblichen Alternativlosigkeit seiner damaligen Handlungsweise.

McNamara bezeichnet Ho Chi Minh als Nationalisten und asiatischen Tito und erklärt sich so das Durchhaltevermögen der Nordvietnamesen. Auf die Legitimität eines Kampfes gegen den Kommunismus geht er dabei in keiner Weise ein, die grundsätzliche Notwendigkeit einer ideologisch motivierten Kriegführung steht für ihn außer Frage. In diesem Sinne hätte er sogar ein Eingreifen der USA befürwortet, wenn die vietnamesische Bevölkerung mehrheitlich für eine kommunistische Regierung eingetreten wäre. Daß sie dies offiziell nicht tat, stellte gleichermaßen ein Produkt amerikanischer Institutionen wie der CIA dar, die mit fingierten Erhebungen und gekauften Demonstranten das Bild einer breiten Zustimmung für den amerikanischen Militäreinsatz erzeugten.

Das postulierte Weltkriegsszenario auf der Grundlage der Domino-Theorie, die besagte, daß es nicht bei Südostasien als kommunistischem Einflußbereich bleiben würde und eine finale Auseinandersetzung der beiden Weltmächte demzufolge unausweichlich wäre, wenn man nachgebe, beherrscht die Argumentation des kalten Kriegers damals wie heute. Auch wenn er jetzt zugibt, die Lage damals falsch eingeschätzt zu haben, läßt er sich auf keine Diskussion über die Unvermeidbarkeit des Vietnamkriegs ein. Dabei hatten die Amerikaner alle nachrichtendienstlichen Mittel in der Hand, um zu erkennen, daß es sich in erster Linie um einen nationalen Befreiungskampf handelte. Es ging jedoch nicht um eine angemessene Einschätzung der Lage, sondern um die Durchsetzung einer Doktrin, bei der McNamara wie alle anderen Antikommunisten der US-Regierung lieber über Leichen ging, als einem kleinen Volk eine Chance zu geben, um die es schon seit Jahrzehnten kämpfte.

Dabei favorisierte Washington ein Regime, das bis in die höchsten Spitzen durch und durch korrupt war, und schreckte auch nicht vor der Mitwisserschaft am Mord des Präsidenten Diem zurück, der 1963 von einer Gruppe Offiziere gestürzt wurde. Auch bei den anschließenden Militärregierungen Südvietnams und der 1967 gewählten Regierung Thieu kam es in erster Linie darauf an, daß sie die Politik der Amerikaner unterstützten, die die eigentliche Gefahr eines Weltkriegs beinhaltete. McNamaras Argumentation, einen Weltkrieg durch die Begrenzung kommunistischer Expansion verhindern zu wollen, verkehrt die Provokation einer solchen Katastrophe zur Selbstverteidigung. Die Lektion, daß man mit der willkürlichen Eskalation in Vietnam ein nicht einzuschätzendes Weltkriegsrisiko einging, sucht man in seiner Rückschau vergebens. Auch die tiefe Verstrickung amerikanischer Streitkräfte in den Konflikt zwischen Nord- und Südvietnam vor der Tonkin-Resolution, also ohne parlamentarische Deckung durch den US-Kongreß, wird nicht weiter erwähnt. McNamara gibt lediglich zu, daß man bei künftigen militärischen Interventionen lieber von Anfang an die Unterstützung der Volksvertreter suchen sollte.

Die über 30 Jahre zu spät veröffentlichte Einschätzung von der Aussichtslosigkeit der als erfolgreich propagierten amerikanischen Kriegführung muß daher nicht nur die Angehörigen der Kriegsopfer und die Veteranen verletzen, die ihre Kinder verloren oder ihr Blut für eine Strategie gegeben haben, die lediglich der Erwirtschaftung eines Verhandlungsspielraums dienen sollte. Sie zeugt auch vom Zynismus einer Reißbrettpolitik, bei der keine Verbindung zum tatsächlichen Geschehen vor Ort besteht. Das Bezeugen einsichtsvoller Reue oder eine mitfühlende Entschuldigung McNamaras hätte zumindest einem moralischen Schritt bedeutet, wie doppelbödig ein derartiger Kniefall auch gewesen wäre.

McNamara spielt sich jedoch lieber als später Rechtfertiger der Antikriegsbewegung auf, als ob die vielfach als unpatriotisch und kommunistisch beschimpften damaligen Demonstranten darauf angewiesen wären, von einem ihrer Gegner rehabilitiert zu werden. Unter Verweis auf die eigenen Kinder, die in der Antikriegsbewegung aktiv gewesen seien und durch die er deren Argumente kennengelernt habe, gibt er zu, daß sie damals im Recht gewesen seien. Gleichzeitig wiederholt er sein Argument von der Weltkriegsgefahr, von der man hätte ausgehen müssen. Er huldigt den Protestlern als intellektueller Elite der Nation, macht aber keine Aussage dazu, warum er deren Argumentation nicht im mindesten gefolgt ist.

Den Gipfel verlogener Rührseligkeit besteigt McNamara in der NPR-Sendung, als er mit bewegter Stimme aus dem Brief der Witwe des Quäkers Norman Morrison vorliest, der sich 1965 vor seinem Amtssitz, dem Pentagon, verbrannt hatte. Sie dankt ihm für sein Buch, in dem er durch eine korrigierte Sicht des Krieges der Protestbewegung Recht gebe und somit auch zu ihrer Genugtuung beitrage. Nachdem McNamara jedoch ausdrücklich betont hat, daß es bei seiner Autobiographie keinesfalls um eine Form der Reue oder Rechtfertigung gehe, sondern um den Versuch, aus der Geschichte zu lernen, kann man hier höchstens von einem Versuch sprechen, ein kaltblütig inszeniertes Dilemma nachträglich zum integeren Bestandteil einer erfolgreichen Biographie umzufunktionieren.

Bei McNamaras Darstellung der Antikriegsbewegung entsteht der Eindruck, es sei den Protestlern lediglich um Opposition gegen einen aussichtslosen Krieg gegangen. In der Welt des ehemaligen Verteidigungsministers wäre alles in bester Ordnung gewesen, wenn man einen glorreichen Feldzug gegen ein Bauernvolk der Dritten Welt geführt hätte, und das mag auch für denjenigen Teil der Protestbewegung gelten, der sich vor allem über die "sinnlosen" amerikanischen Verluste erregte. Den radikalen Demonstranten ging es jedoch um die grundlegende Machtanmaßung einer Supermacht, die ein Volk, das einen bereits lange währenden antikolonialistischen Kampf führte, mit High-Tech-Waffen sprichwörtlich in die Steinzeit bombte. Dazu gehörte die ganze Vorgeschichte illegaler und subversiver Aktionen amerikanischer Sondereinheiten und der CIA, die im Norden Vietnams Sabotageaktionen ausführten und das Regime im Süden nach Belieben manipulierten.

Die grundlegend militaristische Ausrichtung McNamaras zeigt sich denn auch bei der wichtigsten Lehre, die er aus dem Vietnamkrieg gezogen haben will. Das Ergebnis seiner Analyse besteht in der Feststellung, daß eine mangelhafte Organisationsstruktur dafür verantwortlich war, daß man sich nicht genügend auf den Krieg konzentriert habe. Statt dessen hätte man eine Art Kriegskabinett im Stile Chruchills haben müssen, um die adäquaten Fragen der Kriegführung stellen und die schlagkräftigen Antworten für die militärische Auseinandersetzung geben zu können.

Damit kann der Absolvent der Harvard Business School heutzutage sicherlich einen Konsens mit der von ihm hofierten intellektuellen Elite des Landes eingehen, an deren Anerkennung ihm besonders gelegen zu sein scheint. Menschen seiner Qualifikation haben ja auch den geringsten Teil des Blutzolls der 58.000 amerikanischen Gefallenen entrichtet, da sie aufgrund ihrer sozialen und beruflichen Stellung entweder gar nicht erst eingezogen oder in administrativen Positionen eingesetzt wurden. Schwarze hingegen trugen mit acht Prozent zum Personal der Streitkräfte in Vietnam bei, stellten aber 25 Prozent der gefallenen Soldaten. Von daher läßt sich die Empörung der Veteranen über die Veröffentlichung des Buchs McNamaras gut verstehen, dem es immer noch um sein Ansehen in dieser Sache geht, während andere dafür mit dem Leben bezahlt haben.

Zu den Kritikern an McNamaras Buch gehören auch Politiker, die als Soldaten in Vietnam waren, wie der Senator Arizonas, John McCain, der sechs Jahre in Hanoi in Kriegsgefangenschaft gesessen hat. Er bezeichnet das Buch als unnötig, da es Gefühle aufrührt, die man mit Mühe vergessen habe. Der mehrfach verwundete Veteran John Kerry, jetzt Senator des Bundesstaats Massachusetts, äußert sich deutlicher, indem er McNamara vorwirft, sich ohne eine klare Aussage zum Krieg zu einem Zeitpunkt zurückgezogen zu haben, an dem erst die Hälfte der amerikanischen Soldaten gefallen war.

Ernsthafte Probleme könnte der Autor McNamara jedoch durch die vier Brüder Bolanez bekommen, die 1968 und 1969 als Freiwillige in Vietnam waren. Sie haben den ehemaligen Verteidigungsminister auf eine Summe von 100 Millionen Dollar wegen Pflichtverletzung verklagt, ein Vielfaches der sicherlich lukrativen Honorare aus dem Buchverkauf. Falls es tatsächlich zu einem Prozeß kommt, darf man gespannt sein, ob McNamaras Rechtfertigung den Angriffen der erzürnten Veteranen standhält.

Eine völlige Neubewertung der damaligen Politik stellt jedoch einen derartigen Bruch mit dem Selbstverständnis des gerechten Kampfes gegen den Weltkommunismus dar, daß damit kaum zu rechnen ist. Das gleiche gilt für die Würdigung der Leiden des vietnamesischen Volkes, das ein Vielfaches an Toten zu beklagen hat, dessen Land zerstört wurde und das noch heute den ganz materiellen Folgen des Krieges ausgesetzt ist. An dieser Stelle zahlt sich eine Position wie die des ehemaligen Verteidigungsministers aus, der zwar Fehler eingesteht, gleichzeitig aber einen notwendigen Krieg postuliert, weil man Nordvietnam angeblich nur als kommunistische Bedrohung sehen konnte.


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