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BUCHBESPRECHUNG/113: Die Babywindel und 34 andere Chemiegeschichten (SB)


Herausgeber: Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger und Axel Fischer


Die Babywindel und 34 andere Chemiegeschichten



Wer sich in der populärwissenschaftlichen Literatur umsieht", so geben die Herausgeber in ihrem Vorwort zu bedenken, "wird viele Monografien, Nachschlagewerke und Überblicke über technische Entwicklungen in moderner Zeit finden." Nur die Chemie werde relativ stiefmütterlich behandelt, obwohl doch gerade erst sie mit entsprechenden Durchbrüchen für die entscheidenden Materialien, die Hilfsstoffe und Werkstoffe und damit die Voraussetzungen für die wesentlich spektakulärere und publikumswirksamere Technik gesorgt habe. Während sich Raumfahrt, Kommunikations- und Verkehrstechnik einem größeren, allgemeinen Interesse sowie einer breiteren Anwendung selbst von technisch Unbedarften erfreuen, präsentiert sich die Chemie zum einen als eine Fülle von Gesetzmäßigkeiten, Fakten, Theorien und feststehende Erklärungen für Vorgänge, die der Laie (und oft nicht einmal der Chemiker) mit seinen eingeschränkten Wahrnehmungsmöglichkeiten weder überprüfen noch nachvollziehen kann; zum anderen nimmt die Öffentlichkeit Chemie nur über die Gefahren wahr, die von ihr in Form von Schadstoffemissionen, Arzneimittelnebenwirkungen bzw. Umweltverschmutzung ausgehen.

Die Wiley VCH Verlag GmbH erweist sich hier schon seit den Zeiten, als sie noch der "Verlag Chemie" war, als Ausnahme, und wartet nicht erst zum diesjährigen "Jahr der Chemie" mit zahlreichen populärwissenschaftlichen Werken auf wie "Parfüm, Portwein, PVC", oder "Sonne, Sex und Schokolade", "Phosphor - ein Element auf Leben und Tod" (alle von John Emsley), "Kaffee, Käse, Karies..." von J. Koolman, H. Moeller, K.-H. Röhm, "Chemie der Zukunft - Magie oder Design?" von Philip Ball und vielen anderen ausgesprochen lesenswerten Büchern. So wird auch weniger fachkundigen Lesern mit unterhaltsamen und vor allem verständlichen Beispielen Chemie schmackhaft gemacht. Der Verlag macht damit Werbung in eigener Sache, um eine breitere Akzeptanz für die Arbeit seiner eigentlichen Klientel zu schaffen, und das sind Forscher und Wissenschaftler in sämtlichen chemischen Fachbereichen.

Auch das vorliegende Buch habe sich nach Aussage der Herausgeber Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger und Axel Fischer zur Aufgabe gemacht, in 35 Geschichten eine Chemie vorzustellen, die nicht "stinkt und kracht", sondern aufregend "knistert und nach Zukunft riecht".

Wer nun allerdings, vom Titel verleitet, 35 spannende Geschichten oder gar lustige Anekdoten erwartet, wird von dem Sammelsurium ganz unterschiedlich präsentierter Aspekte der Chemie wohl ein wenig enttäuscht sein. Doch abgesehen davon, daß sich nicht unter jeder drögen Thematik ein leckeres Bonbon hervorzaubern läßt und Sachlichkeit für die eigene Meinungsbildung nur förderlich sein kann, mag der marketingwirksame Titel bei manchem wohl falsche Erwartungen wecken.

Die Herausgeber hatten nämlich, wie sie schon im Vorwort erklären, einen relativ umfangreichen Katalog von chemischen Produkten und Methoden zusammengestellt, die es vor 50 Jahren noch nicht gab, und den Nachwuchs unter den Wissenschaftsjournalisten und Forschern angesprochen, sich zu einem dieser Themen ganz frei und ohne Vorgaben zu Darstellungsform, Schreibstil oder Betrachtungsperspektive, in Form eines kleinen Aufsatzes zu äußern. Ins Rollen gebracht wurde dieses ebenso unkonventionelle wie gelungene Unterfangen allerdings durch das Programm PUSH (Public Understanding of Science and Humanities), zu dem sich der Stifterverband der Deutschen Wissenschaft und alle großen Wissenschaftsvereinigungen zur Förderung der Verständlichkeit in wissenschaftlichen Abhandlungen und zur Förderung des wissenschaftsjournalistischen Nachwuchses zusammengetan haben. Daß dabei mehr als nur Schreibübungen herausgekommen sind, beweist dieses Buch.

Gerade Geschichten aus der Chemiegeschichte, die z.B. im Schullehrstoff regelmäßig unterschlagen werden wie etwa die Erzählung "Der Nobelpreis aus dem Einmachglas", in der Karl Ziegler die nach ihm benannten Katalysatoren entdeckt, mit denen man heute noch den Kunststoff Polyethylen herstellt, oder auch die Geschichte der "Polyurethane" (vom "Emmentaler-Käse-Ersatz" zum "Allround-Spezialisten") erinnern uns an den doch sehr fehlbaren, unberechenbaren, unnachgiebigen und sehr wesentlichen Faktor "Mensch", ohne den es wohl keine der technischen Errungenschaften oder chemischen Alltagsprodukte geben würde, die unser heutiges Weltbild so nachhaltig prägen, allerdings auch keine Umweltverschmutzung.

Leider bleibt im Chemieunterricht dieser Tage, in dem immer mehr Stoff in immer kürzerer Zeit bewältigt werden muß, kein Platz für solche einprägsamen Geschichten, die uns nicht nur verschiedene Alltagsprodukte, sondern auch den Alltag des Chemikers und vielleicht zwangsläufig, aber unbeabsichtigt, auch die von ihm zu tragende Verantwortung näher bringen könnten.

Daß auch in jüngerer Zeit immer noch Zufallsenteckungen, Konkurrenzkämpfe oder Wirtschaftsinteressen (siehe Kapitel "Biologisch abbaubare Kunststoffe") die chemische Forschung prägen und diese umgekehrt Einfluß auf die gesellschaftspolitische Entwicklung nimmt (z.B. im Kapitel "Ersehnt, bejubelt und verdammt - die Anti-Baby-Pille"), läßt sich aus den zahlreichen Beispielen dieses Buches durchaus klar erkennen.

Die Zusammenstellung der Beiträge vermittelt dem Leser auch ein Gefühl für das breite Spektrum der Forschungs- und Anwendungsbereiche moderner Chemie. So finden sich neben produktorientierten Beiträgen über Kunststoffe, Polymere, Klebstoffe, Beton, Waschmittel, Sportkleidung, Mobiltelefone, Leuchtdioden, Pflanzenschutz, Vitamine und die schon im Titel erwähnte Babywindel vor allem auch interessante Berichte zu neuen Methoden, die zwar (fast) jeder dem Namen nach kennt, aber nicht deren Technik und das Prinzip, das sich dahinter verbirgt. Von der kernmagnetischen Resonanz (die wir gewöhnlich als CT - Computertomographie kennenlernen) über die klassische Chromatographie bis hin zur Polymerase-Kettenreaktion und Genfahndung werden analytische Verfahren vorgestellt (ohne Anspruch auf Vollständigkeit).

Und auch chemische Exoten, an denen der Spieltrieb oder der sportliche Ehrgeiz mancher Chemiker deutlich wird, mit Clustern, Wolframbällen, den medienwirksamen Nanofußbällen (Fullerenen) und Kohlenstoffbäumchen (Dendrimere) u.ä. Strukturen eine eigene kleine Mikrowelt aufzubauen, werden in einer Mischung aus allgemeinen Grundlagen und interessanten Details in verständlicher Form erklärt.

Alles in allem ist das Buch natürlich kein Nachschlagewerk, was auch das von mir schmerzlich vermißte, weil nicht vorhandene Sachregister erklärt, es ist aber eine gelungene Ergänzung zu jenen aktuellen Themen, mit denen man gerade jetzt zum "Jahr der Chemie" so fieberhaft bemüht ist, das lädierte Image der Chemie in der Öffentlichkeit aufzupolieren. Da sich der Leser durch den Aufbau des Buches auch Zeit lassen kann, über die einzelnen Abschnitte nachzudenken, wird er im Gegensatz zu dem derzeit veranstalteten Medienrummel hier jedoch eher auch auf konzeptionelle Lücken aufmerksam und kann sich ein eigenes Bild machen. Verständlichkeit kann so auch zu einem Verstehen und Begreifen führen, das die angestrebte "Verständigung" zwischen Laien und Forschern noch schwerer macht. Schon deshalb sollte es gelesen werden.


Herausgeber: Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger und Axel Fischer
Die Babywindel und 34 andere Chemiegeschichten
Wiley-VCH Verlag GmbH, Weinheim 2000
291 Seiten
ISBN 3-527-30262-X