Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/019: Gary Ross - Auf großem Fuß (Tierschutz) (SB)


Gary Ross


Auf großem Fuß



Das Buch von Gary Ross "Auf großem Fuß" ist ein Tatsachenbericht und keine erfundene Geschichte. Es beschreibt den aufsehenerregenden Leidensweg des Tierpflegers Murray Hill, der seine Familie verläßt und mit den beiden von ihm selbst aufgezogenen Elefanten-"Mädchen" Tory und Dutchess verschwindet, um sie vor Mißhandlungen zu schützen und sein Recht zu bekommen. Von 1984 bis 1989 ist er nicht aufzufinden, obwohl er vom FBI, den Polizeibehörden und seinen Widersachern Dick und Eddie Drake in Nordamerika und Kanada gesucht wird.

Der Autor Gary Ross ist Journalist in British Columbia, USA. Seine Ausführungen beruhen auf umfangreichen Recherchen, bestehend aus:
- Interviews mit einigen 100 Personen (viele Gesprächsstunden mit Murray Hill und Dick Drake, mit Zirkusleuten, Polizisten, Anwälten, Tierdompteuren und Regierungsbeamten)
- der Verwertung von Dokumenten und
- der Ausnutzung von Beziehungen.


Als ich das 400 Seiten dicke Buch mit diesen Vorinformationen in der Hand hielt, weckte es einige Erwartungen. Zum Beispiel freute ich mich auf die Beschreibung des intensiven Umgangs mit Elefanten in einer Ausnahmesituation, von der ich mir einige außergewöhnliche Kenntnisse über diese riesigen Tiere erhoffte. Und verwies nicht der Satz auf dem Buchrücken "... erinnert daran, daß Tiere unsere Mitgeschöpfe sind" auf eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Problematik der Tierhaltung?

Was auch immer man jedoch von diesem Bericht erwartet - er ist ganz "anders".

Das liegt daran, daß eine Menge sozialer, wirtschaftlicher und juristischer Fragen im Zusammenhang mit der Tierbranche angesprochen werden, die das Thema "Elefanten" in den Hintergrund treten lassen.

Auf jeden Fall hat der Autor mich von Anfang an in Atem gehalten. Durch seinen Bericht entsteht sehr differenziert die Welt eines heute aussterbenden Berufes, dem des Tierpflegers, vor den Augen des Lesers. Die verschiedensten Probleme werden durch die Schilderung von Murrays Leben auf anschauliche Weise nahegebracht:
* wirtschaftliche und daraus erwachsene menschliche Schwierigkeiten in der Tierbranchen-Szene im Norden der USA und Kanada
* Tierschutz - seine politische Entwicklung, Widersprüchlichkeiten bei den Aktionisten, die ungeklärte rechtliche Seite und seine Auswirkungen auf den Beruf des Tierpflegers
* Probleme mit der Haltung verschiedenster Wildtiere (Schimpansen und Gorillas, Lamas, Bären, Elefanten) und Schwierigkeiten mit ihrer Nutzung in Zirkus, Film und Varieté
* Beobachtungen von Elefanten
* Prinzipien im Umgang mit Wildtieren: Zähmung, Dressur


Um nicht zu viel zu verraten, wird an dieser Stelle die inhaltliche Kenntnis über das Buch nur noch so weit vertieft, bis man weiß, worum es außerdem geht:

Die Handlung dreht sich hauptsächlich um die Person bzw. Persönlichkeit des kleinen, dickköpfigen Tierpflegers Murray Hill, der mit seinen Elefanten ausreißt, um zu seinem Recht zu kommen. Während der fünf Jahre, in denen er "untertaucht" (was bei seinen weitverzweigten Beziehungen in der Branche nicht schwierig ist), verändert sich sein Verhältnis zu seinen "Girls" Tory und Dutchess ständig. Die Tragik dabei liegt darin, daß Murray sie unrechtmäßigerweise nach dem Verkauf wieder zu sich nimmt, um sie zu schützen, weil sie mißhandelt, heruntergekommen und abgemagert sind; als er schließlich aufgefunden wird, sind die beiden "Girls" wieder krank und abgemagert, weil Murray zu alt geworden ist, um mit den körperlichen Anforderungen der Pflege fertig zu werden. Murrays Engagement für die Elefanten besteht in den fünf Jahren nur zum Teil aus der ihm gern zugesprochenen überdurchschnittlichen Zuwendung oder seinem in der Familie sprichwörtlichen Verantwortungs- und Pflichtgefühl für Tiere aller Art. Die eigentliche Motivation für die anstrengende Zeit ist das ausgeprägte, trotzige Bestehen auf seinem Recht, das nichts mehr mit den Elefanten zu tun hat. Gary Ross hegt sicherlich eine Menge Sympathien für diesen außergewöhnlichen Starrkopf, denn er beschreibt zwei Drittel des Buches den gesellschaftlichen Hintergrund und die privaten Zusammenhänge, die Murray zur Flucht treiben. Er schildert aber auch, wie sehr die Verbissenheit und Uneinsichtigkeit Murrays seinen Mitmenschen auf die Nerven geht, und wie er sich damit selbst in eine immer größere Enge treibt. Schließlich erkennt Murray seinen Irrtum:

Ich war immer bereit, die Konsequenzen dessen zu tragen, was ich tat, weil ich meinte, es sei der einzige Weg, zu meinem Recht zu kommen. Inzwischen ist mir klar, daß ich niemals mehr zu meinem Recht kommen werde. Trotzdem bin ich nach wie vor fest überzeugt davon, das Richtige getan zu haben, und ich würde auch alles wieder genauso machen. Nur, daß die Drakes die Girls wieder haben, frißt mich auf. Aufgeben werde ich niemals. (S. 383f)

Ein anderer, immer wieder eingeflochtener Teil der Handlung besteht aus der Darstellung von Murrays Widersachern Dick und Eddie Drake. Gary Ross versteht es, auch für diese beiden Verständnis und Mitgefühl zu wecken. Die Lebensgeschichte von Dick Drake, dem Vater von Eddie, ist abenteuerlich bis tragisch. Er arbeitet sich als Stuntman in der Tierfilmbranche hoch. In Verbindung mit seinem außergewöhnlichen Geschick für exotische Tiere aller Art ist er bei den größten Filmprojekten eine so qualifizierte Hilfe, daß er den Produzenten Millionen spart. Aber Dick bekommt von dem dicken Verdienst nie etwas ab.

Bestimmt hat jeder schon einmal Dick Drake in Filmen wie Flipper, Daktari, Bonanza oder High Chapparal als unbedeutenden Statisten im Hintergrund oder als Stuntman gesehen. Durch die Schilderung seiner Arbeit bekommt man nebenbei einen fachkundigen Einblick in Tierfilmproduktionen und in Klatschgeschichten über Prominente aus dieser Sparte.

Dick Drake beeinflußt seinen Sohn Eddie, der sich beim Elefantenkauf der "Girls" und im Umgang mit Murray nicht sonderlich geschickt anstellt. Eddie ist Tierpfleger, unzuverlässig und unbeherrscht. Er stellt Murray mit gewaltigem Starrsinn und verletztem Stolz die ganzen fünf Jahre nach, bis er endlich den entscheidenden Tip bekommt.

Letztlich stehen beide, Murray und Eddie, vor dem gleichen Problem, egal, in wessen Besitz die Elefanten rechtmäßigerweise gelangen. Sie sind Opfer einer sozialen Entwicklung geworden, sozusagen Relikte aus einer anderen Zeit:

"Das Leben, das Murray Hill als junger Mann begann, ist inzwischen nicht mehr legal möglich. Es ist nicht mehr möglich, seine Existenz darauf zu gründen, einen Schimpansen in einem Käfig auf den Rücksitz des Autos zu stellen und von Nachtclub zu Nachtclub zu reisen. Es ist nicht mehr möglich, Elefanten aus Bangkok oder Gorillas aus Nairobi zu importieren. Es gibt bereits Städte in Nordamerika, in denen überhaupt die Vorführung von "Tiernummern" untersagt ist, und so mancher Wanderzirkus hat es mittlerweile oft mit ebensoviel Protestdemonstranten wie zahlreichen Zuschauern zu tun.

Bei all seiner ausgiebigen Erfahrung mit exotischen Tieren jeglicher Art könnte Murray Hill heute bei keinem Zoo mehr eine Stellung finden. Der moderne Zoo sieht sich gezwungen, dem Tierpfleger aller Art universitätsgebildete Zoologen vorzuziehen, die ihm das Image einer wissenschaftlichen und erzieherischen Institution verleihen." (S. 397)

Der dritte Bestandteil des Berichtes von Gary Ross besteht aus der Darstellung der Tierschutz-Bewegung in Nordamerika. Murray Hill hat im Laufe der fünf Jahre mit Tierschützern der verschiedensten Richtungen zu tun: mit Veronika, der Freundin des Farmbesitzers, bei dem er fast vier Jahre lang untertaucht, und die fast hysterisch auf Schafschur, Angeln und Coyotenjagd reagiert; mit Isabelle Strauss, der Tierschutzanwältin und belächelten Pionierin auf diesem Gebiet, die sich intensiv seines Falls annimmt; mit den verschiedensten Leuten aus Tierschutzgruppen, die sich in verbittertem Streit gegeneinander absetzen.

Gary Ross kann sich bei der Schilderung dieser Tierschützer eines leicht ironischen Untertons nicht enthalten. Was seine eigene Meinung dazu ist, kommt erst in einer Art Ausblick seines Berichtes zum Vorschein. Danach könnte man sagen, daß dieses Buch voll im Trend der heutigen Tierschutz-Diskussion liegt. Es ist ein sogenanntes "Szene-Buch", hochaktuell für alle Tierschutzrichtungen in Europa.

Letztlich geht Gary Ross davon aus, daß sich alles schon in die "richtige" Richtung entwickeln wird. Er bewertet den Fall Murray Hill sehr moralisch, indem er die Frage stellt, ob die Elefanten Tory und Dutchess nicht die eigentlichen Opfer "unserer kurzsichtigen und despotischen Neigung (sind, d. Verf.), uns vom Tierreich vollständig abzusetzen und uns als höherstehend zu fühlen." (S. 394) Bei aller Fähigkeit zu technologischen und wissenschaftlichen Leistungen

... sind wir biologisch trotzdem Tiere: animalische Lebewesen, ebenfalls den Zwängen von Nahrungsaufnahme und Ausscheidung unterworfen, der Notwendigkeit, die weißen Blutkörperchen ständig neu zu produzieren und den Bestand der Art durch Zeugung von Nachkommen zu sichern. Die Evolution mag uns an die Spitze des Naturkontinuums gestellt haben, aber sie hat uns nicht von ihm lösgelöst: Wir sind Teil davon geblieben. Als die einzigen Tiere, die unsere Hegemonie in der Natur denkend reflektieren können, verweisen wir auf die Größe unseres Gehirns, auf die Bandbreite unserer Empfindungen und Emotionen, auf unsere Fähigkeit von Sprache und Schrift und auf unser Bewußtsein von Geschichte. Aber der Mensch hat der Naturwelt seinen Willen mit der Rücksichtslosigkeit eines Tyrannen aufgezwungen, und alle die Errungenschaften, die unsere Vorfahren noch staunen ließen, sind letzten Endes auch nur relativ. (S. 395/396)

Man könnte die Aussage auch etwas schonungslos so zusammenfassen: Der Mensch ist die Krone der Schöpfung und muß deshalb einfach freiwillig rücksichtsvoll bleiben und folgendes beachten:

Unsere Vorfahren hatten noch ein anderes Gefühl für das Zusammenleben mit der Kreatur zum gegenseitigen Vorteil.

Es kommt also auf das "richtige" Gefühl an - und auf den "gegenseitigen Vorteil".

Was Gary Ross dabei nicht berücksichtigt, ist, daß gerade das Bestreben, Vorteile aus der Verbindung zwischen Mensch und Tier zu ziehen, zu den qualifiziertesten Gewaltverhältnissen geführt hat. Vielleicht sollte ein ernstgemeinter Tierschutz mit einer Analyse dieses grundlegenden menschlichen Interesses beginnen.


Aber lassen Sie sich selbst entweder mitreißen von dem aktionsreichen und bunten Hintergrund des Buches, der die distanzierte Schaulustigkeit des Lesers hervorruft, oder versuchen Sie, sich von vielleicht einem der vielen angesprochenen Themen zum weiterreichenden Nachdenken anregen zu lassen. Ein Thema kann man bestimmt beim Lesen gründlich studieren, das ganz unbeabsichtigt aus der verwickelten Dramaturgie entsteht: das umfangreiche und gewaltreiche Beziehungsgeflecht von Menschen, die in der gleichen Notsituation stecken, und das sich allein aus dem egoistischen Verfolgen eigener Interessen und Vorteile heraus entwickelt. Dieses Prinzip der Kontaktes bezieht sich genauso auf das Verhältnis zwischen Mensch und Tier.


Gary Ross
Auf großem Fuß
Originalausgabe by Gary Ross, 1992
Goldmann Verlag, München, 1995