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REZENSION/091: Medizin und Gewissen (Kongreßdokumentation) (SB)


Herausgeber: Stephan Kolb und Horst Seithe/IPPNW


Medizin und Gewissen

50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß - Kongreßdokumentation



Im folgenden möchte ich ein Buch vorstellen, das sich thematisch mit den Verbrechen, die im Dritten Reich im Namen der Medizin begangen wurden, auseinandersetzt. Neben politischen und historischen Beiträgen gibt es zahlreiche Texte mit sehr persönlichen Berichten von Betroffenen. All diese Referate wurden im Oktober 1996 auf dem Nürnberger Kongreß mit dem Motto "Medizin und Gewissen" gehalten, der 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß an dieses historische Datum erinnern sollten. Das Anliegen dieser Tagung war es, die Auseinandersetzung mit diesem bis heute oftmals vermiedenen oder sogar verleugneten Teil der deutschen Geschichte - und der Rolle und Beteiligung der Ärzteschaft dabei - zu fördern. Die einzelnen Vorträge werfen nicht nur ein Licht auf die Geschehnisse in den 30er und 40er Jahren, sondern auch auf den heutigen Stand der Auseinandersetzung mit diesem Thema bzw. mit dem gesamten Fragenkomplex medizinischer Ethik. Dabei wird oftmals ungewollt deutlich, daß sich an der Grundhaltung und dem Denken vieler Ärzte, an ihrem Standesdünkel und an der geringen Bereitschaft, tatsächlich selbst und tatkräftig Verantwortung zu übernehmen, wenig geändert hat.

Was allerdings eine entscheidende Veränderung erfahren hat, ist die Art, wie bestimmte Themen zwar diskutiert, aber nicht mehr offen ausgesprochen werden. Heutzutage versteckt man sich hinter einem Netz aus staatlich legitimierten Konventionen, deren Zweck und Alibifunktion es ist, dem Arzt und Forscher einen Handlungs- und Entscheidungsspielraum zu schaffen, in dem er ohne ethisch- moralische Bedenken und rechtliche Konsequenzen tätig sein kann. Im allgemeinen folgt auf eine hitzige Debatte bei Einführung dieser Konventionen, eine Phase des stillschweigenden Einverständnisses und wenn dann so nach und nach die Bestimmungen gelockert werden, regt sich kaum noch Widerstand. Ein Beispiel hierfür ist der Protest, der sich bei Bekanntwerden der ersten Klonversuche an Tieren erhob. Inzwischen gibt es kaum noch Reaktionen auf die immer häufiger werdenden Berichte in den Medien zu diesem Thema, und den Meldungen über erste Klonversuche am Menschen wurde kaum noch Beachtung geschenkt. Nicht Kampfgeist, sondern Resignation beherrscht das Feld, und nach wie vor ist das Bedürfnis groß, vor den kommenden Entwicklungen, die scheinbar nicht mehr aufzuhalten sind, die Augen zu verschließen.


Im folgenden möchte ich zunächst in gebotener Kürze auf die Geschichte der Nürnberger Ärzteprozesse eingehen:

"20. August 1947. Der I. Amerikanische Militärgerichtshof verkündet die Urteile zum Abschluß des Nürnberger Ärzteprozesses, der 1946 begann. Von den 23 Angeklagten - darunter Vertreter der Nazi- Führungsorgane, Verantwortliche der "Euthanasie"- Aktion, Leiter des Sanitätsdienstes der SS und der Wehrmacht - werden sieben zum Tod verurteilt, neun zu Haftstrafen und sieben freigesprochen. [...] Die Zahl der Angeklagten in Nürnberg wäre erheblich größer gewesen, wenn nicht viele Schuldige geflohen wären bzw. Selbstmord begangen hätten. In seinem Urteil faßt das Gericht allgemeingültige Kriterien für "zulässige medizinische Versuche" zusammen, die einer "künftigen internationalen Vereinbarung als Diskussionsgrundlage dienen sollen". Dieser "Nürnberger Kodex" (Nuremberg Code) ist für die internationale Debatte über medizinische Ethik in der Nachkriegszeit und die Formulierung weiterer Gelöbnisse von grundlegender Bedeutung. Der entscheidende Grundsatz lautet:
Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. [1]

Als nach Kriegsende die Verbrechen, die in der Zeit des Nationalsozialismus von Ärzten und unter Beteiligung von Ärzten begangen wurden, nach und nach ans Tageslicht kamen, galt das Interesse der Deutschen Ärzteschaft keineswegs der schonungslosen Aufklärung der begangenen Verbrechen. Sorge bereitete vielmehr der zunehmende Vertrauensverlust der Bevölkerung in die moralische Integrität der Ärzteschaft und der medizinischen wissenschaftlichen Forschung. So lautete beispielsweise die Überschrift eines Artikels in der Frankfurter Rundschau vom 19. Oktober 1945: "Ärzte! Ihr müßt das Vertrauen des Volkes wiedergewinnen!"

Und als dann bekannt wurde, daß die amerikanische Militärregierung beabsichtigte, die in aufgefundenen Dokumenten bezeugten unmenschlichen Menschenversuche und den Tod von ca. 100.000 Geisteskranken gerichtlich zu verfolgen und die dafür verantwortlichen Ärzte zur Rechenschaft zu ziehen, beschlossen die im Laufe des Jahres 1946 wiedergegründeten Ärztekammern der drei Westzonen im November 1946 eilends zu handeln und

1. alle Schritte zu unternehmen, die geeignet sind, eine ärztliche Berichterstattung über den kommenden Nürnberger Ärzteprozeß zu erreichen, 2. alles zu tun, um den Begriff der Kollektivschuld von der Ärzteschaft in der Presse und der Öffentlichkeit abzuwenden. [2]

So wurde eigens zu diesem Zweck eine sechsköpfige Kommission zur Beobachtung des Prozesses zusammengestellt, deren Aufgabe es war, aufgrund der Prozeßakten ausführliche Berichte zu verfassen.

Was dabei herauskam, entsprach sicherlich nicht den Vorstellungen und Absichten der Ärztekammern beim Einsatz der Ärztekommission zur Beobachtung des Prozesses. So war es auch nicht erstaunlich, daß sowohl das vorläufige Ergebnis der intensiven Arbeit dieser Kommission, das am 3. April 1947 unter dem Titel "Das Diktat der Menschenverachtung" publiziert wurde, als auch der Abschlußbericht, der im April 1949 unter dem Titel "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" erschien, nur wenig Beachtung bei der Ärzteschaft fand. Der größte Teil der 10.000 an die Ärztekammern zur Weiterverteilung übergebenen Exemplare dieser Dokumentation verschwand auf undurchsichtige Weise.

Der Weltärztebund jedoch akzeptierte die Veröffentlichung als Beweis dafür, "daß die deutsche Ärzteschaft von den Ereignissen der verbrecherischen Diktatur abgerückt" sei und nahm sie im Jahr 1950 wieder als Mitglied auf. Insofern hatten die westdeutschen Ärztekammern letztlich doch noch erreicht, was sie wollten.

Da es nach dem Prozeß nun nicht mehr möglich war, die Beteiligung der Ärzteschaft an den begangenen Verbrechen zu leugnen, gab man sich alle erdenkliche Mühe, das ganze wenigstens so weit wie möglich herunterzuspielen. So stellte der Medizinstudent Fred Mielke, der ja selbst an der Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses mitgearbeitet hatte, 1948 in einem Referat vor dem Ärztetag u.a. die Behauptung auf, daß

"gegenüber etwa 90.000 in Deutschland tätigen Ärzten die Anzahl der an Medizinverbrechen unmittelbar Beteiligten verschwindend gering ist - etwa 300 bis 400 Ärzte, wenn man hoch schätzt".

Diese Aussage mußte später vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchungen von Alexander Mitscherlich, dem Leiter der Beobachterkommission, korrigiert werden.

1960 erfolgte eine Neuauflage der Prozeß-Dokumentation als Buch. Es trägt den Titel "Medizin ohne Menschlichkeit". Bislang wurden etwa 100.000 Exemplare davon verkauft, was zeigt, daß das Interesse an diesem Kapitel der Vergangenheit auch heute noch eher gering ist.


Soviel zur Geschichte des Nürnberger Ärzteprozesses...

50 Jahre danach machte es sich die deutsche Sektion der 'Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges' (IPPNW), die seit 1991 den Zusatz "Ärzte in sozialer Verantwortung" trägt, zur Aufgabe, mit einem großangelegten Kongreß in der geschichtsträchtigen Stadt Nürnberg an dieses historische Datum zu erinnern.

Die 'Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW)/Ärzte in sozialer Verantwortung', verstehen sich als eine berufsbezogene friedenspolitische Organisation. In ihr engagieren sich Ärztinnen und Ärzte,

"die sich in besonderer Weise für die Gesundheit ihrer Patienten einsetzen. Sie tun dies im Sinne einer "politischen" Medizin, die Leben erhalten und lebenswert gestalten will: für unser aller Zukunft und über alle politischen Grenzen und politischen Systeme hinweg." [3]

Der Nürnberger Kongreß, der vom 25. bis 27. Oktober 1996 stattfand, war ein großer Erfolg. Mehr als 1799 im Gesundheitswesen Tätige diskutierten mit 167 ReferentInnen über das Thema "Medizin und Gewissen". Die Vielzahl der Themen beschäftigte sich sowohl mit den Beteiligungen der Medizin an den Verbrechen der Nazis als auch mit den ethischen Herausforderungen der modernen Medizin. Neben bekannten Referenten wie Horst- Eberhard Richter, Karl Bonhoeffer, Klaus Dörner und zahlreichen namhaften Ärzten, Psychologen und Journalisten kamen auch Betroffene zu Wort, die sehr persönlich und offen über ihr eigenes Schicksal oder die Schicksale ihrer Eltern und Angehörigen sprachen.

In seinem zusammenfassenden Bericht beschreibt Michael Emmrich, Redakteur bei der Frankfurter Rundschau, die Atmosphäre des Nürnberger Kongresses wie folgt:

Der Kongreß war von einem außerordentlichen Klima der Aufmerksamkeit und des Gedankenaustauschs geprägt, das den Beobachtern auch so etwas wie eine Aufbruchstimmung vermittelte, Forschungslücken zu besetzen, die Diskussion weiterzutragen und auch die nahenden Entwicklungen der Medizin mit kritischem und aufmerksamem Blick zu verfolgen. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, Politiker, Studenten und Laien standen und saßen so zusammen, hörten einander zu und lernten voneinander - hoffentlich mit Folgen. [4]

Leider erweist sich die Gewißheit zahlloser Kongreßteilnehmer in der Alltagsrealität meist als ein verhängnisvoller Irrtum, daß angesichts der großen Zahl politisch aktiver und kritisch reflektierender Ärzte eine Entwicklung wie vor 60 Jahren heutzutage völlig undenkbar ist, daß man, gewarnt und gewappnet, den beängstigenden und rasanten Entwicklungen in der Medizin rechtzeitig entgegentreten und Einhalt gebieten wird und daß der Kongreß noch nachwirkt und etwas in Bewegung gesetzt hat.

Wer den Fragen 'Wie konnte das Ungeheuerliche geschehen?' und 'Wie hätte ich mich in der gleichen Situation verhalten?' nicht ausweicht, sondern bereit ist, sich mit ihnen bis in die letzte Konsequenz auseinanderzusetzen, der entdeckt sicher bald, daß es den meisten in "Medizin und Gewissen" veröffentlichten Referaten - zumindest den von ärztlicher Seite gehaltenen - an Kompromißlosigkeit mangelt und daß sie letzten Endes trotz ihres kritischen und politischen Anspruchs und der verbalradikalen Aussagen doch nur ein Produkt des ärztlichen Standesdenkens (und -dünkels) sind.

Jedenfalls hat Horst-Eberhard Richter, der mit seinem Vortrag den Kongreß eröffnete, all denjenigen, die an einer konsequenten und ernsthaften Auseinandersetzung mit der persönlichen Beteiligung sowohl an der geschichtlichen als selbstverständlich auch an der heutigen Entwicklung der Medizin und des Gesundheitswesens interessiert sind, keinen Gefallen getan, wenn er zu dem gewählten Motto des Kongresses "Medizin und Gewissen" folgende, durch ihre Mischung aus Subjektivität und Ungenauigkeit eher verwirrenden als klärenden Ausführungen macht:

"Wir haben das Thema "Medizin und Gewissen" für diese Tagung mit Bedacht gewählt, weil wir glauben, daß es vor allem auf die innere Haltung der Menschen ankommt, die in diesem Beruf heilen und forschen. Was wir Gewissen nennen, hat für unseren Beruf eine besondere Bedeutung. Es ist die ursprüngliche Quelle des Mitfühlens und ein unüberhörbarer Ansporn zum Helfen. Ihm liegt eine allgemein menschliche Anlage zugrunde, die Schopenhauer ein Mysterium und ein Urphänomen genannt hat. Das ist die innere Notwendigkeit, gefühlsmäßig an dem Leiden des anderen Anteil zu nehmen, verbunden unmittelbar mit dem Drang, ihm beizustehen. Im Gewissen steckt eine kategorische Mahnung, aber gleichzeitig ist es ein Wegweiser zu einer tiefen Befriedigung, zur Genugtuung nämlich, wenn das angespornte Helfen stattfinden kann. Diese Genugtuung scheint jedenfalls ursprünglich einer Mehrheit derjenigen vorzuschweben, die den Arztberuf erlernen wollen. So haben Beckmann, Moeller, Scheer und ich jedenfalls empirisch ermittelt, daß Bewerber für das Medizinstudium in ihrer Selbstbeschreibung vergleichsweise durch eine im Durchschnitt erhöhte soziale Sensibilität auffallen. Mehr als die Wähler sonstiger Studienfächer heben sie ihre Sorge um das Wohl anderer Menschen hervor, daher offenbar die Bevorzugung eines Berufes, der ihr Engagement für die Partei der Patienten, das heißt der Leidenden, herausfordert." [5]

Mit dieser unreflektierten Aneinanderreihung ungeklärter Begriffe, trägt Richter meines Erachtens in geradezu unverantwortlicher Weise dazu bei, das Thema der persönlichen Beteiligung zu verwässern und gleichzeitig dem Bild des moralisch über anderen Menschen stehenden Arztes zu huldigen. Der Autor vermeidet es, den Gewissensbegriff für sich präzise zu definieren. An keiner Stelle seines Vortrags wird kritisch hinterfragt, inwieweit sich eine so typisch subjektive Größe wie das Gewissen überhaupt dazu eignet, als Instanz für die moralische, ethische oder wie auch immer geartete Rechtfertigung ärztlichen Handelns zu Rate gezogen zu werden. Denn da das Gewissen das ausschließliche Produkt der gerade gültigen Werte, der gesellschaftlichen und sozialen Verhaltensregeln und Weltanschauungen sowie der Erziehung ist, muß das mit dem Gewissen verknüpfte Unrechtsverständnis notwendigerweise total unterschiedlich ausfallen und kann entsprechend niemals als allgemeingültiger, unhinterfragter Maßstab in Frage kommen.

Das hier zutage tretende starke Interesse daran, das Image des Arztes als eines vergleichsweise selbstlosen Menschen mit 'erhöhter sozialer Sensibilität' und dem Bedürfnis, anderen zu helfen, aufrechtzuerhalten, steht in krassem Widerspruch zu den seit eh und je auch in Medizin und medizinischer Forschung vorherrschenden finanziellen und wirtschaftlichen Interessen. An diesem unreflektierten, geradezu naiven Bild festzuhalten, deckt sich in meinen Augen mit dem spezifischen Interesse, gewisse Entwicklungen in der Medizin geflissentlich zu übersehen und die Erfahrungen und Lehren, die man speziell aus der deutschen Geschichte ziehen könnte, dem Vergessen anheim zu stellen.


Der vorliegende Band "Medizin und Gewissen" dokumentiert einen Querschnitt aus den Referaten des Nürnberger Kongresses. Um das Problem der Auswahl, das sich allein schon aus der Vielfalt der Themen und Referenten ergibt, zu lösen, greift diese Vortragssammlung auf die thematische Gliederung des Kongresses zurück. Nach einem Vorwort der Herausgeber, einem Geleitwort von Alice Ricciardi-von Platen, die als eines der sechs Mitglieder der deutschen Ärztekommission dem Nürnberger Ärzteprozeß beigewohnt hatte, und einer Einführung von Horst-Eberhard Richter, der als Mitbegründer der deutschen Sektion der IPPNW dem Nürnberger Kongreß sein Motto gab, folgen Beiträge zu folgenden Themenkomplexen:

- In das nationalsozialistische Unrechtssystem verstrickt - Opfer und Täter einer Medizin ohne Menschlichkeit - Die Medizin auf der Anklagebank - Die immanenten Gefährdungen der modernen Medizin - Nachbetrachtungen

Ein dokumentarischer Teil, in dem nicht nur der Wortlaut des Nürnberger Ärztekodex vom 20.8.1947 und Fotos vom Nürnberger Ärzteprozeß zu finden sind, sondern auch die auf dem Kongreß verabschiedete "Nürnberger Erklärung vom 27.10.1996", das "Moratorium für neue Gentests" und eine "Resolution zu Sterbehilferichtlinien", bildet den Anhang des Buches.


All denjenigen, die sich mit der Geschichte der Medizin im 20. Jahrhundert auseinandersetzen wollen und Interesse daran haben, sich den damit verknüpften grundsätzlich menschlichen Fragen zu stellen, ist diese Dokumentation sehr zu empfehlen. Die zahlreichen Referate, die jeweils einen kleinen Ausschnitt der Geschichte aus einer oftmals sehr persönlichen Perspektive beleuchten, vermitteln eindrücklich die Schrecknisse dieses düsteren Kapitels deutscher Geschichte. Jedoch beziehen sich längst nicht alle Vorträge nur auf die Vergangenheit. Eine ganze Reihe von Beiträgen knüpft das Band zu den aktuellen Entwicklungen in der Medizin und thematisiert Komplexe wie Bioethik, Euthanasie, Pränatale Medizin, Behinderungsbegriffe mit ihren Konsequenzen, Transplantationsmedizin sowie die zunehmende, höchst fragwürdige Verquickung von Krankheit und Profit.

Wie vor 60 Jahren, so verfolgen auch heute viele Menschen mit großer Besorgnis die politischen Entwicklungen sowie die sich daraus ergebenden Folgen und Veränderungen für Medizin und Forschung. Dennoch drängt sich einem die Frage auf, ob der Kongreß - trotz der vielgerühmten Offenheit, mit der auf dieser Großveranstaltung über die Themen diskutiert wurde - nicht vielmehr einer Beruhigung des Gewissens als einer unerschrockenen Auseinandersetzung mit der eigenen Beteiligung in ihren unterschiedlichsten Formen gedient hat und möglicherweise auch dienen sollte.

Es mag denn auch kein Zufall sein, daß die von Ellis Huber zitierte und meines Erachtens radikalste Aussage zu diesem Thema nicht vom Nürnberger Kongreß, sondern aus dem Jahre 1980 stammt. Damals sagte Klaus Dörner nämlich bei einer Podiumsdiskussion auf dem ersten Deutschen Gesundheitstag, der dem Deutschen Ärztetag entgegengestellt wurde:

Was man in der NS-Medizin findet, aber nicht nur da, sondern auch schon früher und auch heute noch - dies betrifft gleichzeitig auch möglicherweise mich -, ist die Leidenschaft von Ärzten und anderen Gesundheitsarbeitern, die Gesellschaft - wenn nötig um jeden Preis - von Krankheit zu befreien. Es ist ein größenwahnsinniger Helferdrang zu meinen, man könnte in der Medizin alles machen [...] Wenn so etwas wie ein Menschenbild existiert und wenn man darunter die Herrschaft von starken, erwerbsfähigen, gesunden und produktiven Menschen versteht, so ist das heute so wie damals, und dies gilt auch für mich selbst. Auch ich mache meine Wertungen. Damals war es nur krasser, aber ich denke, daß wir in derselben Tradition stehen.

Um eine Entwicklung, die sich vielleicht schon in wenigen Jahren rückblickend als durchaus vergleichbar mit den Geschehnissen im Dritten Reich erweisen könnte, aufzuhalten, braucht es mehr als eine intellektuelle Reflexion und Aufarbeitung der Geschichte. Als Stichworte für eine heute innerhalb und seitens der Medizin bzw. medizinischen Forschung drohenden Gefahr, deren Entwicklung erschreckende Parallelen zur Tendenz der dreißiger Jahre aufweist, seien hier nur die aktuelle Euthanasie-Debatte, das große Interesse an der Nutzung der Ressource "Mensch", vor allem aber die Veränderungen in der Rechtsprechung genannt, die im Zuge der zunehmenden Europäisierung scheinbar liberalisiert wird, in Wahrheit jedoch immer mehr Raum für fragwürdige Entscheidungen läßt und die Freiheit und Rechte des einzelnen Menschen und Patienten zunehmend einschränkt.


Eine umfassendere Dokumentation zum Nürnberger Kongreß "Medizin und Gewissen" liegt im Internet vor. Mehr darüber kann man bei der Deutschen Sektion der IPPNW erfahren:

Deutsche Sektion der IPPNW
Geschäftsstelle
Körtestraße 10, 10967 Berlin
Tel.: 030/693 02 44
Fax: 030/693 81 66


Quellenangaben:

[1] Die Chronik der Medizin, Chronik Verlag, S. 483

[2] Zitat aus dem Auftrag, den die Präsidenten der 1946 wiedergegründeten Ärztekammern der drei Westzonen am 2. und 3. November 1946 in Bad Nauheim dem Präsidenten der Großhessischen Ärzteschaft, Carl Oelemann, und dem Geschäftsführer der Ärztekammer Schleswig-Holstein, Karl Haedenkamp, übertrugen.

[3] Selbstdarstellung der "Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) / Ärzte in sozialer Verantwortung." (S. 476)

[4] Referat "Einmalige Erinnerungsarbeit", von Michael Emmrich (S. 448)

[5] Referat "Medizin und Gewissen", von Horst-Eberhard Richter (S. 22)


Herausgeber: Stephan Kolb und Horst Seithe/IPPNW
Medizin und Gewissen
50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß - Kongreßdokumentation
Mabuse Verlag, Frankfurt am Main, 1998
490 Seiten
ISBN 3-929 106-52-3 (Broschierte Ausgabe) - 58,- DM
ISBN 3-929 106-51-5 (Gebundene Ausgabe) - 78,- DM