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REZENSION/117: Hartmann - Der Fall Milosevic (Jugoslawien-Tribunal) (SB)


Ralph Hartmann


Der Fall Milosevic

Ein Lesebuch



In Zeiten des forcierten Überlebenskampfes und der systematischen Verdummung bedarf es starker Kontrastmittel, um politisch noch einmal zur Besinnung zu kommen. Bei dem vorliegenden Buch "Der Fall Milosevic" handelt es sich um ein solches, denn es wird jedem Leser, der sich bei der Berichterstattung zu seinem Prozeß bislang ausschließlich den Mehrheitsmedien ausgesetzt hat, die Augen übergehen lassen ob der ungeahnten Wirklichkeit hinter den Nebelwänden der Kriegspropaganda. Um eine solche handelt es sich bei praktisch allen Artikeln und Sendungen, die den militärischen Sieg der NATO durch die parajuristische Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen Überfalls auf Jugoslawien im März 1999 moralisch komplettieren wollen. Vor dem Internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) wird nicht etwa die Internationalisierung festverankerter Rechtsprinzipien zum Wohle all jener Menschen praktiziert, die aufgrund politischer Gewaltverhältnisse nicht an den Segnungen der Rechtsstaatlichkeit teilhaben können, wie die gängige Darstellung internationaler Strafjustiz glauben macht, sondern dort exekutiert die internationale Gemeinschaft, also die Regierungen der EU und USA, das Prärogativ der Siegerjustiz.

In Den Haag findet ein politischer Schauprozeß statt von immenser Bedeutung nicht nur für Serbien und das ehemalige Jugoslawien, sondern alle Menschen, die der monolithischen Gewalt der Neuen Weltordnung gegenüber noch auf den Prinzipien nationalstaatlicher Souveränität und basisdemokratischer Selbstbestimmung beharren. Wie gewichtig die Mängel der nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten Staatenordnung auch sein mögen, als letzte Barriere gegen den Verfügungsanspruch eines ausschließlich am Raub der Lebenschancen anderer interessierten und seine Ziele mit Gewaltmitteln aller Art durchsetzenden Verwertungsregimes ist sie allemal schützenswert. In diesem Konflikt zwischen den die westlichen Administrationen, Streitkräfte und Medien kontrollierenden Kräften und den sich ihnen widersetzenden Menschen, Völkern und Nationen stand die Bundesrepublik Jugoslawien unter ihrem Präsidenten Slobodan Milosevic zwar auf verlorenem Posten, was die Möglichkeiten ihrer Verteidigung gegen die vielfach überlegenen NATO-Staaten betraf, doch setzte ihre Regierung mit dem gescheiterten Versuch, das Land gegen wirtschaftliche Auszehrung, feindselige Propaganda, diplomatische Erpressung sowie kriegerische Zerstörung zu verteidigen, ein deutliches Zeichen unbeugsamer Streitbarkeit.

Die Möglichkeit, daß sich Menschen aus anderen Gründen als denen der persönlichen Vorteilnahme sogar in aussichtsloser Lage zum Widerstand entschließen und sich nicht durch fremde Interessen spalten und okkupieren lassen, gehört zu denjenigen Qualitäten humaner Entwicklung, die der Qualifizierung von Herrschaft bis hin zur völligen Atomisierung und weitreichendsten Verdinglichung ihrer Subjekte am hartnäckigsten im Wege stehen. Der ehemalige jugoslawische Präsident hat sich bei allen Widersprüchen, die jedem System staatlicher Machtausübung in einer von Kapitalinteressen und Überlebensnot bestimmten Welt inhärent sind, glaubwürdig auf die Seite derjenigen gestellt, die dem vermeintlich unaufhaltsamen Vormarsch räuberischer Interessen nicht durch den Versuch, ihren mörderischen Auswirkungen durch die Teilnahme an diesem als Globalisierung verharmlosten Prozeß zu entgehen, entsprechen wollen.

Der grundsätzliche Charakter dieses Konflikts wird in dem Buch des ehemaligen Botschafters der DDR in Belgrad, Ralph Hartmann, an vielen Stellen deutlich. Die Spannweite der Widersprüchlichkeit, die sich zwischen der politischen und medialen Propaganda, mit der Milosevic zur personifizierten Nemesis der freien Welt hochstilisiert wird, und dem Schicksal der seit Anfang der neunziger Jahre im Fadenkreuz insbesondere deutscher Eroberungsinteressen stehenden Jugoslawen entfaltet, ist so frappant, daß schon die daraus hervorgehenden Orienterungsnöte von der eingehenden Beschäftigung mit der Materie abschrecken können. Hat man sich jedoch aus nicht nur rein theoretischem Interesse, sondern als Bürger eines an diesem Feldzug maßgeblich beteiligten Staates einmal mit der Sicht der Betroffenen vertraut gemacht und die Ausführungen Milosevics vor dem ICTY, die in dem Buch in aller Breite dokumentiert sind, der unvoreingenommenen Überprüfung unterzogen, dann sind dem Opfer der Mehrheitsmedien eine Fülle erhellender Erkenntnisse sicher.

Dabei kann man Hartmann auch als Gegner Milosevics nicht den Vorwurf machen, den Leser durch die Präsentation ausschließlich in den Kreisen der Anhänger des Parteischefs der serbischen Sozialisten verorteten Materials indoktrinieren zu wollen. Ganz im Gegenteil, die Chronologie der Ereignisse, die sich vom 30. März 2001, als die Regierungen der USA und EU dank des von ihnen ausgeübten diplomatischen und finanziellen Drucks auf die neuen Regierungen Serbiens und Jugoslawiens unmittelbar vor dem Erfolg der Verhaftung Milosevics standen, bis zum Beginn des Prozesses im Februar 2002 erstreckt, setzt sich zu einem großen Teil aus den Meldungen des Belgrader Radiosenders B92 zusammen, der als maßgebliche Stimme der gegen Milosevic gerichteten Opposition und Nutznießer westlicher Medienhilfe jedes Eintretens für den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten unverdächtig ist.

Auch die vielen Zitate von alten Jugoslawienkämpfern aus der politischen Klasse Berlins sowie die Ausschnitte aus den Redaktionen ihrer Propagandakompanien wären normalerweise zu nichts anderem angetan als den Sachverstand des Bild-Lesers zu nähren, für den Milosevic dank der dort häufig verwendeten Titulierung aus dem Bereich des Fleischerhandwerks vermutlich zur Innung der Metzger gehört. Allerdings entlarven sich die exemplarischen Dokumente aus dem Arsenal des deutschen Imperialismus vor dem Hintergrund der von feiner Ironie durchwirkten Überleitungen Hartmanns zwischen den Stationen, die Milosevic als Häftling der serbischen Behörden und schließlich des ICTY durchlaufen mußte, in ihrer Diffamierungsabsicht praktisch von selbst. Dazu tragen neben den eigenen Beiträgen des Autors eine Vielzahl von Artikeln und Dokumenten aus den Reihen der Kritiker des Jugoslawienkriegs wie der erklärten Unterstützer Milosevics, die versuchen, ihm juristisch angesichts der massiven Vorteile des ICTY-Apparats den Rücken zu stärken, bei.

Der Autor des "Lesebuchs", das in einer anderen Republik als dieser durchaus als Materialsammlung für Bildungseinrichtungen aller Art Verwendung fände, gibt sich allerdings keineswegs einer vorbehaltlosen Unterstützung der Person Milosevics hin, sondern erweist sich als mit allen Finessen diplomatischer Taktik vertrauter Anwalt der linken deutschen Opposition, die mit einer Verurteilung des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten nicht minder getroffen werden soll als diejenigen Bürger Serbiens, die sich dem Vermächtnis des sozialistischen Staates der Südslawen verbunden fühlen. So verweist Hartmann in einer Rede an die Adresse der Friedensbewegung vom 16. Juni 2001 ausdrücklich darauf, daß es ihm bei seinem Engagement vor allem um die politischen Implikationen des Verfahrens vor dem ICTY geht:

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht um die Schuld oder Unschuld des ehemaligen serbischen und jugoslawischen Präsidenten, es geht nicht um die Person Milosevic, es geht um den 'Fall Milosevic'. In den Wirren und Schrecken der von außen geschürten innerjugoslawischen Konflikte und Bürgerkriege, in der zehnjährigen Tragödie des Zerfalls der früheren jugoslawischen Föderation haben unzählige Menschen, Serben und Kroaten, Moslems und Albaner, Montenegriner und Roma, Frauen, Männer und Kinder anderer nationaler Zugehörigkeit unermeßliches Leid erfahren. Keiner der politisch Verantwortlichen in der zusammengebrochenen Föderation und in den daraus hervorgegangenen neuen Staaten kann von sich behaupten, in diesem Grauen ohne Fehl und Tadel gehandelt zu haben, frei von jeglicher Schuld zu sein. Das gilt gewiß auch für Slobodan Milosevic, der zum Zeitpunkt des offenen Ausbruchs der innerjugoslawischen Krise an der Spitze Serbiens stand und zu denen gehörte, die bis zuletzt für den Erhalt der im Feuer des Zweiten Weltkrieges, im Befreiungskampf gegen die Hitlerwehrmacht entstandenen jugoslawischen Föderation, bestehend aus sechs Staaten, eingetreten war.

Hartmann ist sich offensichtlich bewußt, mit welchem Ausmaß von Irreführung und Dämonisierung er es auch bei der deutschen Friedensbewegung zu tun hat, von denen große Teile bis heute nicht willens oder in der Lage sind, den imperialistischen Charakter der Zerschlagung Jugoslawiens und die dementsprechende Position seiner Verteidiger zu würdigen. Dieses Problem geht natürlich weit über das Thema des Jugoslawienkriegs hinaus und besitzt gerade angesichts des immer schärfer entbrennenden Feldzugs gegen den Terrorismus ein immenses Konfliktpotential. Gerade deshalb ist die Lektüre dieses Buches so wichtig, denn es läßt schon durch die Widersprüchlichkeit des dokumentierten Materials Grundlinien imperialistischer Strategien erkennen, ohne deren Analyse ein Kriegsgegner fast zwangsläufig in die Falle legalistischer Argumentationen läuft.

Insbesondere zu empfehlen ist daher der Aufsatz des Rechtsanwalts Eberhard Schultz über die Vorbildfunktion des ICTY für den Internationalen Strafgerichtshof (ICC), dessen Konstitution allgemein gefeiert wird. Schultz erklärt, was von der auch in der Linken weitverbreiteten Ansicht zu halten ist, künftig käme eine nicht mehr zu korrumpierende Form von internationaler Gerechtigkeit über die Welt, mit der auch bislang durch Amt und Würden unerreichbare Täter zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Die Annahme, die bei der Lektüre des Buches transparent werdende politische Selektivität des ICTY sei auf dieses ad hoc-Tribunal beschränkt und gehöre nicht zu den grundlegenden Eigenschaften jeder internationalen Strafjustiz, die unter der Regie einer spezifischen globalen Machtkonstellation inszeniert würde, entlarvt Schultz als bestenfalls von naiver Verkennung, schlimmstenfalls jedoch gezielter Irreführung getragen.

Für den im "Fall Milosevic" bereits eindeutiger positionierten Leser dürfte die Dokumentation der Stellungnahmen des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten, die er während seiner fünf Anhörungen und zu Prozeßbeginn in Den Haag abgegeben hat, interessant sein. Als gelernter Anwalt und engagierter Sozialist ist Milosevic nicht nur sein bester Verteidiger, sondern vor allem ein kompetenter Sachwalter desjenigen Jugoslawiens, das unter seiner Führung einer seit Ende der Blockkonfrontation in Europa beispiellosen ideologischen Diffamierung, diplomatischen Isolation, ökonomischen Drangsalierung und militärischen Aggression ausgesetzt war. Indem Milosevic dem politischen Charakter des Versuchs entspricht, anhand der Bezichtigung seiner Person die Kriegsführung der NATO und die hegemoniale Neuordnung Südosteuropas zu legitimieren, entkräftet er nicht nur die haltlosen Bezichtigungen der drei gegen ihn gerichteten Anklagen, sondern räumt auch gleich mit den sattsam bekannten Vorurteilen hinsichtlich seiner politischen Position auf.

Um nur ein Beispiel zu nennen, sei hier ein Zitat aus der fünften Anhörung Milosevics am 9. Januar 2002 angeführt. Es vermittelt eine Ahnung davon, warum Jugoslawien Anfang der neunziger Jahre als denkbare Alternative zur Etablierung einer nach innen kapitalistisch-repressiv und nach außen imperialistisch-aggressiv agierenden Europäischen Union demontiert werden mußte:

In Wahrheit bestand ein klarer Plan gegen einen Staat, der, so würde ich sagen, in jener Zeit ein Modell eines zukünftigen europäischen Föderalismus war. Das war Jugoslawien, in dem es mehrere Nationalitäten in einem föderalen System gab und die verwirklichten, gleichberechtigt zu leben, erfolgreich zu leben, sich zu entwickeln und sozusagen der ganzen Welt ein Beispiel zu geben, wie man zusammenleben kann. Die ganze Zeit haben wir für Jugoslawien gekämpft, für den Erhalt Jugoslawiens.

Dieses Bekenntnis steht in krassem Widerspruch zu der Unterstellung, ein serbischer Diktator habe aus nationalchauvinistischen Gründen einen Krieg nach dem andern entfacht und dabei eine Vertreibungs- und Vernichtungspolitik betrieben, die sogar den Vergleich zu Hitlerdeutschland erlaube. Wer sich dafür interessiert, wie es zu einer derartigen Unvereinbarkeit der von den NATO-Staaten postulierten historischen Wahrheit mit der Sicht der von ihrer Aggression betroffenen Jugoslawen kommt, kann "Der Fall Milosevic" zum Anlaß nehmen, sich tatsächlich eine eigene Meinung zu bilden und sich diese nicht durch die vorherrschende Propaganda aufoktroyieren zu lassen. Dabei ist die Frage, wieso im Falle Jugoslawiens eine Vielzahl von Zwangsmitteln aus dem Arsenal der weit überlegenen EU und USA gegen die Belgrader Regierungen ins Feld geführt wurden, von zentraler Bedeutung. Ginge es tatsächlich um so etwas wie Wahrheit oder Gerechtigkeit, dann ist nicht ersichtlich, wieso die Anwendung offensichtlicher Gewalt durch das Den Haager Tribunal, das Milosevic nach Belieben das Rederecht entzieht, das ihn trotz seines Versprechens, sich allen Anschuldigungen zu stellen, gefangenhält und damit seine juristische Bemittelung mindert, das seine prozessualen Verfahrensregeln in eigener Regie festlegt, das die Öffentlichkeit wiederholt aufgrund angeblicher Geheimhaltungsgründe ausgeschlossen hat und das mit erpresserischen Mitteln die Auslieferung weiterer Angeklagter durch die Belgrader Regierungen erzwingen läßt, erforderlich sein soll.


Ralph Hartmann
Der Fall Milosevic
Ein Lesebuch
Karl Dietz Verlag, Berlin 2002