Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/126: Arnold, Krämer, Hg. - Sicherheit für das größere Europa (SB)


Hans Arnold/Raimund Krämer (Hg.)


Sicherheit für das größere Europa

Politische Optionen im globalen Spannungsfeld



Schon der Titel weist die vorliegende Publikation als Produkt systemkonformer Politikwissenschaft aus, und die Tatsache, daß sie in der Schriftenreihe EINE Welt der Bonner Stiftung Entwicklung und Frieden erschienen ist, verrät alles über den Standort der in dem Buch vertretenen Autoren. Wenn politische Literatur im Rahmen einer durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstützten Stiftung entsteht, deren Arbeit auf den "drei Prinzipien globale Verantwortung, überparteilicher und interkultureller Dialog sowie interdisziplinäres Verständnis von Interdependenzen" beruht und dessen Kuratorium der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Wolfgang Clement vorsteht, dann ist man zu Recht darauf gefaßt, es mit einer von Affirmation bis Apologetik bestehender Herrschaftsverhältnisse bestimmten Lektüre zu tun zu bekommen.

Wenn man dies weiß, dann ist der dem Kuratoriumsmitglied Egon Bahr, einem der erfahrensten Außenpolitiker der BRD, gewidmete Band durchaus von Interesse. Das gilt weniger für das nur zwei Seiten lange Vorwort des ebenfalls dem Kuratorium der Stiftung angehörenden Staatsministers im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, der an dieser Stelle nur einmal mehr beweist, daß er seinem Herrn und Gönner Joseph Fischer nicht einmal in Sachen präsentabler Rhetorik das Wasser reichen kann, als für die 19 Beiträge ebenso vieler deutscher und vor allem osteuropäischer Politologen und Historiker. Sie stellen deutsche wie europäische Außen- und Sicherheitspolitik ganz und gar aus der Sicht der Profiteure des imperialistischen Wettstreits um globale Einflußsphären dar und setzen dabei einige durchaus interessante, da Strategie und Ziele der europäischen Funktionseliten dokumentierende Konzepte politischen Denkens frei.

Über den alle Analysen der und Empfehlungen zur europäischen Sicherheit durchziehenden Mangel einer nicht bei ökonomischen Zwängen und gesellschaftlichen Konflikten ansetzenden, sondern diese zementierenden Sichtweise kann man leicht hinwegsehen, auch wenn die Lektüre durch das zirkelschlüssige Insistieren auf einem selbstevidenten Sicherheitsbegriff bisweilen etwas langweilig gerät. Die seit dem Niedergang sozialrevolutionärer Theorien betriebene Entkopplung sozialökonomischer Analysen und machtpolitischer Strategien zeichnet die etablierte Politikwissenschaft mehr denn je aus, davon zeugt gerade dieses Buch, das sich mit Fragen staatlicher Gewalt beschäftigt, ohne diese in ihrem Nutzen für kapitalistische Bestandssicherung zu adressieren.

Dementsprechend sind die zu Beginn des Buches unter dem Titel "Europas Identität und Reichweite" präsentierten Versuche, nämlicher Entität so etwas wie eine historische, kulturgeschichtliche oder auch politische Kontur zu verschaffen, die sich von der zweckrationalen Kargheit des EU-Betriebes abhöbe, von einem angesichts der jüngsten Geschichte des Kontinents schwer verdaulichen Euphemismus geprägt. Als Revue vergeblicher Versuche, dem europäischen Konglomerat aus national und kulturell höchst unterschiedlichen Staaten ein gemeinsames Ganzes überzustülpen, liest sich dieser Teil dennoch unterhaltsam. So wird dort an das "Europäische Wunder" des Historikers Paul Kennedy angeknüpft, von dem Autor Erhard Crome zu berichten weiß, daß das "Heraustreten Europas aus dem jahrtausendealten Trott der agrarischen Gesellschaften am Beginn der Neuzeit und in der weltgeschichtlich erstmaligen Entstehung kapitalistischer Industriegesellschaften ... im Vergleich zu China oder dem Osmanischen Reich, in denen das Herrschaftssystem des Großreiches die Öffnung eines Entwicklungspfades in Richtung Kapitalismus und Industriegesellschaft verhinderte", eine einmalige historische Koinzidenz gewesen sei.

Was an den genannten Beispielen gegenüber dem Ausgreifen des christlich-europäischen Kolonialismus und seiner internen Konkurrenzverhältnisse, die in den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts kulminierten, so viel schlechter gewesen sein soll, wird nicht weiter ausgeführt. Zwar war das Osmanische Reich alles andere als ein Ideal egalitärer Gesellschaft, dennoch hat es eine Jahrhunderte währende politische Ordnung etabliert, die den einzelnen Völkern weitreichende Eigenständigkeit zugestand und verhältnismäßig wenige kriegerische Auseinandersetzungen im Innern erlebte, während man sich in Europa auf mörderische Weise gegenseitig Konfessionen und Herrschaftsansprüche aufzwingen wollte. Cromes ultimativ getroffene Feststellung, daß derjenige, der "für ein Abbremsen oder eine Reduzierung der europäischen Integration eintritt - unabhängig von seinen vorgebrachten Argumentationsfiguren -, für einen 'Rückruf in die Geschichte' im Sinne der Nationalstaaten-Konkurrenz und zum deutschen Dilemma" votiere, läßt nicht die geringste Bereitschaft erkennen, über den Tellerrand einer positivistischen Geschichtsmechanik, die die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Menschen durch das Primat staatlicher Regulation beantwortet hat, hinauszublicken.

Cromes Kompetenz für das Problem sozialer Konflikte drückt sich denn auch in Belanglosigkeiten wie der Aussage aus, hinsichtlich der von André Gorz unterstellten "neuen Form von Klassenkampf" in Europa wären "die EU einerseits und die USA andererseits die Hauptkontrahenten in dem Kampf, den Kapitalismus sozial zu zügeln oder das Soziale hintenanzustellen". Das völlige Versagen der in diesem Buch zu Worte kommenden Wissenschaftler hinsichtlich der brennenen Frage des Sozialkampfes wird von Konzepten wie der "geokulturellen Sichtweise", die der polnische Historiker Krysztof Malinowski hinsichtlich der Bestimmung der EU- Ostgrenze empfiehlt, nur notdürftig kaschiert. Sein Ringen um die Anerkennung Polens als europäischem Staat mag spezifischen Ängsten im Land des EU-Beitrittskandidaten entsprechen, reflektiert aber vor allem den historischen Rückschritt eines einstmals sozialistischen Staates, der auf der einen Seite starken nationalen Ambitionen frönt, während er sich diese auf der andern Seite hinsichtlich der souveränen Vertretung der materiellen Interessen seiner Bevölkerung von der EU austreiben läßt.

Weit interessanter sind der zweite und der dritte Teil des Buches, die sich mit den strukturellen Grundlagen und politischen Perspektiven der europäischen Sicherheitspolitik befassen. Dort bekommt der Leser alles geboten, was er über zentralistische Ansätze wie den des "Kerneuropa" schon immer wissen wollte, natürlich ohne über die imperialistischen Implikationen einer innereuropäischen Staatenhierarchie aufgeklärt zu werden. Neben der ideologischen, da durch die Realität machtpolitischen Handelns längst dementierten Aufbereitung der Union zur Wertegemeinschaft, derzufolge "die Grenzen, die der Amsterdamer Vertrag der Unionsmitgliedschaft setzt, nicht kultureller, geschichtlicher oder geographischer, sondern vielmehr politisch-konstitutioneller Art" wären, also jeder europäische Staat Mitglied werden könne, "wenn er die Prinzipien des Artikel 6(1) erfüllt: Freiheit, Demokratie, Achtung der Grund- und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit sowie die Prinzipien des freien Marktes", erfährt man einiges über die theoretische Grundlegung eines Sicherheitsbegriffs, dessen defensiver und wertgebundener Anschein bloße Propaganda ist.

So wird etwa in dem Beitrag des britischen Politologen Stuart Croft das schöne Wort von der "Sicherheitsordnungspolitik" kreiert, dessen englisches Original "Security Governance" nicht minder eindeutig über die Intentionen seiner Nutzer aufklärt. Wenn Croft den Sicherheitsbegriff auf den "Schutz des Einzelnen oder der Gesellschaft innerhalb von Staaten oder Regionen gegen autoritäre politische und unfaire soziale Strukturen oder sogar gegen die Folgen von Umweltzerstörung" ausweitet, dann ist die Abwesenheit all dieser Kriterien in der EU natürlich implizit. Daß der in den meisten Beiträgen als positiver Beitrag zur Konsolidierung europäischer Sicherheitspolitik heranzitierte Jugoslawienkrieg in jedem dieser Fälle das glatte Gegenteil bewirkt hat, nämlich den Sturz einer demokratisch gewählten Regierung, die durch eine von der EU massiv protegierte Clique neoliberaler Modernisierer abgelöst wurde, welche die Bevölkerung des bereits durch EU-Sanktionen verarmten Landes noch tiefer in die soziale Katastrophe riß, sowie die Belastung der Gesundheit der Jugoslawen durch die Bombardierung ziviler Industrieanlagen, deren Auswirkung einer Kriegsführung mit chemischen Waffen gleichkam, sollte nicht unerwähnt bleiben.

Einig sind sich die Autoren auch im Postulat einer postnationalen Weltordnung, in der nicht mehr Nationalstaaten, sondern ein Geflecht von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren das Sagen habe. Wie dieses "pluralistische System der internationalen Beziehungen", so Jiri Sedivy, mit aggressiven Staaten wie den USA, Israel oder Britannien harmoniert, bleibt natürlich unausgeführt. Dafür werden Vorwände für Aggressionskriege wie "Staatsversagen und Schurkenstaaten" der imperialistischen Interessenlage entsprechend unkritisch übernommen, und der Mangel an Legitimität des westlichen Interventionismus geht im Postulat einer neuen Weltordnung unbemerkt unter.

Schließlich werden auf der Hand liegende Kriegsgründe durch die summarische Aufzählung von "wirtschaftlichen Problemen (Verluste wirtschaftlicher Alimentation nach dem Ende des Kalten Krieges, unzureichende Integration in den Weltmarkt, Plünderung der eigenen wirtschaftlichen Ressourcen)" in außereuropäischen Staaten schlichtweg negiert. Wenn Sedivy im gleichen Absatz unter ferner liefen konstatiert, "regionale Entwicklungsstrategien sowie die Globalisierung der Märkte (führten) zur sozialen Verelendung großer Teile der Bevölkerung", dann bleibt es dem Leser überlassen, sich einen Reim auf die Inanspruchnahme der "unzureichenden Integration in den Weltmarkt" als gleichrangigem Kausalfaktor zu machen.

Aber der blinde Fleck hinsichtlich jeglicher Kapitalismuskritik hat, wie gesagt, Methode. In diesem Buch wird schließlich der symptomatischen Unterdrückung der zerstörerischen Folgen großangelegter Ausbeutung, die unter dem Titel "Sicherheit" im Interesse einer kleinen Minderheit der Weltbevölkerung vollzogen wird, das Wort geredet. Und da werden durchaus Nägel mit Köpfen gemacht, was die dafür verlangten Mittel wie ihre administrative Organisation betrifft. So erlangt der Leser einen guten Einblick in die sicherheitspolitische Agenda der EU, deren nach innen wie außen gerichtete Präventivdoktrin keinen Zweifel an der erwünschten Entwicklung der Union zum autoritären Superstaat läßt.

Ansonsten kreisen die sicherheitspolitischen Beiträge um die Perspektiven der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik (GASP) im allgemeinen und die Militarisierung der EU sowie ihr Verhältnis zu den USA im besonderen. Dieses wird mehrheitlich skeptisch beurteilt, auch wenn die übliche Position Washingtons in dem Beitrag der US-Politologin und -Diplomatin Edwina S. Campbell exemplarisch abgehandelt wird. Ohne es allzudeutlich auszusprechen, wird die Frage nach der Bewältigung innerimperialistischer Konkurrenz durch die militärische Stärkung Europas beantwortet, dessen Aussichten darauf, sich im Antagonismus zu den USA bewähren zu können, allerdings rundheraus negativ beurteilt werden. Hier ist der abschließende Beitrag des 1923 geborenen Mitherausgebers Hans Arnold hervorzuheben, der hinsichtlich der Ambivalenz einer maßgeblich von den USA kontrollierten NATO und dem Anspruch der EU auf souveräne Sicherheitspolitik eine ungewöhnlich deutliche Sprache spricht. Leider erfolgt seine negative Beurteilung der Existenzberechtigung der NATO nicht aus antimilitaristischen, sondern eurozentrischen und deutschnationalen Gründen.

Die von ihm aufgeworfene Frage "Welche Sicherheit für das größere Europa?" ist im Grunde keine, denn die Antworten sind jedem ersichtlich, der die Ausbildung supranationaler Handlungskompetenzen in Europa verfolgt, und sie werden in dem Buch mit bisweilen penetranter Redundanz wiederholt. Es geht um den Ausbau herrschaftssichernder Gewalt auf jeder Ebene, also militärisch durch die Formierung europäischer Streitkräfte, polizeilich durch die enge Zusammenarbeit nationaler Repressionsapparate, staatlicherseits durch ein hohes Maß an administrativer Angleichung auf EU-Ebene und institutionell durch eine Stärkung der Nichtregierungsorganisationen, über deren Kompatibilität mit vorherrschenden Kräften in der Regel kein Zweifel bestehen kann. Der in dem Buch vorgenommenen Idealisierung suprastaatlicher und internationaler Regulation steht allerdings eine praktische Stärkung nationalstaatlicher Ambition in Europa wie Nordamerika gegenüber, deren Bewertung allemaßen zu kurz kommt, da sie den glatten Übergang von der klassischen Staatenordnung zur Neuen Weltordnung in Frage stellt.


Hans Arnold/Raimund Krämer (Hg.)
Sicherheit für das größere Europa
Politische Optionen im globalen Spannungsfeld
Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn, 2002