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REZENSION/198: Andreas Wehr - Europa ohne Demokratie? (EU-Verfassung) (SB)


Andreas Wehr


Europa ohne Demokratie?

Die europäische Verfassungsdebatte - Bilanz, Kritik und Alternativen



Den meisten Menschen ist die Europäische Union nach wie vor numinos. Sie spüren die Auswirkungen der europäischen Integration immer deutlicher, basieren doch insbesondere im ökonomischen Bereich immer mehr Gesetze auf EU-Beschlüssen, während die Urheberschaft dieses Einflusses auf ihre Lebensgestaltung merkwürdig gesichtslos bleibt. Die Bürger der EU-Mitgliedstaaten wissen schon aufgrund der Tatsache, daß ihre Regierungen die supranationale Regulationsebene gerne als Sachzwang in Anspruch nehmen, der die eigene Handlungsvollmacht beschränkt und zu bestimmten, meist unpopulären Entscheidungen nötigt, um den dominanten Einfluß der Union. Diese verfügt mit Kommission, Rat, Ministerrat und Parlament zwar über Instanzen, die dem Bürger mitteilen, wo die Kette der Adressierung politischer Verantwortung endet, doch wissen die wenigsten dezidiert über Funktionsweise, Kompetenzabgrenzung und Legitimation der europäischen Institutionen Bescheid.

Bei der jüngsten Debatte um das Abhalten von Volksabstimmungen zur Verabschiedung des Europäischen Verfassungsvertrags wurde vor allem eines deutlich - die wenigsten Politiker sind bereit, die europäische Integration so transparent zu gestalten, daß sie dem demokratischen Anspruch der Wertegemeinschaft genügte. Es scheint fast so, als wolle man die Exklusivität des angeblichen Sachzwangs nicht nur erhalten, sondern durch eine unter weitgehendem Ausschluß der Bevölkerung formierte Machtkonzentration auch noch ausbauen. Das von EU-Politikern an die Wand selbstherrlicher Ambitionen gemalte Menetekel eines durch die Stimmgewalt des Souveräns bedingten Scheiterns des Verfassungsentwurfs demonstriert die dezisionistische Vorwegnahme einer Form politischer Willensbildung, die kaum grundlegender sein könnte.

Wenn schon das Zustandekommen einer Verfassung, die im Falle der EU aufgrund des Konstrukts eines Staatenverbunds ohne gemeinsames Staatsvolk und gemeinsame Sprache ein historisches Novum darstellt, unter Verzicht auf das denkbare Maximum an demokratischer Partizipation erfolgen soll, dann kann es hinsichtlich des Problems der Machtverteilung um das Vertragswerk selbst nicht viel besser bestellt sein als um seinen konstitutiven Gründungsakt. Genau diesem Problem widmet sich der Jurist Andreas Wehr in seinem Buch "Europa ohne Demokratie?". Da er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents von Anfang an begleitet hat, nimmt sich Wehr seines Themas nicht nur aus der Distanz der Politikwissenschaft und des Staatsrechts an, sondern er berichtet aus unmittelbarer Anschauung über das Zustandekommen eines Vertragswerks, dessen Bedeutung für die Zukunft Europas gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.

Wem der Begriff der Demokratie zu wichtig ist, als daß er ihn wie die Monstranz eines messianischen Erweckungsfeldzugs vor den eigenen Heerscharen herträgt, um Menschen, die nicht darum gebeten haben, gewaltsam für die Segnungen der westlichen Wertegemeinschaft zu bekehren, der kann das Fragezeichen im Titel des Buches bald nach Beginn der Lektüre streichen. Schon im ersten Teil, der sich mit der "Entstehung des Verfassungsvertrages" beschäftigt, erläutert Wehr anhand der Frage nach den Motiven, die den verfassungsgebenden Prozeß in Gang gesetzt haben, daß es um die Kompensation eines Legitimationsverlustes der EU geht. Dieser hat sich in Referenden, die im ersten Anlauf aus EU-Sicht scheiterten und deshalb zum Teil wiederholt wurden, um das mißliebige Ergebnis zu korrigieren, sowie einer geringen Beteiligung an den letzten Wahlen zum Europäischen Parlament unmißverständlich manifestiert.

Obwohl die Verfassungsdiskussion gerade dem demokratischen Defizit entgegenwirken sollte, wurde sie nicht in den Stand eines öffentlichen Diskurses gehoben, die diesem Anspruch gerecht geworden wäre. Dagegen sprach nicht zuletzt, daß die Erweiterung der EU um zehn neue Mitgliedstaaten nach einer Effizienzsteigerung der europäischen Entscheidungsprozesse verlangte, die der zentrifugalen Dynamik einer auf 25 Staaten angewachsenen administrativen Struktur nur die Zentralisation ihrer institutionellen Prozesse entgegenstellen konnte. Da das Projekt der Osterweiterung maßgeblich von den Interessen des westeuropäischen Kapitals bestimmt wird, dem basisdemokratische Partizipation naturgemäß zuwider ist, trägt diese Notwendigkeit kaum zur Ausbildung einer tatsächlich transparenten, von unten nach oben verlaufenden Willensbildung bei.

Anhand der personellen Zusammensetzung des Verfassungskonvents, seiner Arbeitsweise und des Einflusses, den nationale Regierungen auf ihn ausübten, legt der Autor dar, woran der demokratische Anspruch des verfassungsgebenden Prozederes von Anfang an krankte. Ihm zufolge wurden die Machtverhältnisse im Konvent vor allem durch die "praktizierte Konsensmethode, nach der das Präsidium, und oft sogar nur der Konventsvorsitzende allein, die Mehrheitsposition definierte und anschließend im Namen aller festlegte" (S.31), bestimmt. In der anschließenden Regierungskonferenz, in der man den "durchaus widersprüchlichen Entwurf (...) als ein in sich geschlossenes und logisches Konzept" darstellte, "wurde die oft beschworene Autorität des Konvents am Ende zu einer Waffe in der machtpolitischen Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedstaaten" (S.32).

Wehr geht im Detail auf die Dominanz der großen EU-Staaten Deutschland und Frankreich bei der Beschlußfassung im Konvent ein, dem in seiner Endphase selbst Außenminister Joseph Fischer angehörte. Doch nicht nur die Regierungen dieser beiden Staaten wußten die Bedeutung des Verfassungsvertrags für die künftige Machtverteilung in der EU zu schätzen, denn gerade die von ihnen angestrebte Leitungsfunktion führte dazu, daß der vorliegende Entwurf im Dezember 2003 in Brüssel erst einmal durchfiel. Die Auseinandersetzungen darüber, welche nationalen Regierungen künftig in der EU den Ton angeben und inwiefern man Sonderbeziehungen zulassen soll, die den egalitären Charakter des Staatenverbunds zugunsten eines "Kerneuropas" aufheben, werden ebenso wie die staatsrechtlichen Konsequenzen, die eine stärker demografisch gewichtete Willensbildung im Europäischen Rat hätte, auf instruktive Weise dargestellt.

Im zweiten Teil des Buches über "Die neue institutionelle Architektur der Europäischen Union" beschäftigt sich Wehr ausführlich mit der demokratischen Zukunft der EU, die durch den Verfassungsvertrag nicht einmal auf das Niveau des seinerseits mit vielen Mängeln behafteten repräsentativen Systems der Bundesrepublik gehievt wird. Der Autor erklärt die durchaus komplizierte Materie auf eine Weise, die es jedem interessierten Bürger bei etwas Mühe ermöglicht, sich mit dem Demokratieproblem auf europäischer Ebene und den maßgeblichen Achsen seiner Austarierung zwischen nationalstaatlicher Souveränität, intragouvernemental orchestrierter Vergemeinschaftung und supranational administrierter Integration vertraut zu machen. Es machte schließlich wenig Sinn, die Frage der demokratischen Legitimation der EU auf eine Weise aufzuwerfen, die von vornherein nur durch die bereits übergewichtig repräsentierte Expertokratie handhabbar wäre.

Die im repräsentantiven System ohnehin angelegte Unterstellung, politische Entscheidungen könnten nur in einem sehr bedingten Sinne der Allgemeinheit überlassen bleiben, erhält im dritten Teil über "Neue Politikinhalte" ihre materielle Grundlage. Die bereits beim Ringen um die Einflußnahme auf die europäische Willensbildung hervortretende Bedeutung nationaler Interessen läßt sich anhand der einzelnen Politikbereiche eindeutig verorten. So beruht die im Verfassungsentwurf explizit vorangetriebene Militarisierung der EU vor allem auf dem Betreiben der Regierungen Deutschlands, Frankreichs und Britanniens. Sie drängen am unverhohlensten auf eine bedeutsame weltpolitische Position der EU, mittels derer sich die imperialistische Agenda ihrer Eliten verwirklichen läßt. Die dabei vor allem im Verhältnis zu den USA auftretenden Probleme werden von Wehr durchaus beim Namen genannt, wobei allerdings nicht klar wird, ob er die Etablierung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, deren Stand er als "ausgesprochen bescheiden" moniert, im Grundsatz ablehnt.

Von besonderem Interesse sind Wehrs Ausführungen "Zur Entstehung einer europäischen Innen- und Rechtspolitik". Dort wird der Verlust an Bürgerrechten, die für jeden einzelnen Europäer aus der angestrebten Angleichung der nationalen Rechtssysteme zwecks optimierter Strafverfolgung und Terrorismusabwehr erwächst, mit den Händen greifbar. Ob eine Harmonisierung der nationalen Gesetzgebung um so vieles freiheitlicher wäre als der bislang eingeschlagene Weg einer gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsurteilen, die Wehr als "im Widerspruch zu den Regeln der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit" stehend kritisiert, darf bezweifelt werden. Zwar wäre "gemeinsamen materiellen wie formellen Rechtsnormen, die in einem demokratischen und transparenten Rechtssetzungsverfahren erlassen werden" (S.113), in jedem Fall der Vorzug zu geben gegenüber einem Wildwuchs von nationalen Rechtsnormen, die trotz aller Inkonsistenz über den Europäischen Haftbefehl vergemeinschaftet werden und den einzelnen Bürger unabwägbaren rechtlichen Risiken aussetzen, doch zeigen schon die Innovationen im Bereich der europäischen Terrorismusbekämpfung, daß auf supranationaler Ebene totalitär anmutende Strukturen und Definitionen durchsetzbar werden, die eigentlich am Grundrechtekodex einzelner Mitgliedstaaten scheitern müßten.

Über den eventuellen Einfluß des Verfassungsentwurfs auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU fällt Wehr ein kategorisches Urteil: "Es bleibt bei einem neoliberalen Europa." Dem geringen Erfolg, den die Intervention der Arbeitsgruppe "Soziales Europa" laut Wehr bei der Thematisierung der sozialen Frage erzielt hat, steht ein die Kapitalmacht weitreichend begünstigender Verfassungsentwurf gegenüber, der in dieser Hinsicht über manche nationale Verfassung hinausgeht. Der Autor bemüht sich zwar im abschließenden vierten Teil "Das Scheitern als Chance nutzen" um einen optimistischen Ausblick, der jedoch gerade wegen des von ihm postulierten "engen inneren Zusammenhangs zwischen der Veränderung des sozialen Inhalts der Europäischen Union und ihrer Demokratisierung" weniger als Perspektive denn als Aufforderung zum Widerstand gegen die Gestaltungsmacht des Kapitals zu begreifen ist. Ob sich die EU "aus einem Projekt der kapitalistischen Wirtschaftseliten zu einer Angelegenheit der großen Mehrheit der sozial Abhängigen entwickeln" wird, macht Wehr denn auch von der Bedingung abhängig, daß "die Union von den Benachteiligten als neuer Kampfplatz begriffen wird, auf dem sie die ihnen auf nationalstaatlicher Ebene genommenen sozialen, kulturellen und politischen Rechte wieder erlangen können" (S.152).

Damit wäre für einen politischen Anspruch, der aus der Sphäre europäischer Integration heraus erhoben wird, eine Maximalposition bezogen, die am schmalen linken Rand des europäischen Parlamentarismus nur geringe Chancen auf ihre Verwirklichung aufweist. Wie sich in einer von technokratischen Eliten organisierten kapitalistischen Ökonomie Mehrheiten bilden sollen, die nicht daran scheitern, daß sie ihr Anliegen im Rahmen politischer Verhältnisse artikulieren, welche darauf angelegt sind, den Widerspruch zwischen sozialer Emanzipation und kapitalistischer Herrschaft zugunsten letzterer aufzulösen, bleibt eine offene Frage, die in diesem lesenswerten Buch nicht weiterentwickelt wird.


Andreas Wehr
Europa ohne Demokratie?
Die europäische Verfassungsdebatte - Bilanz, Kritik und Alternativen
PapyRossa Verlag, Köln, 2004
154 Seiten, 12.90 Euro
ISBN 3-89438-272-4