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REZENSION/221: Michael Warschawski - An der Grenze (Nahostkonflikt) (SB)


Michael Warschawski


An der Grenze



Das Verhältnis des Staates Israel zu seinen feindlichen Nachbarn wird gern als Konfrontation zwischen David und Goliath in ein Bild gefaßt, dessen trügerische Logik sich dem Konsens verdankt, weder seine Voraussetzungen zu prüfen, noch den einmal gefaßten Gedanken in beharrlicher Konsequenz und streitbarem Zweifel zu verfolgen. Wer möchte nicht wie David sein, der klein und schwach doch über Mut und Witz verfügt, den prahlerischen, tölpelhaften Riesen mit seiner Schleuder jäh zu fällen? Dem siegreichen David fliegen alle Sympathien zu, da er aus der Unterlegenheit geborene Wunschträume wie kein Zweiter zu verkörpern scheint.

Angesichts eines Konflikts Partei für den Schwächeren zu ergreifen, ist gewiß eine lobenswerte Position. Sie wird jedoch ins Gegenteil verkehrt, sobald man die Einschätzung der beteiligten Kräfteverhältnisse übers Knie bricht und die einmal getroffene Zuteilung für alle Ewigkeiten zementiert. Ist Israel noch immer ein David im Angesicht des arabischen Goliaths, der den Zwerg mit einem einzigen Faustschlag zu zerschmettern droht? Wohl kaum, verfügt doch der weltweit größte Empfänger US- amerikanischer Militärhilfe über ein hochmodernes Waffenpotential, dessen nukleare Komponente nach Expertenschätzung geeignet sein dürfte, den gesamten Globus in Schutt und Asche zu legen. Wenn heute von israelischer Seite offen über einen Präventivschlag zur Zerstörung des künftigen iranischen Atomwaffenpotentials gesprochen wird, ohne daß die eigenen Arsenale auch nur im mindesten einer internationalen Kontrolle, geschweige denn einer Beschränkung unterstellt würden, sollte doch auf der Hand liegen, daß von einem David Israel keine Rede sein kann.

Ist man einmal soweit gelangt, drängt sich die selten gestellte Frage auf, was David eigentlich damals von Goliath wollte. In den Parametern des Alten Testaments, die man als Mitglied des jüdisch- christlichen Kulturkreises gewissermaßen von Kindesbeinen an verinnerlicht hat, scheint die Sache klar zu sein. Der Gigant ist Vorkämpfer eines feindlichen Volkes, das den Israeliten jenen Weg versperrt, den ihnen der göttliche Auftrag gewiesen hat. David handelt also in Verteidigung gegen einen Angreifer, der Überlegenheit, Aggression und nicht zu vergessen Gottlosigkeit gegen das auserwählte Volk ins Feld führt. Wie man sieht, ist diese Konstellation uralt und zugleich außerordentlich aktuell, wenn man die Begleitmusik der gegenwärtigen Kriegszüge in Nahost vernimmt.

Was wäre aber, wenn es gar nicht David war, der sich verteidigt hat, sondern vielmehr Goliath, weil dessen Volk in einem Kulturkreis nomadisierender Stämme plötzlich mit Fremden konfrontiert war, die das traditionelle Gefüge einer Koexistenz auf Grundlage kleiner Geplänkel und Respektierung lebensnotwendiger Ressourcen erschütterten? Man kann in der Bibel nachlesen, wie das erstarkende Volk Israel begann, Weidegründe und Wasserstellen, fruchtbare Böden und blühende Marktorte für sich allein zu reklamieren und jeden zu vertreiben, der sich dort aufzuhalten pflegte. Man ging dabei soweit, das bis dahin übliche Maß der Regulierung von Konflikten zu verlassen und mitunter selbst Frauen, Kinder und Tiere der besiegten Gegner ausnahmslos abzuschlachten. Dies geschah im Auftrag eines zornigen Gottes, der jene strafte, deren Hand vor solchen Greueltaten schwach wurde.

Soviel kann man jedenfalls an dieser Stelle sagen: Die Eroberung von Territorien und Konstituierung von Reichen kann nur im Zuge einer aggressiven Auseinandersetzung erfolgen, weshalb es letzten Endes müßig ist, über historisch gewachsene Ansprüche dergestalt zu streiten, als existiere irgendwo auf der Welt ein Staat, der nicht aus Vertreibung, Vernichtung und Unterwerfung hervorgegangen ist.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Episode aus den frühen Tagen des Zionismus. Theodor Herzl war in Verfolgung seines großen Plans, Land für jüdische Emigranten in Palästina zu kaufen, um die sogenannte Judenfrage durch Schaffung eines eigenen Staates zu lösen, nach Jerusalem gereist. Dort traf er mit dem arabischen Bürgermeister zusammen, um ihn für das Vorhaben zu gewinnen, das nach Herzls Auffassung beiden Seiten nützen könnte. Der Bürgermeister hörte sich aufmerksam an, was sein Besucher vorzutragen hatte, und lehnte dann dessen Ansinnen mit der Frage ab, was denn aus den Arabern werden solle, wenn sie ihr Land an die Einwanderer verkauft hätten. Der zionistische Entwurf beruhte auf einer Landnahme, welche die Bewohner dieser Region verdrängen, sie absehbar ihrer Existenzgrundlage und Kultur berauben würde.

Solche Gedanken vorzutragen, setzt jeden Außenstehenden leicht dem Vorwurf des "Antisemitismus" aus. Um so glücklicher darf man sich einer Stimme wie der Michael Warschawskis schätzen, der als israelischer Bürger und gläubiger Jude in Jerusalem lebt, wo er als Publizist und Schriftsteller zu den wichtigsten Persönlichkeiten der israelischen Linken zählt. Wie er berichtet, habe der Beginn seines politischen Engagements nichts mit Religion zu tun und zunächst auch nichts mit Israel.

Ich bin kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, nach Besatzung und Deportation. Für uns war Besatzung die Essenz alles Bösen: Rassismus, Tod, Angst, Ausschluß - und plötzlich, 1967, stellte ich fest, daß ich mich in einer Besatzung befand und daß ich der Besatzer war. Damals war ich wie die meisten Israelis überzeugt, daß die Araber uns angegriffen hatten. Sie trugen die Schuld, und wir schützten uns. Aber bei einer Besatzung auf der anderen Seite zu stehen, war unerträglich. Das hatte nichts damit zu tun, wer angefangen hatte, sondern mit dem Verhältnis Besatzer und Unterdrückte.

Wie dieser Bericht eindrücklich belegt, bedarf es weder besonderer Voraussetzungen, noch komplexer Begründungsketten, um zu erkennen, wo Menschen unerträgliche Verhältnisse aufgezwungen werden und wer Unterdrückung ausübt. Warschawski zeichnet die Konsequenz aus, nicht vor dieser Erkenntnis zurückgewichen zu sein, sondern Partei ergriffen zu haben, obgleich ihm das einen in vielfacher Hinsicht dornenreichen Grenzgang abnötigte.

Grenzen sind Ausdruck zweier gegensätzlicher Bewegungen: sie trennen Menschen je nach Nationalität, Ethnie, Glauben und Klassenzugehörigkeit; manchmal jedoch schützen sie auch und dienen dazu, die eigene Souveränität zu behaupten, einer aufgezwungenen fremden Macht gegenüber Unabhängigkeit zu bewahren.
Daher kommt es, daß die, die sich für die Annäherung von Menschen und Völkern einsetzen, oft die Rolle wechseln und bald Grenzgänger, bald Grenzschützer sein müssen: Grenzgänger, um zur Entstehung einer vielfältigen, transnationalen und multi-ethnischen Menschlichkeit, zu einer auf Solidarität und Kooperation gegründeten Welt beizutragen; Grenzschützer, wenn es darum geht, die Souveränität, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit eines Volkes zu verteidigen, wenn sie durch einen Angriff von außen bedroht werden. Grenzschützer auch, um dafür zu sorgen, daß die Grenzen zwischen Demokraten und rassistischen, faschistischen und nationalsozialistischen Bewegungen und Ideologien hermetisch geschlossen bleiben.

Wie Michael Warschawskis Lebenslauf zeigt, war ihm dieser Weg weder in die Wiege gelegt, noch führte er ihn je dazu, seinem Volk oder Land den Rücken zu kehren. Das macht ihn zu einem um so glaubwürdigeren Zeugen, dem selbst seine zahlreichen Gegner nicht absprechen können, stets auf Grundlage eigener Erfahrung und persönlichen Engagements aus der Mitte der Ereignisse zu berichten, deren Teil er bis heute ist.

Warschawski wurde 1949 im französischen Straßburg als Sohn des Großrabbiners der Stadt geboren. Er ging 1965 im Alter von 16 Jahren nach Jerusalem an eine Talmudschule. Er studierte Philosophie an der Jerusalemer Hebräischen Universität und gab zwischen 1971 und 1984 die monatlich erscheinende Zeitschrift Mazpen heraus. 1982 war er Mitbegründer des Reserve Soldiers Movement Yesh Gvul, 1984 Gründer des Alternative Information Center (AIC), bis 1999 dessen Direktor. Seit 1992 ist Warschawski auch Mitglied des Friedensblocks Gush Shalom. 1987 kam er wegen "Unterstützung illegaler palästinensischer Organisationen" in Haft und wurde 1989 zu 30 Monaten Gefängnis verurteilt. Seit 2001 vertritt er das AIC im International Council of the World Social Forum. Seine Frau ist Anwältin und hat viele Palästinenser vor Gericht vertreten.

Er kennt aus eigener Erfahrung Militär, den Krieg von 1967, Kibbuzim, besetzte Gebiete, Kriegsdienstverweigerung, Gefängnis, politische Führung und Fraktionen des Landes und natürlich die jüdische Religion, die Diaspora, die Geschichte der Juden, aber auch die der Araber. So kann er auf eine Weise Einblick in die sozialen und politischen Verhältnisse Israels geben, die außenstehenden Autoren verwehrt wäre und Landsleuten, die nicht sein Engagement teilen, fremd oder sogar unbekannt bliebe.

Er nennt es eine Ironie der Geschichte, daß der Zionismus, der die Mauern des Ghettos einreißen wollte, das größte Ghetto der jüdischen Geschichte hervorgebracht habe. Es handle sich zwar um ein waffenstarrendes Ghetto, das imstande sei, sein Territorium ständig auszuweiten, aber dennoch ein Ghetto, auf sich selbst beschränkt und überzeugt, außerhalb seiner Mauern herrsche der Dschungel. Warschawski zitiert den ehemaligen Premier Ehud Barak mit den Worten, Israel sei für ihn eine Villa im Herzen des Dschungels. Offenbar meine Barak mit seinem Bild nicht Villenbewohner, die gegen Hüttenbewohner kämpfen, was ja bei aller Feindseligkeit doch eines Tages in einen Friedensschluß münden könnte. Der frühere Regierungschef spreche vielmehr vom Dschungel, mit dem das niemals möglich sei.

In der Sichtweise Baraks, die für die Meinung vieler steht, klingt die eingangs angesprochene Ideologie an, das eigene Dasein als von übermächtigen, fremdartigen und unversöhnlichen Widersachern bedroht und sich selbst in ewiger und zutiefst gerechtfertigter Verteidigung der eigenen Existenz zu sehen. Solche Ideen, wie sie die israelische Regierung heute mehr denn je vorhält, befinden sich in geradezu symbiotischer Verbindung mit dem globalen, permanenten, präventiven Krieg der Neokonservativen in den Vereinigten Staaten. In gewisser Weise sieht sich die israelische Regierung als Avantgarde im Krieg der "Zivilisationen" gegen die "muslimische Barbarei", wozu der Staat Israel zeit seiner Existenz ein wegweisendes ideologisches Muster geliefert hat. In diesem globalen Krieg, der von einer Koalition aus Neokonservativen und protestantischen Fundamentalisten in den USA angeführt wird, sieht der jüdische Fundamentalismus, der mit dem messianischen Krieg in "Eretz Israel" und Palästina seine eigene Agenda verfolgt, nach den Worten Warschawskis die Notwendigkeit, sich dieser weltweiten Allianz anzuschließen.

Wenn Warschawski die Stimmung nach dem in wenigen Tagen gewonnenen Krieg von 1967 beschreibt, drängen sich fatale Parallelen zu den Folgen des 11. September 2001 auf. Damals sei das Ansehen Israels in der westlichen Welt schlagartig gestiegen und jede äußere wie innere Kritik auf Jahre verstummt. Aus intimer Kenntnis der damaligen Diskussionen in der israelischen Linken erfährt der Leser, wie fast der gesamte linke Flügel einschließlich der Kommunistischen Partei die Sache des Staates Israel an die erste Stelle setzte und die Annexion der eroberten Gebiete als "liberale Besatzung" rechtfertigte.

Wo Unterdrückung von eigener Hand zur Notwendigkeit und der Einsatz von Panzern, Hubschraubern und Kampfjets gegen eine hinter einer riesigen Mauer zusammengepferchte palästinensische Bevölkerung zur Selbstverteidigung erklärt wird, bedarf es einer Begründung, die tiefer greift als säkulare Vorteilserwägung. So liefert Warschawski auch eine nachvollziehbare Erklärung, wie es schließlich zum Schulterschluß zwischen Zionismus und ultrarechtem orthodoxen Judentum kommen konnte.

Der Zionismus war von seiner Grundidee her ein Entwurf, der den religiösen Aspekten des Judentums gleichgültig bis ablehnend gegenüberstand. Er sah keineswegs die Auswanderung aller Juden in den zu gründenden Staat vor, für dessen Errichtung der britische Außenminister zunächst eine Region Ugandas vorschlug, was jedoch vom zionistischen Kongreß verworfen wurde. Gelöst werden sollte vor allem die Frage der Ostjuden, die in ihrer Verhaftung an Religion, Tradition, Sprache und Erscheinungsbild zur Zielscheibe von Diskriminierung und Verfolgung wurden, jedoch auch ihren Vettern in Westeuropa eher ein Ärgernis waren, das der erfolgreichen Assimilierung im Wege stand.

Das Israel der Zionisten war denn auch ein moderner, säkularer Staat, der jüdische Einwanderer aus Osteuropa bei ihrer Ankunft mit Desinfektionsmitteln einsprühen und ihnen die traditionelle Haarlocke abschneiden ließ. Was die armen Immigranten an traditionellen Werten und insbesondere auch religiösen Überzeugungen mitbrachten, galt der zionistischen Oberschicht als unbrauchbar, ja minderwertig im Prozeß expansiven Zugewinns an allen gesellschaftlichen Fronten. Der elitäre Gedanke, die zur Aufstockung der zahlenmäßig kleinen Bevölkerung Israels dringend benötigten Neuankömmlinge gewissermaßen im Eilverfahren von ihrer kulturellen Vergangenheit zu säubern und in das Staatswesen einzugliedern, drohte jedoch Schiffbruch zu erleiden, als die wachsende Härte der Auseinandersetzung alle Hoffnungen auf Annäherung und einen erfolgreichen Friedensprozeß im Nahen Osten zerschlug.

In Diskussionen mit Schülern und Studenten, unter denen Warschawski eine dramatisch gewachsene Neigung zu konservativen Werten und politisch reaktionären Überzeugungen ausmacht, hörte er immer wieder eine Meinung, die das Credo dieser neuen Generation kurzgefaßt auf den Punkt bringt. Wenn man sich eher wie ein Europäer fühle, sei es absurd, sich den Widrigkeiten des Lebens in Israel auszusetzen. Dann sollte man besser jenen folgen, die das Land verlassen hätten. Wer aber aus Überzeugung bleibe, tue dies im Glauben an die Bestimmung, dieses gottgegebene Land mit allen Mitteln gegen die Feinde zu verteidigen.

In solchen Worten klingt an, warum es des letztendlichen Schulterschlusses der so lange verfeindeten Zionisten und Ultraorthodoxen bedurfte, um den militärisch hochgerüsteten, säkularen Staat Israel um die fest verankerte Ideologie religiös begründeter Überlegenheit zu ergänzen, die aus sich selbst heraus rechtfertigt, weshalb man sich als schrecklicher Stachel im Fleisch des arabisch-muslimischen Umfelds mit unerbittlicher Gewalt und als Speerspitze der neuen Weltordnung im Nahen Osten durchsetzt.


Michael Warschawski
An der Grenze
Edition Nautilus, 2003
256 Seiten, 19.90 Euro
ISBN 3-89401-431-8