Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → SACHBUCH

REZENSION/232: David Rose - Guantánamo Bay (US-Folterlager) (SB)


David Rose


Guantánamo Bay

Amerikas Krieg gegen die Menschenrechte



Die US-Administration betreibt zahlreiche Folterstätten auf der ganzen Welt, die drei bekanntesten unter ihnen sind Abu Ghraib in Irak, Bagram in Afghanistan und nicht zuletzt der US-Stützpunkt Guantánamo Bay auf Kuba. Dorthin wurden ab Ende 2001 mehr als 650 Menschen hauptsächlich aus Afghanistan und Pakistan verschleppt und ins eigens für diesen Zweck errichtete Camp X-Ray gesteckt. Für ein solches Unterfangen herrscht dort nach Ansicht des Pentagons eine besonders geeignete rechtliche Situation vor: Guantánamo Bay sei von Kuba gepachtet worden, es zähle nicht zum US-amerikanischen Territorium.

Aus diesem Grund wurde den Gefangenen, die von der US- Regierung als "feindliche Kämpfer" (enemy combatants) bezeichnet werden, auch nicht der Anspruch, nach US-amerikanischem Recht behandelt zu werden, zugestanden. Auf diese vollkommene Entrechtung hebt der Untertitel "Amerikas Angriff auf die Menschenrechte" des vorliegenden Buchs "Guantánamo Bay" ab: Die US-Regierung hat die Menschenrechte faktisch für null und nichtig erklärt - was nicht bedeuten soll, daß sie sich früher daran gehalten hätte.

Die Inhaftierten, die anfangs in Drahtkäfigen gehalten wurden, wissen nicht, wessen sie bezichtigt werden und wie lange man sie festzuhalten gedenkt. Sie haben keinen Kontakt nach draußen, der anwaltliche Beistand wurde ihnen lange Zeit verwehrt, und sie durften allenfalls zensierte Briefe an ihre Familien schicken. Erst in jüngster Zeit ist hinsichtlich Guantánamo Bay einiges in Bewegung geraten, nachdem das US Supreme Court am 28. Juni 2004 entschieden hatte, daß den Häftlingen das Recht zugestanden werden müsse, vor einem zivilen Gericht in den Vereinigten Staaten für ihre Freiheit kämpfen zu dürfen.

Der britische Journalist David Rose zählte zu jenen Medienvertretern, denen gestattet wurde, Camp X-Ray (heute Camp Delta) zu besuchen, wenngleich ihm wie allen anderen Gästen verweigert wurde, mit den Häftlingen zu sprechen. Erst in Folge der Freilassung einiger der "feindlichen Kämpfer" war es ihm daher möglich, an Informationen aus erster Hand über die Verhältnisse in Guantánamo Bay zu gelangen. Über seine schon früher in der britischen Sonntagszeitung "Observer" und dem US- Magazin "Vanity Fair" veröffentlichten Gespräche mit den britischen Ex-Häftlingen Shafiq Rasul, Asif Iqbal, Ruhal Ahmed und Tarek Dergoul hinaus hat Rose zusätzliche Recherchen durchgeführt und in dem vorliegenden Buch zusammengefaßt.

Es macht auf bedrückende Weise deutlich, wie unverhohlen die Bush-Regierung ihre letztlich in militärische Überlegenheit gegründete Machtposition ausgenutzt und Bürger souveräner Staaten, ob verbündet oder nicht, im Rahmen eines völkerrechtswidrigen Angriffs auf Afghanistan in Haft genommen, ans andere Ende der Welt gebracht und eingesperrt hat. Dabei wurden die Opfer schutzlos Wind und Wetter ausgesetzt - und natürlich dem peinigenden Zugriff der Wärter und "Verhörspezialisten". Zu den speziellen Formen der von ihnen systematisch angewandten Folter gehörten Schlafentzug, Verweigerung medizinischer Hilfe, stundenlanges Verharren in unbequemen, gesundheitsschädigenden Positionen, direkte körperliche Mißhandlung, gezielte Verletzung der menschlichen Würde und der religiösen Gefühle.

Eine weitere, wenig bekannte Form der Folter in Guantánamo Bay betrifft den Nahrungsentzug. Die Häftlinge wurden nur notdürftig versorgt. Rose macht darauf aufmerksam, daß sie etwa 1200 Kalorien pro Tag erhielten (S. 70). Das ist wenig mehr als die Hälfte dessen, was ein erwachsener Mann mittlerer Körpergröße unbedingt braucht. Zum Vergleich: Laut Mike Davis ("Die Geburt der Dritten Welt", Berlin 2004, S. 48) beträgt der Grundstoffwechsel bei Erwachsenen 1500 Kalorien; ein siebenjähriges Kind sollte nicht weniger als 2050 Kalorien täglich erhalten. Und in UN-Flüchtlingslagern wird mit mindestens 2100 Kalorien pro Person und Tag gerechnet.

Über Gitmo, wie Guantánamo Bay im Militärjargon genannt wird, sind mittlerweile zahlreiche Berichte in verschiedenen, meist tagesaktuellen Publikationen erschienen. Mit seinen Interviews und seiner umfassenden Darstellung ergänzt David Rose den bereits vorhandenen Informationsstand zu dieser menschenfeindlichen Einrichtung des Pentagons um wichtige Einblicke. Beispielsweise hat das US-Militär der afghanischen Nordallianz ein Kopfgeld von 5000 Dollar für jeden mutmaßlichen Al-Kaida-Kämpfer bezahlt. Das bescherte den Warlords einen lukrativen Zusatzverdienst, den diese sich selbstverständlich nicht entgehen ließen und deshalb an die USA "lieferten", was auch immer ihnen an "Ware" über den Weg lief. Rose stützt sich bei dieser Information auf den Human- Rights-Watch-Mitarbeiter John Sifton, der persönliche Nachforschungen in Afghanistan angestellt hat, und schreibt dazu:

Als vermeintliche Terroristen, sagte er, 'waren all diese Personen besonders extreme Fälle von verkannter Identität - einfach die falschen Leute: ein Bauer; ein Taxifahrer mit seinen Fahrgästen; Menschen ohne jede Verbindung zu den Taliban oder zum Terrorismus, die diese sogar verabscheuten oder bekämpften. (S. 49)

Der Brite Tarek Dergoul ist ein solcher Fall. Er war mit zwei Freunden kurze Zeit nach den Anschlägen vom 11. September 2001 von London nach Pakistan gereist, weil sie sich dort ein Haus, das zum Verkauf stand, ansehen wollten. Sie verbrachten die Nacht in einem der leerstehenden Häuser, das von einer Bombe getroffen wurde. Dergouls Freunde wurden getötet, er selbst lief verletzt ins Freie. Dort wurde er von einem anderen explodierenden Geschoß getroffen. Eine Woche lang hielt er sich notdürftig am Leben, während ihm seine Zehen abfroren. Schließlich wurde der Brite von Soldaten der Nordallianz gefunden, die ihn in ein Krankenhaus fuhren, wo er gut behandelt und dreimal am Arm operiert wurde. Doch nach fünf Wochen übergab man ihn den Amerikanern, die 5000 Dollar Kopfgeld an seine Überbringer zahlten.

Dergouls abgefrorene Zehen hätten behandelt werden müssen, aber im CIA-Folterlager in Bagram, wohin er zunächst gebracht wurde, ließ man sie absichtlich verfaulen, um ihn zu schikanieren und zu einem Geständnis zu erpressen. Schließlich, nach etlichen Verhören und Mißhandlungen, gestand er, was einfach nicht zutraf, nämlich daß er in der Bergfestung von Tora Bora in Afghanistan gewesen sei. Tatsächlich hatte Dergoul diesen Namen von seinen Peinigern zum ersten Mal gehört. David Rose nennt noch weitere Beispiele für erzwungene "Geständnisse", was ihn schließlich zu der Gesamteinschätzung bringt:

Die Berichte über Gefangene, die noch immer in Gitmo sitzen, lassen vermuten, dass auch bei ihnen das Beweismaterial, mit dem belegt werden sollte, dass sie 'Terroristen' sind, äußerst fragwürdig ist, und viele von ihnen wurden wie Dergoul weitab von jeder Kampfhandlung gefangen genommen - in einigen Fällen sogar in Ländern, die gar nicht am Krieg teilnahmen. (S. 51)

In der Öffentlichkeit herrscht der Eindruck vor, die US-Militärs erhofften sich, wichtige Informationen aus den Verhören der Gefangenen zu gewinnen. Diese Ansicht vertritt zwar auch der Leiter Camp Deltas, Generalmajor Geoffrey D. Miller, dessen brutale Verhörmethoden im Pentagon so gut ankamen, daß man ihn in den Irak schickte, um sie den Insassen des Gefängnisses Abu Ghraib zuteil werden zu lassen. Doch nicht einmal Miller selbst behält seinen Standpunkt konsequent bei, wie ein Treffen zwischen ihm und Vertretern des Roten Kreuzes am 4. Februar 2004 belegt. Rose berichtet, daß es unter den damals 652 Häftlingen nur einen einzigen gegeben habe, dessen Position Miller für so geheimhaltungswürdig hielt, daß er dem Roten Kreuz den Zugang zu ihm verweigerte.

Offensichtlich ist es im Pentagon durchaus bekannt, daß in Gitmo kaum Personen einsitzen, die mit den Anschlägen vom 11. September 2001, den Taliban oder Al Kaida irgend etwas zu tun hatten. Rose zitiert unter anderem einen hochrangigen Mitarbeiter des US-Verteidigungsministerium, der gesagt habe, daß mindestens zwei Drittel der 600 im Mai 2004 noch festgehaltenen Gefangenen ohne zu zögern freigelassen werden könnten. Auch eine streng geheime CIA-Studie von September 2002 sei zu dem Schluß gekommen, so Rose, daß "viele der beschuldigten Terroristen anscheinend unbedeutende Neulinge waren, die nach Afghanistan gingen, um die Taliban zu unterstützen, oder gar Unschuldige, die im Chaos des Krieges mit eingesackt wurden" (S. 57).

Der Autor erwähnt einen Fachmann für geheimdienstliche Befragungen, der glaubt, daß mit Guantánamo Bay nur eine Scheinfassade aufgebaut wurde, mit der die "allgemeine Aufmerksamkeit von den wichtigeren Geschäften und Orten abgelenkt" werden sollte, wo die "großen Fische" (S. 137) festgehalten würden. Dieser Ansicht schließt sich Rose an und ergänzt zur Bestätigung dieser These, daß keiner der bekannten führenden Mitglieder Al Kaidas in Gitmo einsitze.

Dazu paßt ein aktueller Bericht in der führenden israelischen Tageszeitung "Ha'aretz" (13. Oktober 2004), in der Yossi Melman unter Berufung auf israelische Geheimdienstkreise schrieb, daß die CIA geheime Internierungslager in Jordanien betreibe. Dort würden mehrere Führungsmitglieder des "Al-Kaida-Netzwerkes" gefoltert, hieß es. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatte tags zuvor einen 46seitigen Bericht veröffentlicht, in dem sie die Bush-Regierung beschuldigt, sie habe "Terrorverdächtige" an weltweit bis zu 24 "unbekannte Orte" verschleppt, um sie dort zu foltern.

Angesichts der von ihm selbst vertretenen These, daß Guantánamo womöglich nur ein Ablenkungsmanöver sei, wundert es allerdings ein wenig, daß Rose eine Aussage von US- Verteidigungsminister Donald Rumsfeld kolportiert, der die Veröffentlichung der weithin bekannten Fotos mit Gefangenen in Guantánamo Bay als einen "wahrscheinlich bedauerlichen Fehler" bezeichnet habe, weil dadurch überhaupt erst der Foltervorwurf laut geworden sei.

Hier scheint Rose der Propaganda Rumsfelds aufzusitzen, der mit diesem vermeintlichen Eingeständnis davon ablenkt, daß die Bilder der Gefolterten letztlich eine gesellschaftliche Debatte über die Frage ausgelöst haben, was denn Folter sei und was nicht. Seitdem finden in der Öffentlichkeit Stimmen Gehör, die das uneingeschränkte Folterverbot in den Genfer Konventionen relativieren. Mit der Folter verhält es sich indes wie mit den Massenvernichtungswaffen im Irak, die nicht gefunden wurden: Die Okkupation geht unverdrossen weiter - ebenso wie weiter gefoltert wird, obwohl die Bilder von den Mißhandelten um die Welt gingen. Außerdem hat die internationale Staatengemeinschaft nach der Veröffentlichung der Folterfotos keineswegs sämtliche Verbindungen zu den USA abgebrochen und die Bush-Regierung nicht mit einem Embargo belegt, wie sie es vermutlich bei "Schurkenstaaten" getan hätte; auch hat niemand nachdrücklich insistiert, daß Camp X-Ray unverzüglich aufgelöst werde.

Es gibt Formen der Folter, die über die physische Mißhandlung hinausgehen. Aus David Roses Schilderungen ist herauszulesen, daß sich Guantánamo darin besonders hervortut. Dort sitzen Menschen ein, die im Namen des Pentagons willkürlich aus ihren Lebenszusammenhängen gerissen wurden. Wenn man diesen zu Nichtmenschen abgestempelten Insassen zumindest konkrete Vorwürfe machte, könnten sie sich dagegen zur Wehr setzen. Das würde womöglich ihren Widerstandsgeist wecken; jedenfalls besäßen sie etwas, gegen das sie angehen könnten. Genau das sollen die Gefangenen aber nicht. In Guantánamo Bay wird damit experimentiert, wie man Menschen psychisch bricht. Mit einer neuzeitlichen Analogie könnte man sagen, daß ihre Platte gelöscht werden soll.

Die Art und Weise der Überstellung der Häftlinge nach Guantánamo Bay ist ein Hinweis darauf, was sie dort erwartet. Auf dem Bucheinband sehen wir jenes Foto, dessen Veröffentlichung Rumsfeld so bedauerlich fand. Es zeigt hohe Maschendrahtzäune, mit NATO-Draht bestückt, uniformierte Wachhabende und einheitlich in orangefarbene Kleidung gesteckte Häftlinge, die auch Teil eines Deprivationsexperiments sein könnten: Die Augen verhüllt - nichts sehen könnend; Nase und Mund bedeckt - nichts riechend und kaum atmen könnend; an Händen und Füßen gefesselt - nichts tastend könnend. Nur die Ohren ein wenig frei, vermutlich weil der Hörsinn ein unverzichtbares Sinnesorgan ist, um die gebrüllten Befehle entgegennehmen zu dürfen.

Dieses Foto ist von hoher symbolischer Aussagekraft. Es verdeutlicht, daß die Herrschaft des Menschen über den Menschen ihre Steigerung nicht darin findet, daß ein Mensch den anderen umbringt, sondern darin, daß er ihn am Leben läßt ... aber natürlich sowohl seiner Bewegungsfreiheit als auch der freien Wahrnehmung beraubt sowie unter ständiger Androhung, ihm das letzte zu nehmen, das er hat, sein Leben. Eine Leiche läßt sich jedoch nicht mehr beherrschen, sie entzieht sich der Kontrolle und zerfällt unaufhaltsam. Guantánamo Bay wäre dementsprechend als ein weitreichendes Experiment zur Vervollständigung von Herrschaft zu bezeichnen. Die Menschen in Gitmo sollen nicht sterben, sie sollen leben, auf (er-)niedrigstem Niveau.

Offiziellen Zahlen zufolge haben mehr als 30 Personen versucht, sich umzubringen. Keinem von ihnen ist es gelungen. Die meisten wollten sich erhängen. Manche haben ihren Kopf gegen die Gitterstäbe geschlagen, um sich den Schädel zu zertrümmern, vergeblich. Die Überwachung ist lückenlos, 24 Stunden am Tag. Damit sich niemand mehr etwas darüber vormacht, daß es jeden treffen könnte, ist David Roses Buch so wichtig. Es ist Teil einer unverzichtbaren politischen Aufklärung darüber, wie weit der Anspruch administrativer Verfügungsgewalt reicht.

Prekär ist hingegen Roses breiten Raum einnehmende Beweisführung, daß die Folter gar nichts gebracht habe und gar nicht funktioniere. Hier muß sich der Autor fragen lassen, ob denn Folter andernfalls gerechtfertigt wäre? Zudem lautet einer der Hauptkritiken Roses an Guantánamo Bay, daß die Häftlinge gar nichts verbrochen haben - muß man daraus nicht schlußfolgern, daß die Einrichtung eines Folterlagers schon in Ordnung ginge, wenn dort tatsächlich die Drahtzieher der 9/11-Anschläge inhaftiert wären? Zudem unterstellt der Autor mit Formulierungen wie "grundlose Misshandlung" (S. 30), daß es für Mißhandlungen auch (gute) Gründe geben könnte. Und mit Erklärungen wie, daß "schlimme Lebensbedingungen und körperliche Misshandlung (...) überraschend unzulänglich" (S. 33) geblieben seien, gerät Rose kaum merklich in die Nähe des Fahrwassers jener Bush-Kritiker, die effizientere Verhörmethoden fordern, um mehr Informationen aus den Häftlingen herauszuholen.

Es ist gut möglich, daß Camp Delta in einigen Jahren abgeschafft wird, so daß nichts an die frühere Einrichtung erinnert. Dennoch hätte das Experiment seinen Zweck erfüllt. Die erste und einfachste Botschaft der USA an den Rest der Welt lautet: "Wir können es machen!" - Keine Macht der Welt kann die USA aufhalten, wenn sie die Menschenrechte ausschalten. Das hätte eigentlich auch früher schon klar sein müssen, denn die USA hatten die Menschenrechte ja auch maßgeblich mit "angeschaltet". Insofern wäre der Untertitel als Fehleinschätzung zu bewerten. Es gibt keinen Krieg g e g e n die Menschenrechte. Vielmehr sind Menschenrechte ebenso wie Krieg Spielarten von Herrschaft. Andernfalls hätte es keinen Vietnamkrieg und keine Unterstützung der Folterregimes in Lateinamerika durch die USA geben dürfen.

Nicht nur in diesem Punkt, auch an anderen Stellen des Buchs wird der bürgerliche bis linksliberale Standpunkt des Autors deutlich. Eine fundamentale Kritik der herrschenden Verhältnisse ist von ihm nicht zu erwarten. Beispielsweise wenn er über das angebliche Motiv George W. Bushs, der sich bereits vor den 9/11- Anschlägen von internationalen Verträgen abgewendet hatte, mutmaßt:

Im Gefolge der Anschläge, die die amerikanische Psyche aufs schwerste treffen mussten, scheint sein Beschluss, den Krieg gegen den Terror nach neuen, eigens von seiner Regierung erfundenen Regeln zu führen, fast ein Reflex gewesen zu sein. (S. 18)

So "reflexhaft" war jener Beschluß keineswegs. Die Wurzeln des US- Imperialismus reichen zurück bis zur Monroe-Doktrin (1823), und als 1991 die Sowjetunion zerfiel, benötigte die Supermacht USA ein neues Feindbild als Vorwand für ihre globalen Eroberungsambitionen. Auch der militärische Hilfsarm der USA, die NATO, sah ihre Funktion damals keineswegs als überholt an, sondern suchte nach neuen Gegnern und fand ihn in vermeintlichen "failed states" (gescheiterten Staaten). Im September 2000 schließlich verfaßte der Think Tank PNAC (Project for the New American Century), von denen zahlreiche Mitglieder - u.a. Cheney, Rumsfeld, Wolfowitz - erheblichen Einfluß auf die heutige US- Regierung haben, ein Manifest, in dem ein zweites Pearl Harbour gefordert wurde, um einen Plan zur Neugestaltung des Mittleren Ostens zu etablieren.

Die 9/11-Anschläge erfüllten diese Funktion vorzüglich. Deswegen greift Rose auch zu kurz, wenn er Bushs Reaktion als "Reflex" bezeichnet. Der nach dem 11. September 2001 ausgerufene globale Antiterrorkrieg ist historisch herleitbar, und das Folterlager Guantánamo Bay eine Konsequenz der angestrebten Neuen Weltordnung. Vernichtung, Vernutzung und Verwahrung von Menschen, egal ob entrechtet oder mit Rechten ausgestattet, tritt hier als ungeschlachte Rohform administrativer Gewalt in Erscheinung.

Trotz der konformen Sichtweise, die bei Rose durchschimmert, ist das Buch unbedingt allen zu empfehlen, die noch immer an die "Wir-sind-die-Guten"-Politik der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Verbündeten glauben. Das Buch "Guantánamo Bay" könnte treffend als die investigative Ergänzung und damit Bestätigung der Thesen des italienischen Rechtsphilosophen Giorgio Agamben über den "Ausnahmezustand" (Frankfurt am Main, 2004) bezeichnet werden. Mit den Häftlingen von Guantánamo Bay erreicht "das nackte Leben seine höchste Unbestimmtheit" (Agamben, S. 10).

In jedem Gefängnis der Welt sind die Gefangenen den Wärtern hilflos ausgeliefert. Und doch sind nicht alle Gefängnisse gleich. Guantánamo Bay erweckt den Eindruck, als wenn Aliens auf der Erde gelandet sind und die Menschen in Lagern zusammengetrieben hätten, aber es partout nicht herauszufinden wäre, was die Fremden aus dem All eigentlich wollen, außer zu herrschen.


David Rose
Guantánamo Bay
Amerikas Krieg gegen die Menschenrechte
Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz und Monika Noll
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004
ISBN 3-10-066300-4