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REZENSION/324: Klinke, Pape, Silbernagl - Physiologie (MEDIZIN) (SB)


Rainer Klinke, Hans-Christian Pape und Stefan Silbernagl

Physiologie



Physiologie gilt als die

Wissenschaft und Lehre von den normalen Lebensvorgängen, insbes. von den physikalischen Funktionen des Organismus.
(Pschyrembel, 257. Auflage)

Welche Fülle und Komplexität an Fakten sich hinter diesem Satz verbirgt, weiß jeder Medizinstudent, dessen natürliche Wißbegierde und die Freude daran, den Dingen auf den Grund zu gehen, angesichts einer erdrückenden Detailflut nur allzu oft verlorenging.

Deshalb kann es bei einem Lehrbuch der Physiologie nur darum gehen, an die Grundlagen, die zur Zeit als gesichertes Wissen und Lehrstoff gelten, heranzuführen und dies auf eine Weise, die das Interesse an dem gelehrten Fach fördert und Platz läßt für eine kritische Auseinandersetzung.

Den drei Autoren des 1994 erstmalig herausgegebenen und jetzt in der 5., komplett überarbeiteten Auflage erschienenen Lehrbuchs "Physiologie" Rainer Klinke, Hans-Christian Pape und Stefan Silbernagl ist es gelungen, ihre eigene Begeisterung für das Fach und die langjährige Lehrerfahrung über eine didaktisch durchdachte, übersichtlich gegliederte und ästhetisch ansprechende Aufbereitung des Lehrstoffs zu vermitteln. Sämtliche Grundlagen der Physiologie, die ein Medizinstudent für sein Studium braucht, werden in klarer und verständlicher Sprache dargestellt und illustriert.

Trotz der Not, die Fülle des gebotenen Lehrstoffes in einem Lehrbuch mit einer überschaubaren Seitenzahl unterzubringen, haben die Autoren nicht darauf verzichtet, in einem ersten Kapitel mit dem provokanten Titel "Wer liest schon Einleitungen?" eine knapp gehaltene, aber übersichtliche Einführung in die Grundlagen der Physiologie zu geben. In mehreren Unterkapiteln wird zunächst der Begriff Physiologie geklärt, dann wird auf die zum Einsatz kommenden Methoden eingegangen und auf die Wichtigkeit von Gegenprobe und Kontrolle hingewiesen. Begriffe wie Beobachtung, Hypothese, Experiment, Deutung, Theorie werden geklärt und es wird auf Gefahren aufmerksam gemacht, die mit der Wahl von Modellen verbunden sind. Insbesondere die Zerlegung des zu untersuchenden Systems in immer kleinere Einheiten kann dazu führen, daß der Eingriff des Experimentators so groß wird, daß nur noch Artefakte, also die Folgen seines Eingriffs, gemessen werden, die mit der gesuchten physiologischen Funktion gar nichts zu tun haben.

Angesichts der offensichtlichen Begrenztheit dieser Methode verweisen die Autoren jedoch darauf, daß

keinerlei Chance [besteht], die eigentlichen zellulären und molekularen Mechanismen des Körpers, und das schließt auch so komplexe geistige Leistungen wie etwa das Gedächtnis mit ein, am intakten Organismus zu klären.
(Seite 6)

und sehen es als die größte Herausforderung für die Physiologie an,

die unendlich vielen Daten, die auf zellulärer, subzellulärer und molekularer Ebene gewonnen werden, wieder zu einer Gesamtschau der Physiologie des Menschen zusammenzusetzen.
(Seite 6 und 7)

Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen Abbildungen, die nach Angaben von Stefan Silbernagl dazu beitragen sollen, "physiologische Vorgänge trotz all ihrer Komplexität eindeutiger und vor allem einprägsamer und damit merkbarer [zu] machen". In intensiver Zusammenarbeit zwischen Autoren und Grafikern wurden Text und Abbildungen aufeinander abgestimmt. Dabei sind die Zeichnungen nicht immer nur rein schematischer Natur, sondern zum Teil aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt. Beispielsweise wird der Vielschichtigkeit einiger Modelle dadurch Rechnung getragen, daß eine schematische Darstellung durch ein elektronenmikroskopisches Bild oder eine dreidimensionale Abbildung der chemischen Struktur eines Proteins ergänzt wird.

Kritisch anzumerken ist, daß durch diese Art der grafischen Aufbereitung oftmals eine Überschaubarkeit der dargestellten Verhältnisse vorgetäuscht wird, die keineswegs gegeben ist. So wird, um nur ein Beispiel zu nennen, im Kapitel über die Muskulatur durch die Anordnung der Bilder auf Seite 106 nahegelegt, daß sich die Theorie des Querbrückenzyklus, also der zyklischen Wechselwirkung zwischen Myosinkopf und Aktinfilament bei der Muskelkontraktion, durch die röntgenkristallographisch ermittelte Struktur des Myosinkopfes erhärten ließe, nur weil die Abbildungen so nebeneinander gestellt wurden, daß die röntgenkristallographisch ermittelte Struktur die Anordnung der Winkel in der schematischen Darstellung zu bestätigen scheint. Die hierdurch nahegelegte Interpretation trägt dem komplizierten Verfahren der Röntgenkristallographie und der Tatsache, daß es sicherlich nicht unproblematisch ist, zwei "eingefrorene" Bilder zur Veranschaulichung oder sogar als scheinbaren Beweis zur Untermauerung eines äußerst dynamischen Bewegungsablaufs heranzuziehen, in keiner Weise Rechnung.

Der Wunsch, die Wissenschaft und Lehre von den normalen Lebensvorgängen zu einem abgeschlossenen und weitgehend widerspruchsfreien Gedankengebäude aufzubauen, ist so alt, wie die Physiologie selbst, die im Jahr 1542 als eigenständiges Fach begründet wurde. Damals glaubte der französische Arzt und Philosoph Jean Fernel, der ein Zeitgenosse von Paracelsus war und mit der Schrift "Der natürliche Teil der Medizin" das erste Physiologiebuch überhaupt veröffentlichte, dieses Ziel bereits erreicht zu haben.

Seitdem haben sich die Lehrinhalte auf diesem Gebiet stark verändert, doch die Erfüllung des oben formulierten Wunsches steht nach wie vor aus. Ein letztgültiger Beweis für die Richtigkeit der gelehrten Konzepte und Modelle konnte nicht erbracht werden und scheint angesichts der zunehmenden Komplexität der Materie in immer weitere Ferne zu rücken. Obwohl zahllose Erkenntnisse zu nutzbringenden Konsequenzen und Therapien in der Medizin geführt haben, bleiben Lücken und Ungereimtheiten bestehen, die durch erweiterte oder auch ganz neue Modelle geschlossen werden müssten. Weitergehende Forschungen in immer kleineren Bereichen verschieben die Grenzen des Wissens, doch anstatt zu Ergebnissen zu gelangen, scheint die Komplexität zu entufern.

Das Problem, das zunehmend vielschichtige Wissen didaktisch aufzubereiten und auf sinnvolle Weise an die Lernenden weiterzugeben, ist keineswegs neu. Bereits im Jahr 1860 waren die Forschungen auf dem Gebiet der Physiologie so umfänglich geworden, daß eine Reduzierung des Lehrstoffs auf die bloßen Resultate unumgänglich schien und der Physiologe Adolph Fick in seinem "Compendium der Physiologie des Menschen" konzedierte:

Der nächste [wichtigste] Zweck dieses Buches ist, dass es den Medicin Studirenden in Stand setze, mit möglichst geringer Anstrengung sich diejenigen physiologischen Kenntnisse anzueignen, welche ein billiger [vernünftiger] Examinator von ihm verlangen muss... habe ich mich - eingedenk des ersten Zweckes - durchweg vorwiegend an die R e s u l t a t e gehalten und s i e mit einiger Ausführlichkeit dargestellt ... das Resultat ist das Wichtigste und Interessante, und, wenn man es einmal s i c h e r hat, d.h. jederzeit einen strengen Beweis führen kann, so kümmert man sich nicht mehr um die Methode seiner ursprünglichen Auffindung.
(Klinke, Pape, Silbernagl: Physiologie, Seite 2)

Der technische Fortschritt der letzten 150 Jahre ging Hand in Hand mit der Entwicklung zunehmend präziserer Untersuchungs- und Diagnosemethoden, so daß sich das Wissen auf dem Gebiet der Physiologie grob geschätzt verhundertfacht hat. Zur Zeit eines Adolph Fick war es noch möglich, wenigstens in den Vorlesungen diejenigen Versuche zu zeigen, mit denen das Gelehrte belegt werden konnte. Doch das ist heute nicht mehr machbar.

Es ist daher ein besonderes Verdienst der Autoren, daß sie in diesem Zusammenhang explizit auf eine Gefahr hinweisen, die nicht unterschätzt werden darf: daß nämlich das vermeintlich "gesicherte Wissen" eines Lehrbuchs oder auch einer Fachzeitschrift ohne Bedenken als feststehende Tatsache übernommen wird. Als Folge der notwendigen Reduzierung des Lehrstoffs auf die bloßen Ergebnisse können die Wege naturwissenschaftlich-medizinischer und -biologischer Wissensfindung mit all ihren Klippen heute nicht mehr als bekannt vorausgesetzt werden. Dementsprechend leicht geht dann auch das Wissen darüber verloren, daß es sich bei den präsentierten Fakten nicht um Wahrheiten, sondern lediglich um Modelle handelt - und zwar um diejenigen Modelle, die bei dem heutigen Stand der Forschung am plausibelsten erscheinen oder die aus politischen bzw. wirtschaftlichen Gründen favorisiert und durch eine gezielte Förderung vorangebracht werden.

Bedauerlich ist, daß in den meisten modernen Lehrbüchern nicht wenigstens an der einen oder anderen Stelle exemplarisch auf die Methoden und Umstände, die zu einem bestimmten Resultat geführt haben, eingegangen wird. Denn gerade sie könnten Aufschluß über die Interessen geben, die dazu führten, daß sich bestimmte Schlußfolgerungen durchsetzen konnten, während andere Ansätze oder alternative Modelle, die zur gleichen Zeit entwickelt wurden und mindestens genau so plausibel erschienen, auf der Strecke geblieben sind.

Dieses Manko versuchen die Autoren mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis am Ende eines jeden Kapitels, das dem interessierten Leser die Möglichkeit bietet, sich genauer mit dem Stoff auseinanderzusetzen, wettzumachen. Unterschieden wird jeweils zwischen einigen besonders wichtigen Quellen ("Zum Weiterlesen...") und weiteren Veröffentlichungen, die das Thema vertiefen ("... und noch weiter").

In dem 930 Seiten starken Buch werden die gültigen Theorien und Modelle der Physiologie in übersichtlicher und eingängiger Weise dargestellt und auch die neuesten Erkenntnisse mitberücksichtigt. Die einzelnen Kapitel sind in sich abgeschlossen, gleichwohl jedoch so angeordnet, daß sie sinnvoll aufeinander aufbauen. Jedes beginnt mit einer klinik- oder alltagsbezogenen Einleitung, die eine Brücke zum klinischen Studium bildet. Kurze Zusammenfassungen zu Beginn eines jeden Abschnitts liefern einen Überblick über die nachfolgenden Lehrinhalte. Die überaus durchdachte farbliche Gestaltung des Buchs sowie die Hervorhebung wichtiger Begriffe durch Fettdruck erleichtern das gezielte Auffinden, Lernen und Wiederholen bestimmter Themen.

Ein kleines, aber nicht unerhebliches Extra, das für die Sorgfalt der Autoren spricht und nur selten in Lehrbüchern angetroffen wird, ist die Berücksichtigung einer Rot-/Grün-Sehschwäche bei der Gestaltung der Abbildungen, die gewährleistet, daß auch von dieser Sehschwäche Betroffene sämtliche dargestellten Strukturen erkennen können. Besonders hervorzuheben sind darüber hinaus die letzten beiden, ausgesprochen nützlichen Kapitel "Maßeinheiten, Kurven und ein wenig Mathematik" und "Normalwerte", die zum schnellen Nachschlagen bestimmter physiologischer Werte, Laborparameter oder Formeln hervorragend geeignet sind. Ein ausführliches Sach- und ein Abkürzungsverzeichnis runden dieses nicht nur für Medizinstudenten, sondern für alle naturwissenschaftlich Interessierten äußerst empfehlenswerte Buch ab.


Rainer Klinke, Hans-Christian Pape und Stefan Silbernagl
Physiologie
5., komplett überarbeitete Auflage, über 700 Farbillustrationen
von Rüdiger Gay und Astried
Georg Thieme Verlag, Rothenburger, 2005
ISBN 3-13-796005-3


15.05.2006