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REZENSION/339: EbM-Guidelines für Allgemeinmedizin (MEDIZIN) (SB)


E. Rebhandl/S. Rabady/F. Mader (Hrsg.)


Evidence based Medicine-Guidelines für Allgemeinmedizin



Zeitmangel und ein Überangebot an medizinischer Information belasten den Arzt bei der täglichen Entscheidungsfindung. Das gilt zwar für alle medizinischen Fachgebiete, doch in besonderem Maße für die Allgemeinmedizin, die ein breites Behandlungsspektrum quer durch alle Fachdisziplinien umfaßt. So berechtigt die Forderung nach einer überprüfbaren Qualität der ärztlichen Arbeit sein mag, so unrealistisch ist die Erwartung, in jedem Einzelfall auf einen Praktiker zu treffen, der mit Fug und Recht behaupten kann, auf dem neusten Stand des Wissens zu sein. Denn neben der täglichen Arbeit in der Praxis und dem zunehmenden Verwaltungsaufwand bleiben häufig weder genügend Zeit noch Energie für die nötige Fortbildung. Die geradezu explosionsartig anwachsende Informationsmenge steht im krassen Widerspruch zu einer wöchentlichen Lese- und Weiterbildungszeit von oft nur 30 Minuten. Dabei verlangen allein die zehn führenden Zeitschriften der Inneren Medizin einen Leseaufwand von 19 Artikeln pro Tag, um auf diesem Gebiet den Stand der Wissenschaft zu verfolgen.

Dieser Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit trägt das Handbuch "EbM-Guidelines für Allgemeinmedizin" Rechnung, bei dem es sich um die zur Zeit umfangreichste Sammlung von EbM-basierten Leitlinien für dieses Fachgebiet handelt und das bereits von vielen Hausärzten in anderen Ländern Europas verwendet wird. Praxisorientiert aufgebaut wird der aktuelle Wissensstand übersichtlich zusammengefaßt. Das leichte Auffinden bestimmter Themen ist eine gute Voraussetzung dafür, daß die präsentierten Basisinformationen als Entscheidungsgrundlage in die tägliche Arbeit mit einfließen und das vorhandene Wissen sinnvoll ergänzen können.

Das Buch deckt nahezu alle Konsultationsgründe des Allgemeinmediziners ab. Es bietet diagnostische und therapeutische Richtlinien sowie Empfehlungen zu Medikamentendosierungen. Von herkömmlichen Lehrbüchern unterscheidet es sich durch die Bewertung der dargestellten Vorgehensweise. Unterschieden wird zwischen Evidenzgrad A (durch qualitativ hochwertige Studien belegt) bis Evidenzgrad D (alle Aussagen sind mit einer großen Ungewißheit behaftet).

Die "EbM-Guidelines für Allgemeinmedizin" gehören einer neuen Spezies von Medizinbüchern an, die zunehmend an Bedeutung gewinnen wird. Dabei steht EbM für 'evidenzbasierte Medizin' und wird (nach David Sackett, 1996) als "gewissenhafter, ausdrücklicher und vernünftiger Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten" definiert. Die EbM soll Forschung, Arzt und Patient zusammenführen. Dazu gehören systematisch bewertete patientenorientierte Studien, die diagnostische und therapeutische Methoden prüfen, wobei der Nutzen für den Patienten möglichst auch unter Alltags- und nicht nur unter den Idealbedingungen einer Studie nachgewiesen sein sollte. Zu dieser sogenannten "externen Evidenz" kommen dann die Urteilskraft und das Wissen sowie die Erfahrung des Arztes als "interne Evidenz" hinzu.

Der Begriff 'EbM' kam 1972 auf. Angesichts sich abzeichnender limitierter Ressourcen im Gesundheitswesen empfahl der britische Epidemiologe Professor Archibald Leman Cochrane, der heute als Vater der evidenzbasierten Medizin gilt, den Einsatz von Therapien, die sich in sorgfältig erhobenen Untersuchungen als effektiv erwiesen hatten. Diese Untersuchungen sollten nach Cochranes Vorstellungen am ehesten in Form randomisierter, kontrollierter Studien erfolgen, die als besonders zuverlässig gelten. So entstand ein internationales Netzwerk von Wissenschaftlern, die sogenannte Cochrane Collaboration, die es sich zur Aufgabe machte, systematische Übersichtsarbeiten zu erstellen, zu aktualisieren und in Form einer eigenen Datenbank, der Cochrane Library, zugänglich zu machen.

Bei dieser Arbeit stießen die Wissenschaftler auf das große Problem der sogenannten Verzerrungen, die aus Studien stammende Informationen systematisch verfälschen. Einige Beispiele hierfür sind

- die Tendenz, Studien, die die Überlegenheit einer Therapie belegen, bevorzugt und schneller zu publizieren als Studien, die keinen Wirksamkeitsnachweis erbringen,
- der Einfluß der Sprache, in der eine Studie veröffentlicht wird; so finden nicht englisch publizierte Studien weniger Beachtung in Übersichtsarbeiten und Metaanalysen,
- die unvollständige Identifizierung publizierter Studien in Datenbanken,
- oder auch das von persönlichen Interessen beeinflußte Publikations- und Zitierverhalten.

Angesichts der Tatsache, daß sich medizinischer Fortschritt heutzutage meistens in kleinen Schritten vollzieht, können diese Verzerrungen in der Summe zu einer gravierenden Überschätzung von Therapieeffekten und zu beträchtlichen Fehlschlüssen führen. Studien haben gezeigt, daß in den USA und den Niederlanden etwa 30 bis 40 Prozent der Patienten nicht die medizinische Behandlung zuteil wird, die für sie geeignet ist. Rund ein Viertel erhält überflüssige oder schädliche Therapien. Um diesem Mißstand Abhilfe zu schaffen, wurden in den vergangenen Jahren über tausend Leitlinien für unterschiedliche Erkrankungen entwickelt.

Die systematischen Übersichtsarbeiten der Cochrane Collaboration, deren oberstes Ziel es ist, Verzerrungen weitestgehend zu reduzieren und ein Höchstmaß an Transparenz anzustreben, um eine fundierte Einschätzung ihrer Qualität zu ermöglichen, liefern die Basis für die Erstellung von klinischen Leitlinien. In den letzten drei Jahrzehnten ist eine Vielzahl solcher Cochrane Reviews für alle Gebiete der Medizin erstellt worden.


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Über Sinn und Zweck der evidenzbasierten Medizin wurde eine heftige und teilweise polemische Debatte geführt, bei der sich zwei Positionen unversöhnlich gegenüber standen und stehen. Die einen bezeichneten die EbM als 'Kochbuchmedizin' mit einengenden Vorschriften, während die Gegenposition diesen Kritikern vorwarfen, an einer 'eminenzbasierten' Medizin festzuhalten, die sich allein auf die klinische Erfahrung wissenschaftlicher Eminenzen stütze und damit Gefahr laufe, "denselben Fehler mit steigender Zuversicht über eine beeindruckende Zahl von Jahren zu wiederholen" (zitiert nach Isaacs und Fitzgerald 1999 in einem Kurzbericht im British Medical Journal).

Der Vorwurf der 'Kochbuchmedizin' läßt sich vor dem Hintergrund, daß auch bei größter Sorgfalt eine völlige Objektivierung unter keinen Umständen zu erreichen ist, nicht ganz von der Hand weisen. Denn obwohl randomisierte und kontrollierte Studien im Vergleich beispielsweise zu retrospektiven Fallkontroll- oder Beobachtungsstudien als besonders zuverlässig gelten, bleibt doch ein großer Unsicherheitsfaktor. Es gibt diverse Beispiele, bei denen Metaanalysen, die mehrere randomisierte und kontrollierte Studien zum gleichen Thema auswerteten, zu entgegengesetzten Ergebnissen kamen. Es zeigte sich, daß die Auswahl der berücksichtigten Studien eine entscheidende Rolle spielt und ein gezielter Ausschluß das Ergebnis schnell verändern kann.

Wer also entscheidet über die "beste verfügbare externe Evidenz"? In die Auswertung einbeziehen lassen sich nur bereits durchgeführte Studien und diese werden in zunehmendem Maße - zumindest, was klinische Therapiestudien angeht - von den großen Pharmakonzernen initiiert und finanziert, so daß ihre Interessen unweigerlich in das Design der Studie einfließen.

Heute ist der Streit über Sinn und Zweck der evidenzbasierten Medizin durch das von der Politik vorgegebene Diktat der Wirtschaftlichkeit faktisch entschieden, denn die Therapiefreiheit der praktizierenden Ärzte wird zunehmend durch eine restriktive Reglementierung und Budgetierung eingeschränkt.

Weit entfernt vom ursprünglichen Verständnis einer evidenzbasierten Medizin (EbM), bei jedem einzelnen Patienten die Anwendung des bestmöglich verfügbaren medizinischen Wissens zu ermöglichen, wobei es Arzt und Patient überlassen bleiben sollte, sich für oder gegen eine Therapie zu entscheiden, haben die politische Entwicklung und insbesondere auch die Privatisierung großer Bereiche der medizinischen Versorgung zu einer Wandlung der Leitlinien geführt: weg von der rein ärztlichen, sich auf die EbM stützende Leitlinie, die sich ausschließlich an der Behandlungsqualität orientiert, hin zu der sogenannten Versorgungsleitlinie, bei der auch versorgungssystembezogene Bewertungsmethoden berücksichtigt und Aussagen über die gesundheitssystembezogene Qualität und Effizienz der Versorgung gemacht werden.


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Die "EbM-Guidelines für Allgemeinmedizin" stammen ursprünglich aus Finnland. Bereits 1989 publizierte die Finnische Medizinische Gesellschaft auf Wunsch der Allgemeinmediziner, die sich ein Nachschlagewerk für die große Vielfalt an Erkrankungen und Leiden wünschten, mit denen sie in der Praxis konfrontiert sind, eine elektronische Version der Leitlinien. Diese ist auch heute noch verfügbar und wird in regelmäßigen Abständen aktualisiert und verbessert. Sie bildet die Grundlage für die gedruckten 'EbM- Guidelines für Allgemeinmedizin', die zunächst in einer internationalen englischsprachigen Version publiziert wurden und dank der Initiative der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin nun auch auf deutsch vorliegen. Dabei wurden die in Finnland erprobten Empfehlungen an die Verhältnisse des österreichischen Systems angepaßt.

Beim Sichten des Inhaltsverzeichnisses fällt auf, daß die Numerierung Lücken aufweist. So folgt auf Kapitel "16 Onkologie" gleich das Kapitel "19 Sportmedizin" und nach "38 Hals-, Nasen-, Ohren-Heilkunde" kommt "41 Gerichtsmedizin". Diese Auslassungen sind, wie auf Seite 21 erklärt wird, dem Umstand geschuldet, daß die Stellung der Allgemeinmedizin im Gesundheitswesen in Finnland eine andere ist als im deutschsprachigen Raum und die Originalversion daher noch zusätzliche Kapitel enthalte, 'die für die Allgemeinmediziner hierzulande im Regelfall keine oder nur eine sehr geringe Rolle spielen'. Schade ist nur, daß der Nutzer dieses Buchs nicht erfährt, um welche Themen es sich bei den weggelassenen Kapiteln handelt, zumal Querverweise auf diese Kapitel erhaltengeblieben sind. Fairerweise muß jedoch hinzugefügt werden, daß zusätzlich zum Handbuch eine regelmäßig aktualisierte deutschsprachige Internetversion der EbM-Guidelines geplant ist, die alle im Buch fehlenden Kapitel berücksichtigt. An diesem Projekt wird zur Zeit noch gearbeitet. Die Fertigstellung ist für den Herbst 2006 geplant.

Zu hoffen ist, daß dann auch die aktuellen Leitlinien für die Basismaßnahmen der Reanimation enthalten sind, die der als Buch vorliegenden Sammlung von Leitlinien für Allgemeinmedizin fehlen.

Ansonsten kann das übersichtlich gegliederte, mit einem umfassenden Inhalts- und einem Abkürzungsverzeichnis sowie einem ausführlichen Register ausgestattete Werk nicht nur dem Allgmeinmediziner, sondern auch Ärzten anderer Fachbereiche als hilfreiches Instrument für die tägliche Arbeit empfohlen werden. Besonders zu erwähnen bliebe noch die ausgezeichnete und hilfreiche dermatologische Bilddokumentation und die übersichtliche Gestaltung des Textes, der, in Spalten gesetzt, dem Charakter eines schnellen Nachschlagewerks angemessen ist. Hier wären ein oder auch zwei Lesebändchen eine kleine, aber überaus sinnvolle Ergänzung gewesen.


E. Rebhandl/S. Rabady/F. Mader (Hrsg.)
Evidence based Medicine-Guidelines für Allgemeinmedizin
Chefeditor: Ilkka Kunnamo
Deutscher Ärzte-Verlag, Köln, 2006
1471 Seiten, 191 Abbildungen, 183 Tabellen
ISBN 3-7691-0511-7

Internetversion der vollständigen deutschsprachigen
EbM-Guidelines: www.ebm-guidelines.de
(voraussichtlich ab Herbst 2006 verfügbar)


12.07.2006