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REZENSION/469: Dirk Heinrichs - Da hab ich nur noch Rot gesehen! (SB)


Dirk Heinrichs


Da hab ich nur noch Rot gesehen!

Jugendliche Gewalttäter und Opfer berichten



In einer Gesellschaft, in der Konflikte niemals unmittelbar zwischen den Mitgliedern ausgetragen werden dürfen, sondern statt dessen Recht und Gesetz das Zepter führen, bleibt es nicht aus, daß jeglicher Bruch mit diesem Gebot des Gewaltmonopols stets als Fehlleistung des Individuums ausgewiesen und abgestraft wird. Im Extremfall wird der "Gewalttäter" pathologisiert, weggesperrt und - zumindest in einigen Gesellschaften - sogar physisch vernichtet. Die von einer sich kritisch wähnenden Soziologie vertretene Ansicht, daß nicht alle Schuld beim Gewalttäter liegt und der gesellschaftliche, kulturelle und familiäre Hintergrund bei seinem schuldhaften Verhalten eine Rolle spielt - was bei der Be- und Verurteilung des Regelbrechers berücksichtigt werden müsse -, stellt keinen Gegenentwurf zu den bekannten Formen der Ausgrenzung dar, sondern erweitert diese, indem sie sich der gleichen Termini wie "Täter", "Fehlverhalten" und "Schuld" bedient. Diese Begriffe werden um so tiefer im Wertekanon des vorherrschenden Systems befestigt, je mehr sich auch angebliche Gegenpositionen ihrer bedienen.

Das Buch "Da hab ich nur noch Rot gesehen!" von Dirk Heinrichs wurde von dem vermeintlich kritischen Geist jener Soziologie angehaucht, doch ist es kein sozialwissenschaftliches Buch. Dazu mangelt es zu sehr an einem methodischen Aufbau, einer durchgehaltenen Fragestellung, der Stringenz. Es handelt sich vielmehr um ein Produkt, das einen Einblick in Sozialarbeit liefert, wie sie von dem Autor verstanden wird. "Warum ich dieses Buch geschrieben habe", lautet die Überschrift des einleitenden Kapitels, in dem Dirk Heinrichs eine Situation in einer Diskothek schildert, bei der er provoziert wurde und nur noch Rot gesehen hat. Es kam zu einer Schlägerei, aus der er siegreich, wenngleich höchst nachdenklich geworden ob seines Ausrasters, hervorgegangen ist.

Einem Quereinsteiger wie dem Schauspieler Heinrichs, der im Zeitraum 2000 bis 2005 den Oberkommissar Lenny Winkler in der TV-Serie "Die Sitte" gespielt und sich anschließend ehrenamtlich an Schulen mit dem Konzept "Sprache gegen Gewalt" engagiert hat, sollte durchaus die Chance eingeräumt werden, auf diesem ungewöhnlichen Weg zu Erkenntnissen zu gelangen, die kein sozialwissenschaftliches Studium zu vermitteln vermag. Wenn sich demgegenüber sogenannte Experten im Elfenbeinturm der Sozialwissenschaften mittels geheimsprachlich anmutender Fachbegriffe - deren Kode Außenstehende häufig nur dann zu entschlüsseln vermögen, wenn sie selbst jenen Turm erklommen haben - austauschen, wird dabei mitunter bis zur Unkenntlichkeit vom behaupteten Forschungsgegenstand abstrahiert.

Keineswegs ist Heinrichs das persönliche Engagement abzusprechen, mit seinen Interviewpartnern, die meist um die 20 Jahre alt waren und im Knast saßen, die Umstände, wie sie in die Kriminalität abgleiten konnten, herausarbeiten zu wollen. Wobei dem Autor die offensichtliche Orientierung seiner Fragen an simplifizierende Konzepte der Verhaltenspädagogik und Kriminalitätspsychologie eher im Wege standen. Mit Fragen an einen jugendlichen Straftäter wie: "Gibt es euch einen Kick, diese Verbrechen zu begehen?" (S. 21), "Wie wichtig sind Männlichkeit und Kraft für dich?" (S. 27) oder "Stört dich die Gewalt um dich herum denn gar nicht?" (S. 29) werden Klischees abgefragt und womöglich Einsichten erzeugt, die, kaum ausgesprochen, im nächsten Moment schon wieder vom rauhen Knastalltag ausgetrieben werden.

In begleitenden Beschreibungen zu den Interviews sowie in Gesprächen mit zwei Schulleitern, einem Vollzugsbeamten, einem Gewaltopfer, einem Anwalt und einem Wissenschaftler bemüht sich der Autor um eine Erörterung des Themenkomplexes Gewalt und Kriminalität. Dabei werden durchaus Widersprüche genannt, an denen deutlich wird, daß die politischen Vorgaben und gesellschaftlichen Strukturen wie auch kulturellen Gepflogenheiten zahlreiche Formen individueller Gewalt hervorbringen. Heinrichs ist zuzustimmen, wenn er schlußfolgert, daß "unser Strafvollzugssystem wenig dazu geeignet [ist], die Gefangenen tatsächlich zu 'bessern' in dem Sinne, wie es die Gesellschaft eigentlich erwartet" (S. 299). Der Autor spricht in diesem Zusammenhang vom Knast als "Hochsicherheitsverwahrung" und "Kontakthof für die Gegengesellschaft" (S. 299).

Der Anspruch der Resozialisierung werde nicht erfüllt, bemängelt Heinrichs und fordert, daß sich jemand um die Gefangenen kümmern müsse. Er selbst scheint ein wenig hilflos ob der Größe dieser Aufgabe, wenn er im Schlußkapitel mit Pseudolösungen aufwartet wie, daß man nicht "Toleranz" gegenüber dem andern, sondern mehr "Respekt" zeigen solle (S. 301). Bei Toleranz lasse man etwas zu, was man eigentlich gar nicht wolle, bei Respekt hingegen erkenne man eine andere Meinung der eigenen als gleichwertig an.

Eigentlich müßte Heinrichs wissen, daß solche (frommen) Ansprüche regelmäßig an der Realität scheitern. Mehr noch, bei genauerem Betrachten entspringen sie dem Wunsch, es möge in einer von unvereinbaren Widersprüchen geprägten Gesellschaft individuelle Lösungen bzw. sozial- oder gesprächstherapeutisch erarbeitete Nischen geben. Doch jedes Bemühen um Korrektur eines Verhaltens, das immer nur aus der Sicht der gesellschaftlich vorherrschenden Interessen fehlgeleitet erscheint, muß letztlich als Legitimationsversuch ihrer Vorherrschaft angesehen werden. Und die Vertreter einer sich gesellschaftskritisch gebenden Sozialarbeit setzen ihren sicheren Platz innerhalb des Systems nicht aufs Spiel. Es wurde geradezu zum Leitmotiv erkoren, daß "die Grenze" zum vermeintlich korrekturbedürftigen Gegenüber niemals überschritten werden darf. Das vorliegende Buch spiegelt diese Sichtweise wider.

3. März 2009


Dirk Heinrichs
Da hab ich nur noch Rot gesehen!
Jugendliche Gewalttäter und Opfer berichten
fredeboldundfischer, Köln, April 2008
304 Seiten, 15,95 Euro
ISBN: 978-3-939674-14-6