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REZENSION/489: Ulrich Scharfenorth - Störfall Zukunft (SB)


Ulrich Scharfenorth


Störfall Zukunft

Schlussfolgerungen für einen möglichen Anfang



Auf dem Markt der vielen grünen Möglichkeiten tummeln sich zahllose Autorinnen und Autoren, die meinen, einen gewichtigen Beitrag zu Themen wie Klimawandel, Nachhaltigkeit, Ernährung, Energieversorgung oder auch Technologieentwicklung leisten zu können. Zu diesen Diskursen hat Ulrich Scharfenorth mit "Störfall Zukunft" eines der sicherlich umfangreichsten und unnötigsten Bücher beigetragen, wie wir im folgenden an einigen Beispielen verdeutlichen wollen.

Es erweckt beinahe schon Mitleid, lesen zu müssen, wie jemand, dem zweifellos große Ambitionen und viel Fleiß bei der Sammlung seiner Textfragmente zu attestieren sind, "die Sache völlig vergeigt", um einmal einen typisch scharfenorthschen Terminus zu verwenden. Nicht nur, daß es ihn zwischen den Themen hin und her wirft wie die Kugel in einem Flipperautomaten, er zieht auch laufend gebrochene Vergleiche und gelangt zu Schlußfolgerungen, die sich entweder durch ihre ungeschönte Banalität auszeichnen oder aber unverknüpft mit dem vorangegangenen Analyseansatz bleiben. Manchmal trifft beides zusammen. Inmitten dieses verworrenen Dickichts, das man als Leser schon nach wenigen Seiten am liebsten umgehen möchte, weil rasch die Ahnung zur Gewißheit auswächst, daß es müßig ist, den verschlungenen Pfaden des nimmer endenden Stroms an Reflexionen und Dahingeworfenem zu folgen, stellt der Autor Behauptungen auf, die längst widerlegt sind.

Man kann die gut 630 Seiten dieses Wälzers wie bei einem Taschenkino mit einer Hand im Schnellverfahren durchrauschen lassen, mit dem Zeigefinger der anderen Hand an beliebiger Stelle in den Strom der Seiten hineinstechen und wird dort zuverlässig auf ein Füllhorn an Beispielen für aneinandergereihtes Schubladendenken stoßen. Vielleicht liegt das ja an den von Scharfenorth bevorzugten Quellen. Der Schwerpunkt der vielen hundert Fußnoten entfällt auf die FAZ. Auch das ebenfalls konservative Blatt Die Zeit scheint es dem Autoren angetan zu haben, und weitere Mainstreammedien wie ARD, ZDF, 3sat, Arte, Welt am Sonntag fehlen ebenfalls nicht.

Die Themen, über die sich Scharfenorth ausläßt, mäandern willkürlich zwischen Nanotechnologie, Wirtschaftswachstum, Weltraumfahrt, russischer Regierung, Arbeitsmarktsituation in Deutschland, Primärenergie, Tony Blairs "drittem Weg", Sicherheitsgefahren für das Jahr 2020 und gefühlten eine Million weiteren gesellschaftlichen Bereichen. Damit hat sich der Autor eindeutig überhoben. Er vermag nicht zu stemmen, was er sich an Gewichten aufgelegt hat. Das ist bedauerlich, denn als Diplomingenieur aus der Stahlindustrie in der DDR hätte er möglicherweise einige interessante Vergleiche beispielsweise zu den unterschiedlichen Produktionsbedingungen seiner Branche in Ost und West anstellen und versuchen können, daraus Prognosen für die Zukunft abzuleiten. Wird doch die Sicht eines Fachmanns "von drüben" in der vereinheitlichten Bundesrepublik weitgehend vernachlässigt, nicht selten sogar diffamiert.

Unsere "Taschenkino-Auswahl" hat uns zwischen den Seiten 24 und 25 stoppen lassen. Thema Raumfahrt. Im folgenden zitieren wir Scharfenorth an einem Stück, nur unterbrochen durch eigene Kommentare:

"Einigermaßen verkraftbar scheinen die unbemannten Projekte - etwa das Aussetzen von Satelliten oder die Mitwirkung an der ISS. Doch überall dort, wo die Raumfahrtnationen/-Staatenverbunde separat 'wursteln', wird schnell das Geld knapp ('Galileo'). Dennoch sind alle Akteure äußerst motiviert."

Das Satellitennavigationssystem Galileo eignet sich denkbar schlecht als Beispiel für separates "Wursteln", denn es handelt sich um ein europäisches Gemeinschaftsprojekt. Das schließt Konkurrenz der Firmen untereinander nicht aus. Somit bleibt das, was der Autor mit "separat" gemeint haben könnte, der beliebigen Interpretation der Leserinnen und Leser überlassen. Ebenso wie es offengelassen wird, von welchen "Akteuren" genau er spricht und für was sie eigentlich "motiviert" sein sollen.

"Von der Weltraumfahrt profitieren vor allem die Luftfahrt- und Militärindustrie, die Informationstechnologie und die Elektroindustrie - der führenden Industrieländer. Konkrete Zahlen dazu gibt es allerdings nicht."

Hier stellt sich die Frage, wieso Scharfenorth ein paar Industriezweige benennt, die "vor allem" von der Weltraumfahrt profitieren sollen, ohne dann zu erläutern, worin der Profit seiner Meinung nach bestehen könnte. Er beläßt es bei der bloßen Aufzählung. Das ist banal. Im übrigen wäre mindestens noch die Politik zu nennen, die von der Weltraumfahrt profitiert, nämlich ideologisch. Es ist bezeichnend, daß US-Präsident George W. Bush am 14. Januar 2004 in der NASA-Zentrale in Washington mit viel Pathos eine "Vision der Weltraumerkundung" mit einem bemannten Flug zum Mond, den Bau einer Mondstation und den Flug zum Mars verkündet hat. Er nahm dabei unverkennbar Bezug auf John F. Kennedys Ankündigung des Mondprogramms im Jahre 1961. Damit reklamierte die US-Regierung weltweite Führungsstärke.

Man kann sogar sagen, daß die ideologische Ausrichtung der Weltraumfahrt eine ihrer zentralen Funktionen ist, weswegen sie von den Regierungen gefördert wird, während die Weltraumtechnologie entweder weitgehend selbstreferentiell bleibt, das heißt immer nur weitere Weltraumtechnologie hervorbringt, oder aber Spin-off-Effekte schafft, die genau das sind, was der Name sagt: Beiwerk.

"Vor allem die Amerikaner, aber auch Russen, Europäer, Chinesen und Japaner wollen auf den Mond - was die Mission der ISS aushöhlt, zumindest aber in Frage stellt. Einige der Teilnehmer könnten durchaus zum Spagat gezwungen werden, wollten sie den Anschluß an das weitere möglicherweise wichtigere Weltraumgeschehen halten. Fragt sich, ob die USA - ähnlich wie im Kalten Krieg - die Konkurrenten totrüsten wollen. Denn eines steht fest: Bemannte Missionen können nur sie sich leisten - oder ein Verbund verschiedener Staaten (unter Einbeziehung der USA)."

Für wen könnte Weltraumgeschehen aus welchen Gründen "wichtiger" sein? Und wieso wollen die Amerikaner "vor allem" auf den Mond, während die Russen, Europäer, Chinesen und Japaner teilweise eben erst als hoch motiviert bezeichnet wurden, aber es jetzt auf einmal nicht mehr sind? Und wieso ignoriert Scharfenorth, daß China fünf Jahre vor Erscheinen seines Buchs mit Yang Liwei einen ersten Taikonauten (Raumfahrer) ins All gebracht hat und zwei Jahre darauf bereits zwei Taikonauten zugleich, und zwar aus eigener Kraft?

Die Entscheidung des Autors, ein zweigeteiltes Buch zu schreiben, bei dem der Fließtext auf nahezu jeder Seite von ein oder mehreren eingerückten, fettgedruckten Absätzen, die faktengestützt sein sollen, unterbrochen wird, hat sich als unglücklich erwiesen. Das liegt zum einen daran, daß Scharfenorth die von ihm gewählte Form nicht einhält und die eigentlich inhaltlichen Textteile mit persönlichen Wertungen versieht, während der als wertend und erläuternd ausgewiesene Fließtext mitunter pure Fakten transportiert. Zum anderen wäre der Lesefluß durch diese wechselweise Präsentation sowieso gestört gewesen, selbst wenn das Buch streng formal gegliedert geblieben wäre.

In einem kurzen Epilog gibt Scharfenorth den Leserinnen und Lesern vierzehn Tipps mit auf den Weg, "wie sie selbst zu mehr Nachhaltigkeit in der Welt beitragen können" (S. 606f). Da empfiehlt er unter Punkt 1, täglich Zeitung zu lesen, wenn möglich eine überregionale, sich von Werbung nicht zu "unsinnigem Konsum und sinnloser Beschäftigung" animieren zu lassen und die Freizeit "im Zweifelsfall" für Entspannung, Gespräche, Sport, Musik etc. zu verwenden. Unter Punkt 2 rät er dazu, Licht zu löschen, wo es nicht gebraucht wird. Und weil er diesen Tipp für wichtig hält, hat er ihn mit einem Ausrufezeichen versehen. Bei einer Dacherneuerung sollte man "optisch ansprechende" Solarfolien installieren. Und woran bislang noch niemand gedacht hat: Das Haus sollte isoliert werden, "wo es Wärme frisst"! Das PS-starke Auto sollte gegen ein Hybridauto getauscht werden (Punkt 3), man soll in eine Partei eintreten und Bürgerbewegungen unterstützen (Punkt 4). Auch die Beteiligung an Demonstrationen wird empfohlen (Punkt 5), beispielsweise gegen Freihandel oder die Willkür von Großkonzernen. Und so weiter und so fort.

Die hier präsentierten Allerweltstipps, die verteufelt an die guten Ratschläge auf Blattrückseiten von Kalendern erinnern, die mit vertrauter Zuverlässigkeit kurz vor dem Jahreswechsel kostenlos von Apothekern verteilt werden, bilden den Schlußpunkt zu mehreren hundert Seiten halb angelesener, unsystematisch aneinandergereihter "Weisheiten" - die Abbildung eines Gewirrs an Elektrokabeln auf dem Einband von "Störfall Zukunft" symbolisiert den Inhalt recht treffend.

Lediglich im 14. und letzten Ratschlag können wir uns Scharfenorth ohne jede Einschränkung anschließen: "Kaufen Sie nachhaltige statt Wegwerf-Ware (...) vermeiden Sie Müll!" Deshalb unser Rat: Ersparen Sie sich den Erwerb dieses Buchs.

23. Juli 2009


Ulrich Scharfenorth
Störfall Zukunft
Schlussfolgerungen für einen möglichen Anfang
Heiner Labonde Verlag, Grevenbroich 2008
632 Seiten, 34 Euro
ISBN 978-3-937507-15-6