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REZENSION/565: Detlef Hartmann, John Malamatinas - Krisenlabor Griechenland (SB)


Detlef Hartmann, John Malamatinas


Krisenlabor Griechenland

Finanzmärkte, Kämpfe und die Neuordnung Europas



Mit den Ergebnissen des EU-Sondergipfels am 21. Juli 2011 hat die Entwicklung des griechischen Krisenszenarios einen vorläufigen Höhepunkt und Abschluß erreicht. Der viel zu geringe Schuldenschnitt sorgt dafür, daß die Bevölkerung des Landes einer voraussichtlich viele Jahre währenden Schuldknechtschaft unterworfen wird, der mit der Zustimmung des Athener Parlaments zum dritten Sparpaket am 29. Juni 2011 der Weg gebahnt wurde. Die damit erreichte Konsolidierung EU-europäischer Handlungsfähigkeit ist zwar weiterhin durch die endemische Staatsschuldenkrise in Frage gestellt, doch kann die Zustimmung führender sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Kreise in Griechenland zur forcierten Durchsetzung der sozialfeindlichen Austeritätspolitik durchaus als Erfolg für die maßgeblichen Architekten des supranationalen Verwertungsregimes der EU, Frankreich und Deutschland, gewertet werden.

Anfang 2011 haben Detlef Hartmann und John Malamatinas mit "Krisenlabor Griechenland" eine Analyse der bis dahin erfolgten Krisenintervention und des dagegen gerichteten Widerstands vorgelegt, deren Gültigkeit durch die jüngste Entwicklung keineswegs in Frage gestellt ist. Der dabei verfolgte Ansatz, nicht von einer bloßen Krise des Akkumulationsregimes auszugehen, das aufgrund kapitalismusimmanenter Widerspruchslagen an seine Grenzen gestoßen ist, sondern die unzureichende Durchsetzung innovativer Formen der Inwertsetzung und Unterwerfung zum Kernproblem herrschender Interessen zu erheben, hat zweifellos über die tagespolitische Regulation der 2007 manifest gewordenen Krise hinaus Bestand.


Der erste, von John Malamatinas verfaßte Teil berichtet vom Widerstand in Griechenland seit den Riots im Dezember 2008, die nach der Ermordung des 15jährigen Alexandros Grigoropoulos durch die Polizei losbrachen und auf weite Kreise der sozial ausgegrenzten Bevölkerung übergriffen. Der Autor entfaltet die Entwicklung der Proteste vor dem Hintergrund der programmatischen, von der politischen Farbe der jeweiligen Regierung weitgehend unabhängigen Durchsetzung des sozialökonomischen Mangelregimes. Zwar erodiert die Zustimmung, die die seit Oktober 2009 amtierende PASOK-Regierung unter Ministerpräsident Georgios Papandreou anfangs erhielt, aufgrund der von ihr durchgesetzten Sparmaßnahmen, doch war sie in der Lage, einen Gutteil der Bevölkerung davon zu überzeugen, daß es sich dabei um eine vermeintlich unabdingliche Entscheidung handelte, der man mit patriotischer Pflichterfüllung zu entsprechen habe.

Was auf der einen Seite mit nationalistischer Rhetorik an Zustimmung mobilisiert wird, verstärkt auf der anderen Seite das Feindbild der radikalen Linken. Aus dem klassischen Spiel zwischen Einbindung und Ausgrenzung resultiert die wirksame Spaltung einer Bevölkerung, die allen Grund dazu hätte, gemeinsam gegen die ihr zugemutete Verelendung aufzustehen. Die immer enger fassende Zange aus mangelgetriebenem Konformitätsdruck und gewaltsamer Unterwerfung erzeugt unter der dann noch widerständigen Bevölkerung desto größere Bereitschaft, sich mit radikaleren Kräften der Linken zu verbünden. Malamatinas diskutiert am Beispiel des breiten Spektrums linker Parteien und Organisationen verschiedene Möglichkeiten der Mobilisierung, wobei er reformistische und nationalistische Parolen als den Widerstand herrschaftsförmig kooptierende Strategien verwirft.

Seine Abgrenzung gegen die "veralteten Positionen" (S. 24) der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) illustriert das Problem der radikalen Linken, prinzipiell gleichgerichteten Widerstand auf eine gemeinsame Aktionsplattform zu heben. Zwischen autonomer/anarchistischer Selbstorganisation und dem Kadersystem einer kommunistischen Partei wie der KKE liegen offensichtlich Welten, die noch mehr auseinanderstreben, wenn die Frage diskutiert wird, ob der Widerstand internationalistisch konnotiert sein darf. Wenn die KKE die Akropolis besetzt, um dort ein riesiges Transparent mit der Parole "Peoples of Europe Rise Up" aufzuhängen, dann muß das nicht im Widerspruch zu autonomen Besetzungen stehen, mit denen auf weniger spektakuläre, dafür aber womöglich dauerhaftere Weise Basisarbeit bei der Mobilisierung der Bevölkerung geleistet wird.

Die strikte Ablehnung internationalistischer Parolen dieser Art läßt außer Acht, daß sie sich selbstverständlich nicht an die Adresse ganzer Völker richten, sondern stets die unterdrückten und ausgebeuteten Klassen meinen. Die griechische Bevölkerung ist doppelt gestraft, als nationales Kollektiv einer ökonomischen Hungerkur ausgesetzt zu werden, der die Unterwerfung unter die eigene Oligarchie vorausgeht und folgt. Bislang wird das EU-europäische Krisenmanagement im Rahmen eines Staatenbundes organisiert, dessen administrative und ökonomische Unterschiede nach wie vor nationalstaatlich organisiert sind. Dies erfolgt durchaus im Konsens europäischer Eliten, um die die Verwertungsdynamik beschleunigenden Abstufungen des Elends auf selbstdestruktive Weise gegen die jeweils davon Betroffenen zu richten.

Wenn deutsche Hartz IV-EmpfängerInnen meinen, "Pleitegriechen" oder türkische MigrantInnen seien an ihrer Misere schuld, dann ist das weit irrealer als die Wut vieler GriechInnen über die imperialistische Politik Deutschlands. Wiewohl Nationalismus prinzipiell zu bekämpfen ist, bleibt doch die Frage, ob eine in dieser Zuschreibung nicht nur von Ausplünderung, sondern auch Diffamierung betroffene Bevölkerung die über sie verhängte Kollektivstrafe nicht auf eine Weise gegen deren Urheber richten sollte, die maximale antagonistische Wirkung zeigt. Den nationalen Bezug in der Solidarisierung mit gleichermaßen betroffenen Bevölkerungen Europas zu überwinden läge desto näher, je geschlossener die Zurückweisung des imperialistischen Übergriffs erfolgte. Der durch massenhaften sozialen Widerstand in Frankreich und Griechenland inspirierte "heiße Herbst" in der Bundesrepublik fiel weitgehend aus, während die Gleichgültigkeit, wenn nicht klammheimliche Freude über das Elend der anderen kaum größer sein konnten. Dem mit der Moral angeblicher deutscher Tüchtigkeit wuchernden Besitzbürgertum hätte eine noch deutlichere Zurückweisung dieser Apologie eigener Raubstrategien aus Griechenland jedenfalls nicht geschadet.

Über die von Malamatinas artikulierte Hoffnung, die im Mai 2010 erreichte Breite des Protests, der linksradikale AktivistInnen, streikende ArbeiterInnen und prekarisierte BürgerInnen einbezog, führe zur Eröffnung eines neuen Dialogs, "damit Protest nicht nur Protest bleiben wird, sondern sich in dauerhaften organisierten Widerstand verwandelt" (S. 41), entscheidet auch die Frage, inwiefern die Teilhaberschaft an herrschenden Interessen überwunden werden kann. Eine "klare Linie zwischen Staat und Protestbewegung" zu ziehen ist zweifellos das Minimum der Aufkündigung eines Anspruchs auf Teilhabe, dessen Bindekraft weit über die meist ausbleibende Realisierung der Perspektiven, die er eröffnet, hinausreicht. "Nationalistische Beweggründe" können kein Ersatz für die Subjektivität eines Streites sein, den in seiner Konsequenz zu führen einer fundierten Positionierung bedarf, anstatt auf den Tauschwert identitärer Zuschreibung und abstrakter Zugehörigkeit zu reflektieren. Sie ins Mark ihrer korrumpierenden Wirkung zu treffen erfordert jedoch eine Verstärkung im gemeinsamen Kampf, die mit bloßer Ideologiekritik nicht zu erreichen ist.

Die Schwäche einer in ideologischen Grabenkämpfen verstrickten Linken ist zu einem Gutteil Ergebnis einer Vergesellschaftung, deren moralische Imperative nicht als Kategorien der Fremdbestimmung durchschaut werden. Wem gut und böse Maßstäbe eigenen Handelns sind, anstatt eine Urteilskraft zu entwickeln, die autonom ist, weil sie dem Zweifel Geltung verschafft, wer sich nicht ins Unrecht setzen möchte, sondern auf gesellschaftliche Rechtsansprüche reflektiert, wer den Kampf an die Aussicht auf Erfolg bindet, anstatt prinzipielle Nichtakzeptanz zu seiner Voraussetzung zu machen, ist in seiner Bewegung bereits gebrochen.


Die "Schockpolitik und der Umbau Europas" sind Gegenstand des zweiten und umfangreichsten Teils des Buches. Den Verlauf der griechischen Schuldenkrise 2010 nimmt Detlef Hartmann zum Anlaß darzustellen, wie ein in globaler Konkurrenz wurzelndes Krisenmanagement auf ein Land der südeuropäischen EU-Peripherie fokussiert wird, um es dort auf exemplarische Weise zu erproben. Die zur Systemkrise eskalierende Überschuldung diverser Staaten als Bedrohung für den Zusammenhalt der EU auszumachen, wie es gemeinhin getan wird, erscheint dem Autor als verkürzte und oberflächliche Deutung. Seiner Ansicht nach bedarf dieses Ensemble kapitalistischer Gesellschaften der Krise, um die Qualifikation ökonomischer und administrativer Verfügungsgewalt als offensive Strategie im sozialen Krieg zu betreiben.

Die Krise als Chance zur Durchsetzung einer Transformation des kapitalistischen Verwertungsregimes gegen den Widerstand der davon betroffenen Bevölkerungen aufzufassen eröffnet den Blick auf eine Politik des kalkulierten Risikos, die gerade dann, wenn sie am Abgrund entlanglaviert, nach größtmöglichen Nutzeffekten greift. So könnte das Zögern der Bundeskanzlerin, der Gefahr eines Staatsbankrotts Griechenlands durch das frühzeitige Schnüren ohnehin unausweichlicher Rettungspakete entgegenzutreten, auch als Provokation handlungsleitender Sachzwänge Sinn machen. Man könnte auch von der kreativen Bewältigung realer Kontrollverluste sprechen, ist souveränes Regierungshandeln in Anbetracht objektiver Entwertungsprozesse doch ebensowenig gegeben wie die angebliche Herrschaft "der Märkte", mit deren Subjektivierung die Maskierung konkreter Interessen nicht durchsichtiger betrieben werden könnte.

Wie Hartmann auch am Beispiel der Einschaltung des IWF darstellt, auf dessen Erfahrung bei der Durchsetzung neoliberaler Strukturanpassungsprogramme in den Ländern des Südens man bei der Disziplinierung der europäischen Bevölkerungen nicht verzichten will, richtet sich die Einführung einer neuen Verwertungsordnung gegen das Interesse der davon am meisten in Mitleidenschaft gezogenen Klasse erwerbsabhängiger und versorgungsbedürftiger Menschen. So hält der Autor eine Krisenanalye, die den Antagonismus zwischen technologischen wie wirtschaftlichen Innovationsschüben und dem dagegen gerichteten Klassenwiderstand nicht beim Namen nennt, für unzureichend.

Die von ihm ausführlich analysierten, die industrielle Produktionsweise ebenso wie deren finanztechnische und organisatorische Optimierung betreffenden Offensiven des Kapitals bezwecken in erster Linie die Umwälzung tradierter sozialer Verhältnisse und aller damit vor dem Zugriff Dritter geschützter Formen der Produktion und Reproduktion etwa gemeinwirtschaftlicher, familiärer oder kommunaler Art. Große Bedeutung für diese Entwicklung mißt Hartmann den in den USA angesiedelten IT-Industrien bei. Mit ihnen wurden nach der Krise der New Economy vor zehn Jahren durch eine von der US-Zentralbank freigesetzte und von Venture-Kapitalisten investierte Liquiditätsschwemme innovative Formen unternehmerischer und infrastruktureller Organisation in den von Detlef Hartmann und Gerald Geppert bereits unter dem Titel "Cluster" beschriebenen [1] Zentren industrieller Produktivität etabliert, die nicht nur den in den USA angesiedelten Konzernen, sondern auch der US-Regierung einen erheblichen Vorsprung bei der Qualifikation globaler Verfügungsverhältnisse gewähren.

Während die Rationalisierung fordistischer Industrien durch die mikroelektronische Produktionsweise Lohnarbeit in großem Ausmaß ersatzlos vernichtet hat, beschleunigten die informationstechnischen Systeme die Dynamik der Finanzmärkte und erweiterten die Verschuldungsmöglichkeiten durch die Schaffung komplexer Finanzprodukte wie der Versicherung von Kreditausfallrisiken oder der Bündelung von Schuldverschreibungen zu ihrerseits wie Aktiva zu handelnden Derivaten. Der damit erweiterte Handlungsraum der Investoren manifestiert sich in transnationalen Anlagemärkten, auf denen Firmen, Staaten, Kommunen und Organisationen aller Art ihren Kreditbedarf organisieren und sich den Gläubigern gegenüber als solvent darstellen müssen. Damit öffnen sie sich dem Rechtfertigungsdruck, die Rentabilität des eingesetzten Kapitals durch damit konforme unternehmerische und politische Entscheidungen glaubhaft zu vertreten. Der Zinssatz von Anleihen wird nicht nur im Nachvollzug dieser Entscheidungen und dadurch bedingter Ausfallsrisiken evaluiert. Die Kreditvergabe wird auch dazu benutzt, die Interessen der Anleger in konkrete gesellschaftliche und wirtschaftliche Einflußnahme umzumünzen.

Diese Macht der Investoren und Kapitaleigner wird von Hartmann nicht nur als Hebel der finanzkapitalistischen Akkumulation gegen die Interessen der Erwerbsabhängigen und Versorgungsbedürftigen thematisiert. Ihm geht es darum, den Blick auf den dadurch vorangetriebenen gesellschaftlichen Umbau und seine sozialen, technologischen und organisatorischen Attribute zu lenken:

"Dies ist der eigentliche historische Sinn der Krise als 'Reinigungskrise': Zerstörung des alten Regimes und Aufbau des neuen. Umbau könnte man es auch nennen, gewaltsamer Umbau allerdings, brutale schöpferische Zerstörung und Unterwerfung unter das Diktat eines hybriden Geflechts von Kapital, seinen Analysten und Politik: auf den Pfaden der finanztechnischen Innovationen, durch Unerstützung von innovativen Unternehmen bei der Umsetzung neuer Technologien und Managementformen und ihren Produktivitätsschüben gegen die Klasse, in Wissensgesellschaft, der Entwicklung neuer staatlicher Kommandoformen (Governance), sozialtechnischen Strategien - vor allem auf dem Feld der Gesundheitsreform -, der 'sozialen Sicherheit', der Arbeitsverwaltung und der sozialen Kontrolle."
(S. 78)

Im Lichte dieses Vorhabens lassen sich die von Atomisierung durch sozialdarwinistische Konkurrenz, von fremdverfügter Zurichtung auf die Imperative des Arbeitsregimes und die Bezichtigungslogik, seine Misere selbst durch Fehlverhalten, Luxuskonsum oder Irrglauben verursacht zu haben, bestimmten Formen kapitalistischer Vergesellschaftung auf die Linie eines Angriffs bringen, der nicht nur das staatliche und soziale Gemeinwesen, sondern den Menschen als solchen verwertungstauglich machen soll. So richtet sich der Kampf gegen Korruption oder die Standardisierung produktiver Prozesse nach EU-Norm auch gegen traditionelle Verhältnisse der Subsistenz, deren Beseitigung zugunsten ihrer Kapitalisierung das Überleben der Menschen noch mehr staatlich organisierten Zwangsverhältnisse ausliefert. Was immer sich an sozialer und kultureller Eigenständigkeit dem Zugriff dieser Ordnung entzieht, soll kontrollierbar und verfügbar gemacht werden. Wie bei der Rekrutierung von Anthropologen für die imperialistische Kriegführung, die das "menschliche Terrain" zur Reorganisation im Sinne der Eroberer erschließen sollen, soll jeder Winkel unerforschter Subjektivität mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Mitteln normativ verfügbar gemacht werden. Der Niedergang herrschaftskritischer Intelligenz in Medien und Kultur liegt auf der gleichen Linie einer Kapitalisierung der Wissensproduktion, an der die informationstechnische Bahnung menschlicher Kommunikation und die darüber erwirtschaftete Sozialkontrolle nicht unerheblichen Anteil hat.

Hartmanns Zuspitzung dieser epochalen Auseinandersetzung auf den sozialen Krieg ermöglicht ein Verständnis ansonsten als singuläre Phänomene erscheinender Entwicklungen, das zur Mobilisierung des sozialen Widerstands erheblich beitragen könnte. Dies gilt auch für das widersprüchliche Verhältnis von Staat und Kapital. Als "ideeller Gesamtkapitalist" (Friedrich Engels) vollzieht der Staat die Interessen des Kapitals, die der gouvernementalen Bewirtschaftung der Bevölkerung auch im Wege stehen können. Ohne Steuereinnahmen ist der Staat handlungsunfähig, was nicht im Interesse des Kapitals sein kann, sichert er doch die Eigentums- und Verwertungsordnung nach innen wie außen. Zwar ist das Kapital zusehends transnational organisiert, gleichzeitig sind seine operativen Möglichkeiten an ordnungspolitische Strukturen und militärische Exekutivorgane gebunden, die vollständig zu privatisieren ohne kriegerische Klärung der Machtverhältnisse nicht vorstellbar erscheint.

Wie hohl das konventionelle Verständnis der eingeforderten Wettbewerbsfähigkeit überschuldeter Staaten ist, belegt die unterschiedliche Bewertung der USA und Griechenlands. Hegemoniale Macht hat einen Stellenwert, der sich am Schuldenstand nicht ablesen läßt, was weitere Fragen zu den Bedingungen staatlicher Handlungsfähigkeit aufwirft. Die von Hartmann durch den Innovationsvorsprung der USA und die nachholende Entwicklung der EU angedeutete zwischenimperialistische Konkurrenz wird zum einen gemeinsam durch NATO und globaladministrative Akteure wie WTO, IWF und Weltbank gegenüber Dritten in Stellung gebrachte Gewaltprimate reguliert, was angesichts mehrerer synchron verlaufender Krisen unabdinglicher denn je erscheint. Zum andern fragmentiert der transatlantische Produktivitätswettbewerb, der sich nicht nur in makroökonomischen Parametern spiegelt, sondern zusehends anhand Kategorien sozialer Produktivität bemessen wird, konventionelle Staatlichkeit in substaatliche wie suprastaatliche Strukturen:

"Heute konkurrieren hegemoniale Regionen und ihre Cluster. Aus ihnen werden die Anpassungs- und Entwicklungsimperative auch im europäischen Gefälle formuliert, aus ihnen wird der Druck auf die europäischen Sozialstrukturen in Auseinandersetzung mit den Abschattungen des europäischen Widerstands generiert. All das bündelt sich im komplexen Druck auf die griechische Bevölkerung und stellt den eigentlichen Inhalt dar, wenn pauschal von den Forderungen und Bewertungen 'der Märkte', auch der 'Finanzmärkte', gesprochen wird. Entsprechend muss der Slogan 'wir bezahlen nicht für eure Krise', so nachvollziehbar er sein mag, um all diese Dimensionen der sozialen Auseinandersetzungen bereichert werden, will er nicht letztlich sein Einverständnis mit dem Kapitalismus und seinen Strategien durch die Reduktion ihres Forderungskatalogs auf 'Kontrolle der Finanzmärkte', 'Tobin-Steuer', 'Kapitalertragssteuer' signalisieren und praktisch vollziehen. Die Bedeutung der hochfahrenden deutschen Hegemonie in Reproduktion alter merkantilistischer Strategielinien und die sozialen Dimensionen ihrer Neigung zu einer neuen Barbarei wird erst dann erkennbar, bekämpfbar und in den Kämpfen theoretisch-praktisch fassbar."
(S. 82)

Zur produktiven Entwicklung und Bestimmung linker Positionen in Hinsicht auf ihre streitbare Manifestation besteht also aller Anlaß. Seit "Krisenlabor Griechenland" veröffentlicht wurde, ist mit den Revolten im Nahen und Mittleren Osten ein Protest in Erscheinung getreten, mit dem nur die wenigsten Experten gerechnet hatten. Noch ist nicht entschieden, daß er durch kriegerische Interventionen, politische Kooptation und ideologische Bezichtigungen niedergeschlagen werden kann. In den westlichen Metropolengesellschaften hat das Ende des obsolet gewordenen Klassenkompromisses neue Protestbewegungen auf die Straße gerufen, und selbst in der reichen Bundesrepublik, wo auch noch das ausgegrenzte Subproletariat durch die Suggestion zu erreichen ist, auf der Seite der Gewinner zu stehen, könnte die Friedhofsruhe durch neue Lebenszeichen durchbrochen werden. Bewußtsein zu schaffen, wie es früher einmal hieß, für virulente Widerspruchslagen wurde in der Linken lange vernachlässigt. Freude bereitet diese Arbeit allerdings erst, wenn man unbescheiden genug ist, sie, wie im Fall des vorliegenden Buches, mit gebotener Radikalität in Angriff zu nehmen.

[1] Schattenblick -> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH
REZENSION/451: Detlef Hartmann, Gerald Geppert - Cluster (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar451.html

27. Juli 2011


Detlef Hartmann/John Malamatinas
Krisenlabor Griechenland
Finanzmärkte, Kämpfe und die Neuordnung Europas
Materialien für einen neuen Antiimperialismus Heft 9
Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2011
136 Seiten, 12,00 Euro
ISBN 978-3-86241-405-5