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REZENSION/622: Conor McCabe - Sins of the Father (Wirtschaft) (SB)


Conor McCabe


Sins of the Father

The Decisions That Shaped The Irish Economy



In der öffentlichen Wahrnehmung der großen Finanz- und Wirtschaftskrise in der Europäischen Union (EU) gelten die Südländer Portugal, Spanien, Griechenland und Zypern als Problemfälle, während Irland als Musterstaat hochgehalten wird, dessen Regierung und Bevölkerung von 4,6 Millionen Menschen ohne viel Aufhebens die von der "Troika" aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) vorgeschriebenen "Reformen" umsetzten und sich deshalb bereits auf dem Weg des Wachstums und des Wohlstands wiederbefänden. Jenes Kontrastbild hat jedoch mehr mit der selektiven Wahrnehmung einer Finanzpresse, die den Interessen des Großkapitals dient, als mit der Wirklichkeit zu tun. Irlands vergleichsweise gute Wirtschaftsdaten, vor allem der ständige Handelsüberschuß, haben mit ausländischen Konzernen wie dem Chemieriesen Pfizer und dem Computerchiphersteller Intel zu tun, die zwar auf der grünen Insel wichtige Produktionsstätten betreiben, deren Aktivitäten jedoch für die Nationalökonomie keineswegs repräsentativ sind.

Tatsächlich hat die Finanzkrise in der EU keinen Mitgliedstaat schwerer getroffen als Irland, wie folgende Zahlen zeigen: Die Republik Irland trägt mit 0,9 Prozent zur Bevölkerung und mit 1,2 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt der EU bei; von dessen Bürgern wird jedoch verlangt, daß sie 42 Prozent der Kosten der Bankenkrise tragen. Bis 2013 hatte im Schnitt jede Person in Irland ganze 9000 Euro, jeder Bürger der übrigen 27 EU-Staaten lediglich 192 Euro für die europäische Bankenrettung bezahlt.[1] Zwar mögen die einfachen Iren gelegentlich die Eurokraten in Brüssel und Frankfurt sowie Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Deutschen in Berlin beschimpfen, doch in ihren Herzen wissen sie, wer die Hauptverantwortung für das Austeritätsregime trägt, das sie seit 2009 in Form drakonischer Kürzungen der staatlichen Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales, deutlicher Steuererhöhungen, einer Arbeitslosigkeit in zweistelligen Prozentzahlen, eines Wegbrechens der Binnennachfrage, einer Pleitewelle kleinerer Betriebe, steigender Armut, Kriminalität und Obdachlosigkeit, der Verwahrlosung ländlicher Gemeinden und der Auswanderung Hunderttausender gutausgebildeter Jugendlicher nach Großbritannien, Australien, Neuseeland, Kanada und in die USA erleben: nämlich die eigene korrupte Polit- und Geldelite.

Der wesentliche Grund dafür, daß die Iren im EU-Vergleich weit mehr für die Bereinigung der Finanzkrise bezahlen müssen, liegt in der flächendeckenden Garantie, welche die Regierung in Dublin am 30. September 2008 für sämtliche Verbindlichkeiten des irischen Bankensektors - 440 Milliarden Euro, das zweifache des Bruttoinlandsproduktes - abgegeben hat. Was als vorübergehende Notmaßnahme präsentiert wurde, um wenige Tage nach der Pleite von Lehmann Brothers in New York einen Zusammenbruch des Bankensystems Irlands zu verhindern, hat sich zum Klotz am Bein der irischen Volkswirtschaft entwickelt. Damit ließen sich Irlands Banken weitestgehend sanieren, während deren faule Kredite von der National Asset Management Agency (NAMA), die im Moment ihrer Gründung Ende 2009 als größter Immobilienfonds der Welt auftrat, übernommen wurden. Um die gigantischen Kosten Irlands für die Bankenrettung zu begleichen - die finale Summe wird aktuell auf 64 Milliarden Euro geschätzt [2] - , verkauft NAMA seitdem ihre zahlreichen Liegenschaften zum Spottpreis an ausländische Hedgefonds und windige irische Bauunternehmer wie Johnny Ronan, die einst kräftig zur Entstehung der gigantischen Immobilienblase auf der Insel beitrugen. Gleichzeitig ist die Regierung dabei, profitable staatseigene Betriebe an wohlgesonnene Geschäftsleute wie den schwerreichen Medienmagnaten Denis O'Brien zu verscherbeln - ein Verhalten, das der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz als einer Bananenrepublik würdig nannte.

Tatsächlich läßt die Wirtschaftspolitik Irlands seit der Unabhängigkeit von Großbritannien 1922 viel zu wünschen übrig. Die Gründe dafür analysiert und erläutert Dr. Conor McCabe, Dozent an der School of Social Justice des University College Dublin (UCD), dessen fundierte Artikel beim Dublin Opinion und der Irish Left Review erscheinen, in seinem politökonomischen Meisterwerk "Sins of the Father - The Decisions That Shaped The Irish Economy" in aller Ausführlichkeit. McCabe bezeichnet die herrschende Gruppe in Irland als Kompradoren-Bourgeoisie, deren Angehörige stets als Mittelsmänner des imperialistischen Auslandskapitals fungiert haben.

Nach der Unabhängigkeit hatten die mächtigen irischen Rinderzüchter, die Banken und die Politiker kein Interesse am Aufbau eines eigenständigen industriellen Mittelstands oder an einer Stärkung des Lebensmittelanbaus (tillage). Ihre Hauptsorge galt der Aufrechterhaltung der Position Irlands als Rindfleischlieferant Großbritanniens. Darum hielt man nicht nur Zölle niedrig, sondern es wurde lange Zeit die Forderung - auch von einer unabhängigen US-Expertengruppe - nach Aufbau einer eigenen fleischverarbeitenden Industrie schlicht ignoriert. Deshalb wurden jahrzehntelang irische Rinder in den sogenannten "cattle ships" lebend über die irische See transportiert; die Erträge aus ihrer Verarbeitung blieben in England, Schottland und Wales. Erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts sollten die Exporteinnahmen für Industrieprodukte aus Irland die des Rinderhandels übertreffen.

Bereits Ende der fünfziger Jahre hatten sich die Verantwortlichen in Dublin mit einer katastrophalen Lage aus starker Auswanderung, sinkenden Geburtenraten und einer schrumpfenden Volkswirtschaft konfrontiert gesehen. Unter der Leitung von Premierminister Seán Lemass von der nationalkonservativen Partei Fianna Fáil (Soldaten des Schicksals) und T. K. Whitaker, damals Sekretär im Finanzministerium, hat man sich deshalb dafür entschieden, Irland für ausländische Investoren zu öffnen. Die Rechnung ging auf. Angesichts günstiger Fiskalbedingungen ließen sich ausländische Firmen in Irland nieder. Die Bauindustrie und die Banken, welche die neuen Fabriken und die Wohnungen für die Arbeiter errichteten bzw. finanzierten, erlebten einen kleinen Boom. Der Aufschwung wurde durch den Beitritt zur Europäischen Wirtschaftschaftgemeinschaft (EWG) verstärkt, der zudem die Abhängigkeit Irlands von der britischen Ökonomie verringerte. Wie McCabe in seinem Buch an Beispielen aus den Bereichen Minen und Öl zeigt, wurden dennoch weiterhin die Interessen der Mittelsmänner, der Kompradoren, bevorzugt behandelt und die Notwendigkeit einer Industriepolitik, einschließlich der gezielten Förderung einheimischer Exportunternehmen, vernachlässigt.

Die Saat für die katastrophale Bankenkrise wurde schon 1987 vom damaligen Premierminister Charlie Haughey, Lemass' Schwiegersohn und Nachfolger als Fianna-Fáil-Parteivorsitzender, und Finanzmogul Dermot "The Kaiser" Desmond mit der Gründung des International Finance Service Center (IFSC) am Nordufer des Liffey auf dem alten Hafengelände von Dublin gelegt. Angelockt durch niedrige Steuern und eine noch laschere Kontrolle der Dubliner Finanzbehörden und der irischen Zentralbank haben sich mehr als die Hälfte der 50 wichtigsten Finanzinstitute der Welt in den neuen Glaspalästen der irischen Hauptstadt niedergelassen bzw. dort Tochterunternehmen eröffnet. Es waren die risikoreichen Geschäfte der im IFSC angesiedelten Geldhäuser, aufgrund derer die vier dort tätigen deutschen Großbanken Sachsen LB, WestLB, IKB und Depfa/Hypovereinsbank nach dem Zusammenbruch des US-Immobilienmarktes 2007 Verluste in Milliardenhöhe verzeichneten.

McCabe kritisiert den IFSC als Steueroase, die zwar in Dublin rund 14.000 Bankiers, Börsenmaklern, Buchhaltern, Steuerberatern et cetera gutdotierte Jobs beschert, deren Existenz, einschließlich des Festhaltens am Niedrigsteuermodell, der irischen Volkswirtschaft jedoch als Ganzes schadet. Ungeachtet dessen haben die irischen Behörden mit praktisch demselben dubiosen fiskalischen und regulativen Angebot am Südufer des Liffey gegenüber dem IFSC eine Art Silicon Valley im kleinen für US-Internetdienstleister wie Google, LinkedIn, Facebook und Twitter etabliert. Für die Proteste des Kongresses in Washington, Irland fördere dadurch die Steuerflucht im großen Stil, zeigen sich Dublins Politiker genauso taub wie für die jahrelange Kritik der EU-Partner Deutschland und Frankreich am unsolidarischen Verhalten.

McCabes Abhandlung der politisch-ökonomischen Geschichte Irlands seit der blutigen Rückeroberung der Insel durch die Armeen Oliver Cromwells 1649-1643, die mit der Beschlagnahmung der wichtigsten Weideflächen und der Etablierung der Rinderzucht als führendem Wirtschaftszweig auf der Insel einherging, ist sehr aufschlußreich. Ohne den Leser zu sehr mit allen Winkelzügen der Innenpolitik Irlands zu überfordern, zeichnet er die wichtigsten systemischen Entwicklungen nach und hebt die Kontinuität einer Wirtschaftspolitik hervor, mit der sich ein kleiner, aber mächtiger Teil der irischen Gesellschaft auf Kosten der Allgemeinheit bereichert.

Inzwischen verstärken sich die Zeichen, daß die Geduld der irischen Arbeiter- und Mittelschicht mit der unverfrorenen Ausplünderung des Landes durch die Politikerkaste und mit ihr befreundeter Wirtschaftskapitäne langsam ein Ende findet. Seit Tagen breiten sich überall im Land die Proteste gegen die Privatisierung der kommunalen Wassersysteme und die Einführung von Wasserzählern aus, während laut jüngsten Umfragen die seit 2011 regierende Koalition aus der nationalkonservativen Fine Gael (Clan der Iren) und der sozialdemokratischen Labour Party einer verheerenden Niederlage bei den bevorstehenden EU- und Kommunalwahlen im Mai entgegensteuert. Für die zu begrüßende und zunehmende Protestbereitschaft der irischen Arbeitslosen und Lohnabhängigen dürfte Conor McCabe mit seinen Analysen im Internet und dem Buch "Sins of the Father" einen nicht unwichtigen intellektuellen Beitrag geleistet haben.


Fußnoten:

1. Michael Taft, "A Really Really Special Case Requires a Really Really Special Solution, Unite's Notes On The Front (Blog), 15. Januar 2013
http://notesfromthefront.typepad.com/politicaleconomy/2013/01/with-considerable-speculation-about-an-impending-deal-on-bank-debt-with-the-taoiseach-and-the-german-chancellor-jointly-sta.html.

2. Tom Lyons, "What the bankers knew ... Bankers centre stage in high-stakes drama with guarantees, 19. April 2014, Irish Times (Weekend Edition), S. 6-7.

29. April 2014


Conor McCabe
Sins of the Father - The Decisions that Shaped the Irish Economy (2nd Edition)
The History Press Ireland, Dublin, 2013
288 Seiten
ISBN: 978-1-84588-817-6