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REZENSION/635: Lewis Dartnell - Das Handbuch für den Neustart der Welt (SB)


Lewis Dartnell


Das Handbuch für den Neustart der Welt

Alles, was man wissen muss, wenn nichts mehr geht



Das private Unternehmen Mars One hat aus 200.000 Bewerbern 1058 Kandidaten für einen Flug zu unserem nächsten Nachbarplaneten ausgewählt. Von diesen werden 24 in die engere Auswahl genommen und trainiert, ab dem Jahr 2025 soll ein erstes Team aus vier Personen auf dem Mars landen und ihn besiedeln - bis zum Lebensende. Weitere Teams sollen in Abständen von wenigen Jahren folgen und eine neue Zivilisation aufbauen. Das Vorhaben erfordert sorgfältigste Vorbereitung, umfassende technische Kenntnisse und eine überdurchschnittlich entwickelte Improvisationsfähigkeit.

Sollte eine(r) der Raumfahrerinnen und Raumfahrer "Das Handbuch für den Neustart der Welt" des Astrobiologen Lewis Dartnell von der britischen Raumfahrtagentur der Universität von Leicester im Gepäck haben, dann bestenfalls aus nostalgischen Gründen, ganz sicher nicht, weil es einen nennenswerten Beitrag dazu leisten könnte, eine Welt von Null an aufzubauen. Und das hätte nichts damit zu tun, daß der Mars all die Dinge nicht zur Verfügung stellt, auf die ein Überlebender auf der Erde nach dem totalen Kollaps der irdischen Zivilisation zurückgreifen könnte, sondern weil das Buch bei der Auswahl der zu bewältigenden Probleme Lücken aufweist und es schon zahlreiche vergleichbare "Gewußt-wie-Ratgeber" gibt, die jedoch ausführlicher geschrieben sind. Jeder 15jährige, der einen einigermaßen praxisorientierten Chemieunterricht genießen darf, wird mit ähnlichen Aufgaben konfrontiert, wie sie hier behandelt werden, und erhält dazu nachvollziehbarere Anleitungen.

Neu ist allenfalls Dartnells Kunstgriff, seinen Ratgeber in eine Welt nach dem Untergang der Zivilisation zu versetzen - ein Szenario, das inzwischen von vielen cineastischen Produktionen her hinlänglich bekannt ist, mit dem sich aber vermutlich die meisten Leserinnen und Leser nicht in der Form auseinandergesetzt haben, wie es Dartnell hier präsentiert.

Der Autor setzt eine apokalyptische Welt voraus, die noch eine Zeitlang weitertickt: Anfangs können Lebensmittel aus Supermärkten geplündert werden, bis die Ware verdorben ist; Autos und Maschinen stehen herrenlos herum und sind verwendungsfähig, solange es Energie und Ersatzteile gibt; die Häuser bleiben bewohnbar. Mit solchen Vorannahmen verschafft Dartnell den Überlebenden der Apokalypse eine "Gnadenfrist" - so auch die Überschrift des zweiten Kapitels (S. 46) -, damit sie all die Dinge entwickeln können, die der Autor auf den folgenden Seiten beschreibt. Es handelt sich also um keine Robinsonade, und die Fragen richten sich nicht darauf, wie man Pfeil und Bogen herstellt oder mit primitiven Mitteln eine Falle baut, um sich Nahrung zu beschaffen. Wenngleich Dartnell den Bereich "Landwirtschaft" (Kapitel 3) und damit auch das Problem der Nahrungsproduktion nicht gänzlich ausspart, liegt sein Schwerpunkt deutlich auf der technologischen Bemittelung.

Beispielsweise beschreibt der Autor unter dem Titel "Kommunikation" (Kapitel 10) zunächst, wie man Papier herstellt, geht dann über zum Anfertigen von Druckplatten für Printprodukte und landet schließlich bei der elektrischen Kommunikation. Hierzu heißt es:

"Elektrizität ist etwas Wunderbares: Sie schießt quasi augenblicklich durch einen Draht, der eigens für sie verlegt wurde, und erzeugt weit weg vom Betriebsschalter einen wahrnehmbaren Effekt - zum Beispiel das Aufleuchten einer Glühbirne in einem anderen Zimmer."
(S. 245)

Bei Dartnell scheint der elektrische Strom tatsächlich aus der Steckdose zu kommen. Denn erstens sollten Glühbirne, Betriebsschalter und Draht eigentlich keine Selbstverständlichkeit sein in seiner Welt des Neustarts, das heißt, auch sie müßten irgendwann eigens hergestellt oder installiert werden, und zweitens müßte auch der Strom, mit dem die Glühbirne zum Leuchten gebracht wird, zunächst produziert werden. Darüber verliert der Autor in seinen Beschreibungen zum Thema elektrische Kommunikation kein Wort.

Wie selektiv seine Beschreibungen sind, macht auch folgendes Zitat zum Bau eines Systems zur Telegraphie deutlich:

"Platzieren Sie einen leicht ausbalancierten Metallbügel (Anker) über einem Elektromagneten; Sie können diesen als einen hochempfindlichen Schalter verwenden: Jedes Mal, wenn an dem Elektromagneten eine Spannung anliegt, wird der Anker von der Spule angezogen; der Stromkreis schließt sich und ein Summer ertönt. Ein relaisgesteuerter Summer an beiden Enden eines langen Telegraphenkabels erlaubt weit voneinander entfernten Bedienungspersonen, zu hören, wann die jeweils andere Person Strom durch die Leitung schickt."
(S. 245)

Wie sehr im besten Sinne kindlich aufregend die Aussicht auch erscheinen mag, sich in der heutigen Zeit der Satellitenkommunikation gegebenenfalls per elektrischer Telegraphie unterhalten zu können, werden doch technologische Voraussetzungen (Kabel, Relais, Summer ...) einfach so als gegeben angenommen, damit eine solche Kommunikation überhaupt zustande kommt, ohne daß auf die Lücken in der Beschreibung aufmerksam gemacht wird.

Nicht in allen Schilderungen ist die Diskrepanz zwischen der Technologie und den für ihre Herstellung zwingend erforderlichen, aber in den Erklärungen ausgesparten Voraussetzungen so krass wie in diesem Beispiel. Dennoch dürften etliche Tips zu einem mittelprächtigen Desaster führen, könnte die betreffende Person, die sich im Herstellen von Dingen wie Kleidung, Papier oder Medikamenten versucht, nicht auf zusätzliche Vorkenntnisse zurückgreifen.

Positiv hervorzuheben ist, daß das Buch über einen umfangreichen Anhang mit Angaben zu weiterführender Literatur, Quellenangaben und einem Register verfügt. Mit dem Kunstgriff, den Neustart einer Welt nach der Apokalypse zu beschreiben, vollzieht der Autor anhand ausgewählter Beispiele die Technologieentwicklung nach und liefert damit die eine oder andere Anregung für praktische Anwendungen im Schulunterricht oder für Personen, die Freude daran haben, etwas von Grund auf selbst herzustellen. Wie verbreitet diese Leidenschaft ist - wenngleich in einer stärker industriegestützten Orientierung -, läßt sich vorzugsweise samstags vormittags am Besucherstrom in den Baumärkten landauf, landab ablesen.

Der Autor bleibt bei vordergründigen technologischen Beschreibungen stehen und verliert kein Wort darüber, daß es in einer Welt grassierender Überlebensnot und zugespitzten Sozialkampfs auch andere Probleme zu bewältigen geben könnte. Auf diese Weise hält der Astrobiologe und Raumfahrtexperte das Versprechen auf technologische Machbarkeit aufrecht, ohne daß er auf die Idee käme, daß genau dies schon einmal das von ihm an den Anfang gestellte Szenario der Apokalypse heraufbeschworen haben könnte.

Es wird nicht einmal im Ansatz reflektiert, daß man Kritik an den prä-apokalyptischen Technologien üben und sie als über weite Strecken gescheiterten Versuch der Naturbewältigung ansehen könnte, obgleich doch die Spitzenprodukte der technologischen Entwicklung der Menschheit einen Klimawandel bescheren, durch den die Lebensvoraussetzungen von Millionen Bewohnern der Erde gefährdet sind, und die Atommächte dank des technologischen Fortschritts eine Overkillkapazität aufgebaut haben, durch die die Erde zigfach zerstört werden kann. Übrigens wird die Frage, wie man sich vor radioaktiver Strahlung schützt, hier nicht behandelt. Mit diesem Handbuch im Gepäck käme man in einer Welt des Neustarts nach einer atomar erzeugten Apokalypse nicht weit.

Dartnell will die Zivilisation noch einmal aufbauen, nur schneller, weil ja all die vermeintlich klugen Erfindungen schon gemacht wurden. Dem Rezensenten bleibt nur zu vermuten, daß dann wohl um so schneller mit einer Apokalypse 2.0 zu rechnen wäre.

9. November 2014


Lewis Dartnell
Das Handbuch für den Neustart der Welt
Alles, was man wissen muss, wenn nichts mehr geht
Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt
Hanser Verlag, Berlin 2014
368 Seiten, 24,90 Euro
ISBN: 978-3-446-24648-5


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