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REZENSION/642: Claude Martin - Endspiel - Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können (SB)


Claude Martin


Endspiel - Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können

Der neue Bericht an den Club of Rome



Das Bild vom Menschen, der am eigenen Ast sägt, trifft wohl auf wenige Trends so genau zu wie auf den gegenwärtigen Raubbau am tropischen Regenwald. Dieser bietet nicht nur zig Millionen Menschen Schutz und unmittelbare Lebensgrundlage, sondern übt in mehrerer Hinsicht eine globale Klimafunktion aus. Tropische Regenwälder binden einen Teil der anthropogenen Kohlenstoffdioxidemissionen und wirken damit der globalen Erwärmung entgegen; außerdem sorgt ihre riesige Blattoberfläche für eine hohe Verdunstungsrate, so daß die Wälder sowohl ihren eigenen Regen produzieren, den sie zum Wachstum benötigen, als auch weiter entfernte, subtropisch aride Regionen wie den Süden Brasiliens mit lebensspendender Feuchtigkeit beliefern. Letztlich üben sie sogar Einfluß auf den globalen Wasserkreislauf und damit das Klima weltweit aus.

Wegen ebendieser Wirkungen bergen tropische Regenwälder jedoch auch ein großes Gefahrenpotential, sobald eine oder mehrere dieser "Funktionen" ausfallen: In Dürrejahren können sich die Waldgebiete in Kohlenstoffquellen wandeln und damit den Klimawandel antreiben; und wenn die Regenfälle ausbleiben, wie in den Monaten um den Jahreswechsel 2014/15 herum in der Großregion von Sao Paulo, hat anscheinend auch der Amazonas-Regenwald einen Anteil am akuten Wassernotstand im Süden des Landes.

Trotz vielfacher Warnungen wird der tropische Regenwald in Südostasien weiter abgeholzt, um Platz vor allem für Palmölplantagen zu schaffen, deren Produkte nicht zuletzt in Europa verbraucht werden. In Brasilien hingegen, das über das größte zusammenhängende Waldgebiet verfügt, ist die Entwaldungsrate in den letzten zehn Jahren deutlich zurückgegangen. Aber aktuell wird auch dort von der Regierung ein neues Bergbaugesetz diskutiert, das die mühsam errungenen Erfolge der Vergangenheit zunichte machen könnte. So liegen momentan 27.000 Anträge für Bergbauvorhaben in brasilianischen Schutzgebieten vor, die eine Fläche von 200.000 Quadratkilometern einnehmen.

"Endspiel" (engl.: On the Edge) lautet passenderweise der Titel eines neuen Berichts an den Club of Rome, der sich dem Regenwaldverlust widmet und von dem Schweizer Biologen Claude Martin gemeinsam mit Graeme Maxton, Generalsekretär des Club of Rome, und Jörg Andreas Krüger, Leiter des Fachbereichs Biodiversität des WWF Deutschland, am 21. Mai 2015 in Berlin vorgestellt wurde. [1]

Und weil der langjährige Generaldirektor des WWF International (1993 - 2005) es nicht bei der bloßen Bestandsaufnahme beläßt, haben er und der Herausgeber, der oekom verlag aus München, den Buchtitel um "Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können" ergänzt - eine offensivere Botschaft als der englische "The State and Fate of the World's Tropical Rainforests". Auch wenn Martins 17 "Kernbotschaften für die Zukunft" (S. 286ff) nur acht der 352 Seiten dieses Buchs einnehmen, bilden sie das entscheidende Resümee der vorangegangenen Beschreibungen des "Zustands und Schicksals" (State and Fate) der tropischen Regenwälder, der gegenwärtigen Schutzbemühungen und - sehr ausführlich abgehandelt - der rund 40jährigen Geschichte staatlicher, wissenschaftlicher und zivilgesellschaftlicher Anstrengungen, um die Geschwindigkeit der Entwaldung überhaupt nur zu erfassen, geschweige denn aufzuhalten.

Wenn heute "entwaldungsfreie Lieferketten" am Beispiel Borneos gefordert werden (S. 214), dann steckt dahinter die langjährige Erfahrung, daß Regenwaldschutz mindestens so komplex ist wie eben jene Lieferkette, angefangen vom Anlegen der Plantagen für die Palmölproduktion bis zum Verbrauch in Europa, und natürlich auch wie das von politischen Interessen bestimmte Umfeld, das der Entwaldung den Weg ebnet.

Die Hauptgefahr für den Regenwald ist nicht mehr wie noch vor einigen Jahrzehnten die Holzproduktion, sondern die Rodung und Umwandlung in landwirtschaftliche Fläche, teils für den Anbau von Viehfutter wie Soja, teils für die Produktion von Palmöl, teils für die Ausdehnung der Weidehaltung von Rindern. "Es könnte so kommen, dass die Welt die tropischen Regenwälder buchstäblich aufisst, da geeignete Flächen zur Ausweitung der Landwirtschaft anderswo kaum noch zur Verfügung stehen" (S. 20), schreibt der Autor in seiner Einführung und spricht damit das fundamentale Problem einer auf immer mehr Wachstum beruhenden, Ressourcenmangel produzierenden Lebensweise an.

Leider bringe es mehr Profit, "ein paar Tonnen Rindfleisch oder Tiernahrung pro Hektar zu produzieren, als ebendiesen Hektar intakten tropischen Regenwald zu erhalten". Solange das gängige ökonomische Leitbild der Gewinnmaximierung zu "derart drastischen Fehlentwicklungen" führe, blieben die nationalen Regierungen, die internationale Gemeinschaft und nicht zuletzt die indigenen Waldbewohner "in einer schwachen, wenn nicht vollkommen machtlosen Position". (S. 20)

Claude Martin ist weder ein Linker, der die vorherrschende, profitorientierte Eigentumsordnung fundamental in Frage stellt, um den Raubbau an der Natur zu bremsen, noch ein Radikalökologe, der die Null-Nutzung der tropischen Regenwälder mit nicht immer legalen Mitteln durchzusetzen versucht. In dem System "Google Earth Engine", die eine Satellitenbildauswertung auf 30 Meter Genauigkeit erlaubt, sieht er eine gute Chance, endlich die Regenwaldfläche weltweit einheitlich und über die Zeit zu erfassen und dadurch überhaupt erst vergleichbar zu machen. Für Wald und Waldland liegen nämlich in der Literatur mehr als 1500 Definitionen vor (S. 30) - eine Vereinheitlichung ist nach Ansicht Martins dringend geboten, damit man über das gleiche redet, wenn man von Regenwaldschutz spricht.

Aufbau und Inhalt des Buchs überzeugen. In neun Hauptkapitel und zahlreiche Unterpunkte gegliedert sowie mit einem Vorwort von Harald Lesch und Kurzbeiträgen ("Expertenmeinungen") von acht Gastautoren versehen bietet "Endspiel - Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können" einen bewußt auch methodologische Fragen der Waldbestimmung nicht aussparenden Ein- und Überblick in die Problematik des Regenwaldschutzes.

Dabei spielt das Buch nicht mit sensationsheischenden Effekten, bietet jedoch durchaus einige mal im positiven, mal im negativen Sinne beeindruckende Zahlen: Seit historischer Zeit hat sich vermutlich die Fläche des tropischen Regenwalds halbiert; bis Ende des 21. Jahrhunderts könnte dieser nahezu vollständig verschwunden sein. Etwa 17 Prozent der menschlichen Treibhausgasemissionen gehen laut einem Bericht des Weltklimarats IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) aus dem Jahr 2007 auf Entwaldung zurück. Auf einem einzigen Hektar tropischen Regenwalds werden über 100 verschiedene Baumarten gezählt, in manchen Gebieten sogar über 500; der bisherige Rekordhalter ist der ecuadorianische Yasuní-Park im östlichen Amazonasbecken mit 664 Baumarten.

Fundiert und kritisch setzt sich Martin mit der Behauptung der Holzindustrie auseinander, nach der die selektive Holznutzung in tropischen Regenwäldern "nachhaltige Forstwirtschaft" sei: "Obwohl das eine eklatante Übersimplifizierung ist, ist es doch richtig, dass selektive Holzgewinnung selten ein direkter Treiber der Entwaldung ist, zumindest nicht in Afrika oder Lateinamerika. Sie verursacht jedoch unterschiedliche Grade der Degradierung in einem sehr großen Teil der Regenwälder." (S. 96)

Damit trägt auch die Holzwirtschaft zu einer Entwicklung bei, die Martin wenige Seiten zuvor eindrücklich schildert:

"Sieht man sich die jüngste Entwaldungsgeschichte in den drei Hauptregionen des tropischen Regenwalds genauer an, dann bestätigt sich, dass die Dynamiken der Waldzerstörung überaus komplex sind. Während einige große Flächen für die kommerzielle Agrarwirtschaft komplett entwaldet werden, zerfallen viele andere Entwaldungshotspots in ein Mosaik immer kleinerer Teilstücke degradierter Wälder. Der Wald löst sich buchstäblich auf, er 'zerbröselt' in ein Neben- und Durcheinander unberührter Waldgebiete und unterschiedlich stark degradierter Waldfragmente, die von landwirtschaftlich oder anderweitig genutztem Land durchsetzt sind." (S. 80)

Martin lehnt eine "nachhaltige Forstwirtschaft" nicht ab, gibt ihr aber - vielleicht, um sich von jenem von der Industrie besetzten Begriff abzugrenzen, einen anderen Namen und nennt dies "nachhaltiges Forstmanagement". Dabei werde "eine Balance zwischen Naturschutz und der Produktion von forstwirtschaftlichen Gütern und Dienstleistungen" hergestellt; es müsse sich "im Rahmen der Fähigkeit des Waldes, sich zu erholen und seine Funktionen aufrechtzuerhalten", bewegen. (S. 132)

Ein nahezu durchgängiges Kennzeichen der Ausführungen des Autors ist die Feststellung, daß man vieles noch nicht weiß, die Daten ungenau sind oder auf Spekulationen beruhen. Das macht das Buch sympathisch, denn es vereint den wissenschaftlichen Objektivitätsanspruch mit einer klaren persönlichen Positionierung. In seiner Funktion als leitendes WWF-Mitglied hat Claude Martin mit Vertretern höchster Regierungskreise, Finanzinstituten wie der Weltbank und der Wirtschaft zusammengearbeitet. Er weiß, wie die da oben "ticken", kennt die Stärken und Schwächen internationaler Institutionen und Verträge und gelangt auf Basis dieser Erfahrungen zu dem Schluß, daß ein effektiver Regenwaldschutz am ehesten dann gelingt, wenn verschiedene gesellschaftliche Akteure zusammenarbeiten. Dem widerspricht nicht, daß er die globale Bedeutung des tropischen Regenwalds für so wichtig hält, daß er die Gründung einer Einrichtung ähnlich dem Weltklimarat IPCC vorschlägt, die sich um die Etablierung von Standards und ihre Überwachung kümmert.

Hierzulande wächst kein tropischer Regenwald, folgerichtig taucht "Deutschland" nicht einmal im ausführlichen Register dieses Buchs auf. Die Bundesregierung und die KfW Entwicklungsbank haben in der Vergangenheit eine von Martin mit viel Lob bedachte Rolle beim Aufbau von Schutzsystemen im Amazonasbecken gespielt. So sei hier abschließend ergänzt, daß man sich die gleiche Einstellung auch beim Schutz eines viel näherliegenderen Waldes gewünscht hätte: Eines der ältesten und einst größten zusammenhängenden Waldgebiete Westeuropas, der Hambacher Forst, wurde und wird weiterhin bis auf eine winzige Restwaldvorwandsfläche dem rheinischen Braunkohletagebau und damit einem Energiekonzept geopfert, das einer der "Treiber" des globalen Klimawandels ist.

Am Verlust des tropischen Regenwalds, aber eben auch des hiesigen Waldbestands wird beispielhaft deutlich, daß es der Mensch versäumt hat, Mittel und Methoden zu entwickeln, den schon vor langer Zeit eingeschlagenen Weg der Verwertung seiner Umwelt zu verlassen. Das könnte ihm nun auf sehr nachhaltige Weise auf die Füße fallen.


Fußnoten:

[1] Aktuelle Schattenblick-Interviews mit den drei genannten Personen finden Sie unter:
INFOPOOL → UMWELT → REPORT:
INTERVIEW/183: Endspiel - die grüne Lunge erstickt ... Claude Martin im Gespräch (SB)
INTERVIEW/184: Endspiel - erst die Bäume, dann der Mensch ... Jörg Andreas Krüger im Gespräch (SB)
INTERVIEW/185: Endspiel - Vernunft wär' schon der Schritt voran ... Graeme Maxton im Gespräch (SB)

31. Mai 2015


Claude Martin
Endspiel - Wie wir das Schicksal der tropischen Regenwälder noch wenden können
Der neue Bericht an den Club of Rome
oekom verlag, München 2015
352 Seiten, 22,95 Euro
ISBN 978-3-86581-708-2


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