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REZENSION/658: Hannes Hofbauer - Feindbild Russland (SB)


Hannes Hofbauer


Feindbild Russland

Geschichte einer Dämonisierung



Kaum war in den frühen Morgenstunden des 24. Juni der überraschende Sieg der EU-Skeptiker bei der Volksabstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union verkündet, als in Politik und Medien des Westens auch schon die Suche nach den Schuldigen für das Debakel losging. Neben den englischen Wutbürgern fand sich in vielen Kommentaren als weiterer vermeintlicher Verursacher des Brexit der russische Präsident Wladimir Putin. Michael McFaul, von 2012 bis 2014 Botschafter Washingtons in Moskau, schickte noch in derselben Nacht aus den USA folgende Tweets: "Schockiert über Brexit-Votum! Verlierer: EU, UK, USA, diejenigen, die an ein starkes, vereintes, demokratisches Europa glauben. Gewinner: Putin." "Gratuliere Putin zu seinem heutigen Sieg beim Brexit. Dies ist ein gigantischer Erfolg für Putins außenpolitische Ziele."

In einem Klagelied über den "Tag der Verzweiflung" für die britischen EU-Befürworter zeichnete am 25. Juni im liberalen Londoner Guardian dessen Chefkommentator Jonathan Freedland die neue Frontlinie in grellen Farben:

Und wir haben gesehen, wer applaudierte und wer weinte. Unsere Freunde in Paris, Berlin und Washington waren fassungslos und enttäuscht. Gejubelt haben die Anführerin des französischen Front Nationale, Marine Le Pen, der rechtsextreme niederländische Parlamentsabgeordnete Geert Wilders, der österreichische Rechtsaußen Norbert Hofer und natürlich Donald Trump - passenderweise der erste internationale Gast in diesem neuen Land Ukipanien. Und wer sich zweifellos, weit entfernt von den Kameras, ein wölfisches Grinsen erlaubte, war ein gewisser Wladimir Putin.

Bereits eine Woche vor der Volksbefragung in Großbritannien und Nordirland hatte der britische Premierminister und Vorsitzende der Conservative Party, David Cameron, der eigentliche Hauptverantwortliche für das Brexit-Fiasko, Putin ohne jede Begründung in einem Atemzug mit Abu Bakr Al Baghdadi, dem selbsternannten Kalifen der "Terrormiliz" Islamischer Staat, als Instanz genannt, die über einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und die damit einhergehende Schwächung des europäischen Integrationsprozesses sowie der transatlantischen Partnerschaft mit den USA "glücklich" wäre. Von daher darf man sich über Freedlands ähnlich beleidigende Hochstilisierung Putins zu einer Art Sauron mit Rußland als Mordor nicht wundern. Sie ist nur ein weiteres Beispiel jener Dämonisierung des Russischen, die Hannes Hofbauer in seinem hochinformativen Buch "Feindbild Rußland" analysiert.

Der österreichische Journalist, Verleger und Historiker ist Experte in Sachen Osteuropa-Politik, über die er seit 1988 zahlreiche Artikel und Bücher geschrieben hat. In seinem neuesten Werk schildert er die Geschichte des Spannungsverhältnisses zwischen den westlichen Mächten und dem orthodoxen bzw. zwischenzeitlich kommunistischen Rußland seit dem Aufstieg des Moskauer Großfürstentums zu einer europäischen Großmacht unter der Führung von Iwan dem Großen Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts. Als bestimmend für die westliche Wahrnehmung Rußlands macht Hofbauer das "Überlegenheitsgefühl der Kultur des Römischen Rechts" aus, die bis heute "Russland und die Russen als rückständig, vormodern und unterentwickelt" identifiziert und "diesem Befund noch das Pathologische" andichtet (S. 281).

Aus westlicher Perspektive gilt Rußland - ob jenes Iwans des Schrecklichen, Stalins oder Putins - stets als Bollwerk der Antimoderne, das zwingend überwunden werden muß, damit der westliche Fortschritt endlich die gesamte Menschheit beglücken kann. Daß sich hinter der Fassade der "mission civilisatrice" des Westens handfeste Begehrlichkeiten wie "Lebensraum" für Nazi-Deutschland oder der Zugriff internationaler Großkonzerne auf die unermeßlichen Naturresourcen des flächenmäßig größten Landes der Erde zwischen Sankt Petersburg und Sachalin verstecken, versteht sich von selbst.

Hofbauer legt dem Leser eine fundierte Untersuchung der historischen Wurzeln der Dauerrivalität Moskaus mit Berlin, Wien, Paris, London und Washington vor. Dies ermöglicht es ihm, die geschichtliche Kontinuität der heutigen Konfrontation nachzuzeichnen. Der Autor wertet nicht nur Dokumente, Bücher und Artikel aus, sondern zitiert auch aus den zahlreichen Gesprächen, die er über die Jahre bei seinen häufigen Besuchen in Osteuropa und Rußland mit Politikern, Publizisten und Aktivisten geführt hat. Besonders überzeugend ist seine Erklärung für die Entfremdung, die zwischen dem Westen und Rußland ab Ende der neunziger Jahre eingetreten ist. Ähnlich anderen Kennern der Materie wie George Kennan, dem Architekten der Containment-Strategie Washingtons im Kalten Krieg, oder Stephen F. Cohen, dem derzeit führenden Rußland-Experten der USA, führt Hofbauer die steigenden Spannungen im Raum zwischen Baltikum und Schwarzem Meer auf das unaufhaltsame Vordringen der NATO nach Osten, ganz als habe Rußland keinerlei Sicherheitsinteressen, die berücksichtigt werden müssen, zurück.

Die Lektüre Hofbauers empfähle sich insbesondere jenen, die stets den Splitter im Auge Putins, nicht aber den Balken im Auge Barack Obamas oder Angela Merkels sehen. Doch leider sind solche Leute vermutlich ebensowenig bereit, das vorliegende Buch zu lesen, wie die zahlreichen Warnungen ehemaliger Diplomaten und Militärs vor einem dritten Weltkrieg ernst zu nehmen. Durch den mit Hilfe der CIA und des State Department durchgeführten Putsch in Kiew 2015, dessen Hintergründe Hofbauer akribisch ausleuchtet, hat die NATO mutwillig eine "rote Linie" Rußlands überschritten und damit fast zwingend die Lunte an einen sehr großen militärischen Konflikt gelegt. Angesichts der aktuellen Konstellation ist nicht ersichtlich, wie Washington und Moskau eine Lösung der Ukraine-Krise finden könnten, die es beiden Seiten erlaubte, das Gesicht zu wahren. Auf amerikanischer Seite scheinen die tonangebenden Neokonservativen ohnehin nicht auf Kompromiß aus zu sein, sondern weiterhin die Verwirklichung ihres vordringlichsten Ziels eines "Regimewechsels" in Moskau anzupeilen, weshalb Hillary Clinton, die aller Wahrscheinlichkeit nach im Januar 2017 als erste Präsidentin der Vereinigten Staaten ins Weiße Haus einziehen wird, in einer ersten Reaktion auf den Ausgang der Brexit-Abstimmung unter Verweis auf den "Autokraten im Kreml" auf Amerikas "Engagement in Europa" insistierte.

28. Juni 2016


Hannes Hofbauer
Feindbild Russland
Geschichte einer Dämonisierung
Promedia Verlag, Wien, 2016
303 Seiten
ISBN: 978-3-85371-401-0


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