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REZENSION/688: Michael Hudson - Der Sektor (Finanzpolitik) (SB)


Michael Hudson


Der Sektor

Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört



In bewußter Anlehnung an den großen Reformator Martin Luther haben am 12. Dezember Studenten und Akademiker des Fachs Wirtschaftslehre 33 Thesen an den Haupteingang der London School of Economics angebracht. Die Aktion war der bisherige Höhepunkt einer Protestwelle, mit der seit dem Aufkommen der antikapitalistischen Occupy-Bewegung vor fünf Jahren die LSE-Studenten der berühmten Hochschule, zu deren Dozenten und Absolventen wichtige Personen der Zeitgeschichte wie Bertrand Russell, Friedrich Hayek, John Maynard Keynes, Jomo Kenyatta, Romano Prodi, George Soros und Lee Kuan Yew gehören, beharrlich ein grundlegendes Umdenken hinsichtlich Sinn und Zweck von Ökonomie fordern. Angesichts der zunehmenden Schere zwischen Arm und Reich, der Überschuldung der meisten Staaten und Privathaushalte sowie des Ressourcenschwunds und des Klimawandels halten die Betreiber der Kampagne "Rethinking Economics" die Fixierung westlicher Makroökonomen auf die neoliberale Wirtschaftslehre für verfehlt und dringend reformbedürftig, um nichts geringeres als das Überleben der Menschheit zu sichern.

Dieselbe Meinung vertritt schon länger Michael Hudson, den Paul Craig Roberts, heute politischer Kommentator und einst Stellvertretender Finanzminister Ronald Reagans und Kolumnist beim Wall Street Journal, im vergangenen April in einem Artikel bei Counterpunch als den "besten Ökonomen der Welt" bezeichnete. Der 1939 geborene Patensohn Leo Trotzkis hat sich nach dem Anfangsstudium an der Hochschule von Chicago und der Promotion an der New York University - sein Hauptinteresse galt damals der Entwicklungstheorie der Weltbank und anderen internationalen Organisationen - Mitte der sechziger Jahre als Mitarbeiter der Chase Manhattan Bank mit der staatlichen Zahlungsbilanzenproblematik befaßt. 1968 ging Hudson zur Prüfungsgesellschaft Arthur Andersen, wo er weiter Geld- und Warenströme untersuchte.

Nach der Veröffentlichung des Papiers "A financial payments-flow analysis of U. S. international relations, 1960-1968" wurde Hudson der Posten als Wirtschaftsdozent an der hochangesehenen, linksliberalen New School Universität in New York angetragen und von ihm angenommen. Seitdem hat Hudson zahlreiche Bücher veröffentlicht, von denen "Super Imperialism: The Origin and Fundamentals of U. S World Dominance" aus dem Jahr 2003 vielleicht das bekannteste ist. 2006 hat Hudson als einer der ersten Makroökonomen die gewaltige Finanzkrise prognostiziert, die zwei Jahre später die Globalwirtschaft erschütterte und von der sie sich bis heute nicht richtig erholt hat. 2008 unternahm er einen kurzen Ausflug in die aktive Politik als wirtschaftspolitischer Berater des linken demokratischen Abgeordneten Dennis Kucinich bei dessen Kandidatur um die US-Präsidentschaft.

In seinem 2016 auf Deutsch erschienenen Mammutwerk "Der Sektor" widmet sich Hudson der Schuldenfrage und erklärt in großer Ausführlichkeit, wie Finanzparasiten und Schuldknechtschaft vor unser aller Augen die globale Wirtschaft zugrunde richten. Hauptmotor dieser Entwicklung ist für ihn der sogenannte FIRE-Sektor. Gemeint sind die Industriezweige Finance, Insurance (Versicherung) und Real Estate (Immobilien), die seit der neoliberalen Wende in den siebziger Jahren die Geld- und Haushaltspolitik in den meisten Staaten der Welt bestimmen. Die Folgen sind spürbar - Deindustrialisierung, Privatisierung staatlicher Betriebe und des Volksvermögens, Lockerung der Arbeiterrechte, Rückbau der sozialen Sicherungssysteme, zunehmende Armut sowie eine Reihe von Blasen, die nach ihrem Platzen jedes Mal alle anderen negativen Trends noch weiter verstärkte. Das Ergebnis ist eine massive Bereicherung des obersten ein Prozents der Gesellschaft auf Kosten der restlichen 99%. Nicht umsonst erklärte 2006 Börsengenie und Milliardär Warren Buffett ganz nach der marxistischen Lesart gegenüber einem Reporter der New York Times: "Den Klassenkampf gibt es, zweifelsohne. Doch es ist meine Klasse, die Reichen, die den Kampf führt, und wir gewinnen."

Das Problem mit dem Geld und den Schulden begleitet die Menschen seit Beginn der Zivilisation. Hudson, der auch Experte für das Finanzwesen bei den antiken Hochkulturen Eurasiens ist, präsentiert dem Leser zahlreiche Beispiele in der Geschichte, wo ganze Imperien aufgrund mangelnder Kontrolle des Bankgewerbes und des Geldwesens untergegangen sind. Über Jahrhunderte fand deshalb ein stetiger Kampf statt, um "die Volkswirtschaften vom Rentier-Erbe des Feudalismus" zu befreien. Hudson zufolge war das Wissen um die Gefahr, die von denjenigen Kräften ausging, die wie der Landadel zum gesellschaftlichen Gemeinwohl wenig bis nichts Produktives beitrugen, sondern lediglich irgendeine Form von leistungslosem Einkommen - der "ökonomischen Rente" - abkassieren wollten, den Vertretern der klassischen Wirtschaftslehre des Westens wie Adam Smith und David Ricardo bekannt.

Hudson zufolge ist die bankenkritische Analyse, der sich die Gründerväter der westlichen Ökonomie befleißigt haben, heute noch aktuell und anwendbar. Dies erklärt, warum die Anhänger der seit mehr als 50 Jahren tonangebenden, neoliberalen Wirtschaftslehre um Milton Friedman und die "Chicago Schule" nicht nur den sozialistischen Ansatz der Marxisten wie der Teufel das Weihwasser bekämpfen, sondern warum sie zugleich alle kapitalismuskritischen Aspekte im Gedankengut der eigenen ideologischen Ahnherren leugnen und verschweigen. Hudson zum Beispiel stellt die Art und Weise, wie seit Jahren die Wirtschaftsstatistiken erstellt werden, grundsätzlich in Frage. Für ihn ist die Gleichsetzung von Spekulationsgewinnen an der Börse mit den Einnahmen aus produktiven Bereichen wie Industrie oder Landwirtschaft bei der Errechnung des Bruttosozialprodukts nichts anderes als offener Betrug.

Der Buchautor zeichnet den Aufstieg privater Großbanken zum bestimmenden politischen Machtfaktor in Nordamerika und Europa nach (daß es anders geht, zeigt die lenkende Rolle des Staats beim wirtschaftlichen Aufstieg der Volksrepublik China). Mit großer Detailtreue legt er die Machenschaften frei, wie ab 2008 die internationalen Finanzinstitutionen mit Hilfe der servilen politischen Klasse in Brüssel, Washington, London, Paris, Berlin, Madrid und Athen die Kosten der Finanzkrise den Verursachern, den Zockern an den Börsen, abnahmen, um sie voll und ganz dem einfachen Steuerzahler - sei es in den USA, in Irland, Spanien, Griechenland oder Lettland - aufzubürden. Dieselben Schulden werden seitdem als Druckmittel benutzt, um die Verscherbelung staatlichen Vermögens an den Geldadel voranzutreiben.

Hudson spricht sich deshalb für umfassende Schuldenerlässe, viel strengere Regulierung des Geld- und Schuldenwesens durch den Staat und erhöhte Steuern auf alle Formen des Renteneinkommens sowie des Landbesitzes aus. Er plädiert für eine Rückbesinnung auf das Ziel einer Gesellschaft, in der keine Not herrscht und die einfachen Menschen nicht zwei oder drei Arbeitsstellen haben müssen, um sich wirtschaftlich über Wasser halten zu können. Hudson sieht die Gläubigerklasse mit Hilfe von Marionetten wie Barack Obama und Donald Trump dabei, die Demokratie abzuschaffen und ruft deshalb zum Widerstand gegen den Marsch in Richtung Neofeudalismus auf. In diesem Kampf ist Aufklärung über die gegnerische Seite und ihre Argumente unerläßlich. Michael Hudson hat mit "Der Sektor" einen exzellenten Anfang gemacht.

20. Dezember 2017


Michael Hudson
Der Sektor
Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört
Übersetzt aus dem Englischen "Killing the Host - How Financial
Parasites and Debt Destroy the Global Economy" von Dorothee Merkel
und Thorsten Schmidt
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 2016
670 Seiten
ISBN: 978-3-608-94748-9


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