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REZENSION/691: Werner Seppmann - Kapital und Arbeit. Klassenanalysen 1 (SB)


Werner Seppmann


Kapital und Arbeit

Klassenanalysen I





Wendemarke Arbeiterbewußtsein - und Klassenkampf

Das weltweit immer drastischer gewordene Ausmaß der sozialen Ungleichheit anzuprangern ist heute Aufgabe von Nichtregierungsorganisationen. So meldete Oxfam kurz vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos, dass das reichste Prozent der Weltbevölkerung inzwischen über mehr Vermögen als die anderen 99 Prozent zusammen verfügt. Was für Millionen Menschen im Globalen Süden eine Frage von Leben oder Tod ist, bildet sich auch in der wohlhabenden Bundesrepublik in Form immer tieferer sozialer Klüfte ab. So sei das Vermögen des reichsten Prozents der Bevölkerung Deutschlands 2017 um 22 Prozent gewachsen, das der ärmeren Hälfte nur um drei Prozent. Auch in bürgerlichen Kreisen gehört heute zum guten Ton, die soziale Ungleichheit zu skandalisieren. Zuständig dafür, Forderungen wie etwa den Abbau von Steuerprivilegien für die reichsten Personen zu erheben, sind professionelle Campaigner. Sie werden dafür bezahlt, die Interessen der stumm und unsichtbar bleibenden Gruppe überflüssig gemachter Menschen zu artikulieren.

Die Grundfesten der kapitalistischen Eigentumsordnung auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu ihrer Überwindung aufzurufen, den klassischen Antagonismus von Kapital und Arbeit mit dem sagenhaften Reichtum der Fortune 500 in Zusammenhang zu bringen - Fehlanzeige. Die Debatte um Arm und Reich wird innerhalb des Horizontes eines bürgerlichen Gerechtigkeitsbegriffes geführt, jenseits dessen das verbotene Land des längst überwunden geglaubten Kampfes um die soziale Revolution beginnt. In den Parlamenten und Kirchen nach Gerechtigkeit zu rufen ist ein wohlfeiles Geschäft, denn allzu viele fühlen sich dadurch repräsentiert und verstanden. Im politischen Alltag wird verständig genickt, wenn sozialdemokratische PolitikerInnen behaupten, man müsse, um minimale Verteilungsspielräume zu wahren, weiterhin Unternehmen und Investoren mit neoliberalen Handreichungen anlocken.

Der Soziologe und Philosoph Werner Seppmann sieht dies ganz anders, denn er hat Marx und Klassenkampf nicht aufgegeben, nur weil viele KollegInnen glauben machen, dass damit kein Blumentopf und erst recht keine Welt mehr zu gewinnen sei. Sein auf sechs Bände angelegtes Projekt zur Klassenanalyse wurde mit dem Band "Kapital und Arbeit" begonnen, um in weiteren Folgen über "Die Aktualität der Klassenfrage", "Krise und Widerstand", "Die Verleugnete Klasse. Zur Arbeiterklasse heute", "Kapitalismus und Computer. Die Digitalisierung der Arbeitswelt" zu "Methodenfragen der Klassenanalyse" vorzudringen. Das ist durch den Tod Werner Seppmanns am 12. Mai 2021 nun leider unmöglich geworden.

Wie schon die Verwendung des häufig für überkommen erachteten Begriffes der Klasse zeigt, positioniert sich Seppmann gegen die postmarxistische Negation des Klassenantagonismus etwa im Sinne einer Multitude wie gegen soziologische Nivellierungs- und Ausgrenzungstheoreme, die die Gesellschaft als eine Art systemtheoretisch organisiertes Regulativ maximal individualisierter Marktsubjekte begreifen, ohne die zugrundeliegenden Widerspruchskonstellationen explizit in Frage zu stellen. So elaboriert und komplex die Vorschläge der Hardt und Negri, der Foucault und Luhmann, der Beck und Giddens sein mögen, so treten die Grenzen ihrer Überzeugungskraft doch unübersehbar hervor, wenn die gesellschaftliche Machtfrage auch nur in die Nähe der Möglichkeit rückt, mit folgenreicher Konsequenz gestellt zu werden.

"Kapital und Arbeit" besteht aus Beiträgen, die in den Jahren 2004 und 2007 im Rahmen des Projektes Klassenanalyse@BRD der Marx-Engels-Stiftung Wuppertal erschienen sind, als deren Vorsitzender Seppmann zeitweilig fungierte. Der Autor behauptet, dass diese "historischen Bestandsaufnahmen (...) für ein Begreifen des Umfangs und der Geschwindigkeit der sozialen Rückentwicklungen unverzichtbar sind, weil erst durch eine historisch-analytische Perspektive möglich wird zu begreifen, was die Lohnabhängigen in diesen zwei Jahrzehnten neoliberalistischer Umgestaltung und einer offensiven Durchsetzung von Kapitalinteressen mit Hilfe der Sozialdemokratie verloren haben" (S.9). Es wäre dennoch wünschenswert gewesen, das Begreifen dadurch zu vertiefen, dass diese Entwicklungen vom Ende her analysiert und kommentiert werden, anstatt den theoretischen Horizont dieser Jahre vorauszusetzen.

Zwar gibt es dabei viel Interessantes zu entdecken, das bei Zeitzeugen bereits in Vergessenheit geraten sein mag und jüngeren Menschen Einblicke in eine ihnen fremde Zeit eröffnet. Für die von Seppmann aufgeworfenen Fragen und unterbreiteten Vorschläge allerdings wäre es wichtig gewesen, sie zu einer Entwicklung ins Verhältnis zu setzen, die die kapitalistischen Gewaltverhältnisse mit der manifesten Krise 2008 in ungleich grelleres Licht rückte.

Dabei haben die Aussagen des Autoren zur Ersetzung lebendiger Arbeit durch Maschinen und die daraus resultierenden Folgen für die Klassenzusammensetzung ebensowenig von ihrer Gültigkeit verloren wie der Primat des Sozialen im Verhältnis von Kapital und Arbeit, was bei der Debatte um technologische Rationalisierungsoffensiven häufig vergessen wird. Auch stellt er mit Nachdruck klar, dass der Klassenbegriff nicht obsolet geworden ist, solange Menschen Lohnarbeit verrichten müssen und damit den Unwägbarkeiten und Wechselfällen kapitalistischer Akkumulation unterworfen sind. Die Relevanz des Klassenbegriffes wird an mehreren Stellen des Buches gegen Versuche verteidigt, ihm durch die angebliche Nichtexistenz einer Arbeiterklasse den Rang abzulaufen, die in der unterstellten Homogenität bei Marx aber auch nicht anzutreffen ist, oder einen geschichtsphilosophischen Determinismus zu behaupten, dessen Zwangsläufigkeit bei Marx ebensowenig zu finden ist.

Die profane Gleichsetzung sozialer Unterschiede mit Klassenverhältnissen ist Seppmanns Sache nicht. Wo die Kritik am Klassenbegriff ein kollektives Subjekt unterstellt, das seinerseits frei davon sei, mit Herrschaftsimperativen kontaminiert zu sein, rennt sie bei Seppmann offene Türen ein. Klassenbewusstsein und Klassenhandeln treten, so der Autor, nicht wie von selbst aus den sozialen Widersprüchen ökonomischer Strukturen hervor. Gerade weil Spaltungs- und Ausgrenzungsstrategien kein besonderes Merkmal der neoliberalen Phase kapitalistischer Vergesellschaftung, sondern den KäuferInnen von Lohnarbeit ein strategisches Pfund sind, von dem sie etwa bei der Einschüchterung und Bedrohung widerständiger Potentiale unter den ArbeiterInnen Gebrauch machen, gelte es, Spaltungstendenzen innerhalb der Arbeiterklasse und der Betriebe aufzudecken und zu bekämpfen. Auch die seit langem erhobene Forderung nach einer Internationalisierung der Arbeitskämpfe bekräftigte Seppmann schon zur Entstehungszeit der vorliegenden Texte. Seitdem haben sich die Bruchlinien und Fragmentierungstendenzen der globalen Arbeitsteilung weiter vertieft, dementsprechend ist die Ohnmacht unter den ArbeiterInnen in den westlichen Metropolengesellschaften angewachsen.

Es ist die kapitalistische Ausbeutungsdynamik, welche die Ausgegrenzten erzeugt; ihre Existenz ist dem Reproduktionsprozess des Kapitalverhältnisses unmittelbar zugeordnet. Sie sind den jeweils besonderen Ausdrucksformen des Akkumulationsregimes, dem Wechselspiel von Krise und Ausbeutung ausgeliefert: "Die kapitalistische Akkumulation produziert ... und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang, beständig eine relative, d. h. für die mittleren Verwertungsbedingungen des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Überschuss-Arbeiterbevölkerung." (MEW, Bd. 23, S. 658) Die Randständigen, sei es als Arbeitslose oder auch Marginalisierte, bleiben Angehörige jener Klasse, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängig ist; sie stellen kein eigenständiges Klassensegment dar.
(S. 32)

Das ist gerade deshalb wichtig zu betonen, weil die Millionen Menschen, die allein in der Bundesrepublik ihre Existenz in prekären Verhältnissen irgendwo zwischen gelegentlicher Lohnarbeit, staatlichen Sozialtransfers und kreativer Überlebensdynamik fristen, in zunehmendem Maße tragende Elemente des sozialen Widerstandspotentials sind, das früher vor allem im Industrieproletariat gesehen wurde. Es ist mithin nur konsequent, sich ausführlich mit den Strategien sozialer Isolation und Atomisierung als probatem Mittel der herrschenden Ordnung, sozialem Widerstand weit im Vorfeld seiner Entfaltung den Handlungsraum zu nehmen, zu beschäftigen. Die Analyse der sozialstrukturellen Merkmale und Bedingungen, die der Vereinzelung in der Arbeitsgesellschaft und der sozialdarwinistischen Zurichtung ihrer Subjekte Vorschub leistet, nimmt, wie der laufende Titel Klassenanalyse nicht umsonst verspricht, ohnehin den größten Teil des Buches in Anspruch. Wenn Soziologie für klassenkämpferische Ambitionen fruchtbar gemacht werden kann, dann aus der Negation der inakzeptablen Bedingungen sozialer Reproduktion nicht nur in der Bundesrepublik, sondern weltweit.

Gerade letzteres ist angesichts des rechten Vormarsches unerlässlich, wie die Verteilungslogik einer Sozialdemokratie zeigt, die den Ertrag imperialistischer Weltpolitik unverhohlen einfordert, um die daraus erwirtschafteten Verteilungsspielräume zum Nutzen sozialpolitischer Profilierung in Anspruch zu nehmen. So ist seitens der Sozialdemokratie auch in Zukunft mit der systematischen Beschwichtigung der Menschen zu rechnen, allerdings ihr Klassenbewusstsein betreffend und nicht ihre Leistungsfähigkeit. Die wollte Andrea Nahles, wie eine Fußnote (S. 147) im Buch besagt, schon 2007 "nicht durch karitative Transferlogiken einschläfern".

Deutlich in Frage zu stellen ist heute die Einschätzung des Autoren, dass "Spaltung, Fragmentierung und Abkoppelung" nebst "Selbststigmatisierung und Rückzugstendenzen" der Krisenopfer dafür ausreichen, dass der herrschende Block auf offene Repression in einem Ausmaße, wie etwa im gefängnisindustriellen Komplex der USA schon seit Jahrzehnten üblich, weiterhin verzichten kann. Was allein 2016 - fortgesetzte Einschränkung des Versammlungsrechtes durch neue Polizeigesetze, demagogische Kriminalisierung des G20-Protestes, die offene Zensur linksradikaler Kommunikation durch das Verbot von Indymedia linksunten, die Anwendung politischer Justiz gegen türkische und kurdische Linke in offener Allianz mit dem despotischen Regime Erdogans, um nur die gravierendsten Beispiel zu nennen -, mit administrativer Verfügungsgewalt durchgesetzt wurde, läßt in Anbetracht der globalen Krisenkonkurrenz, die nur noch die Nation, aber keine Menschen mehr kennt, nichts anderes als mehr von demselben erwarten.

Um wieder in die Offensive zu kommen, kann die verbliebene Linke es sich kaum leisten, die von Seppmann attestierten regressiven Tendenzen von Erwerbslosen affirmativ festzuschreiben und der von ihnen erlebten Ohnmacht das Siegel sozialisationsbedingter Unfähigkeit zur Emanzipation aufzudrücken. Solange Unterdrückungsverhältnisse nicht mit der blutigen Roheit physischer Überwältigung vollzogen werden, besitzen die davon Betroffenen die Möglichkeit, ihrer Fortsetzung und Steigerung entgegenzutreten. Die Organisation sozialen Widerstandes von unten, wie auf dem Kongress "Selber machen - Konzepte von Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie" im April 2017 in Berlin-Kreuzberg [1] vorgeschlagen, hat durchaus Zukunft. Werner Seppmann jedenfalls nennt ein Versäumnis der Linken beim Namen, über das nachzudenken wäre:

Lähmend wirkt auf die Ausgegrenzten, dass für sie kein realistischer Punkt mehr existiert, an dem ihr Widerstand ansetzen könnte. Denn normalerweise bedeutet Widerstand für die Unterklasse, sich zu verweigern. Aber worin könnte die Weigerung der Arbeitslosen bestehen? In der Weigerung, die spärlichen Unterstützungsleistungen in Empfang zu nehmen? Schon an dieser simplen Fragestellung ist zu erkennen, dass es keine Alternative zur gemeinsamen Interessenartikulation aller Klassensegmente gibt. Fraglich bleibt natürlich, wie solidarisches Handeln auf der Grundlage der Segmentierung gelingen kann? Aber dieses Problem ist nicht neu: So wie ich es erblicke, hat in allen Industrienationen die Arbeiterbewegung es versäumt, Strukturen zu schaffen, die verhindern, dass die Beschäftigungslosen in ein tiefes Loch fallen und sich zurück ziehen.
(S. 39)


Fußnote:

[1] Berichte und Interviews unter dem kategorischen Titel "Initiativvorschläge":
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/ip_politik_report_bericht.shtml
https://www.schattenblick.de/infopool/politik/ip_politik_report_interview.shtml


Erstveröffentlichung am 21. Februar 2018

aktualisiert am 16. August 2021


Werner Seppmann
Kapital und Arbeit
Klassenanalysen I
Mangroven-Verlag, Kassel 2017
162 Seiten, 17 Euro
ISBN 978-3-94694-600-7


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