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REZENSION/747: Mark Curtis - Secret Affairs (Britische Islampolitik) (SB)


Mark Curtis


Secret Affairs - Britain's Collusion with Radical Islam



Der dramatische Fall von Kabul an die Taliban und der chaotische Abzug der letzten NATO-Soldaten samt ihren zivilen Helfern am Flughafen der afghanischen Hauptstadt Ende August haben in sicherheitspolitischen Kreisen des Westens eine fundamentale Sinnkrise ausgelöst. Ist das amerikanische Jahrhundert nun vorüber? Nimmt China nach dem wirtschaftlichen Aufstieg an die Spitzenposition demnächst auch noch den Platz der USA als militärische Supermacht Nummer Eins ein? Diese und ähnlich hysterische Fragen à la Oswald Spengler machen die Runde. Nach 20 Jahren am Hindukusch haben sich die Strategen im Pentagon und im NATO-Hauptquartier in Brüssel das Ende des gemeinsamen militärischen Engagements in Afghanistan anders vorgestellt. Ihnen schwebte bestimmt eine geordnete Übergabe an eine Regierung der nationalen Einheit mit mehrheitlicher Taliban-Beteiligung und keine jubelnde Siegesparade der einstigen Verbündeten von Osama Bin Laden und seinem Al-Kaida-"Netzwerk" durch Kabul vor.


Soldaten und Zivilisten eingereiht vor der offenen Ladeluke am Heck eines Transportflugzeugs der US-Marineinfanterie - Foto: U.S. Marine Corps photo by 1st Lt. Mark Andries/U.S. Central Command Public Affairs, Public domain, via Wikimedia Commons

US-Marineinfanteristen bei der Evakuierungsoperation am Kabuler Flughafen am 17. August 2021
Foto: U.S. Marine Corps photo by 1st Lt. Mark Andries/U.S. Central Command Public Affairs, Public domain, via Wikimedia Commons

Angesichts der verheerenden Fernsehbilder, die fast zwei Wochen lang allabendlich die Nachrichten weltweit dominierten und geradezu nach dem Vergleich mit dem Fall von Saigon 1975 schrien, brach über den demokratischen US-Präsidenten Joe Biden eine heftige Welle der Kritik herein, obwohl es eigentlich der republikanische Vorgänger Donald Trump war, dessen Sondergesandter Zalmay Khalilzad Ende Februar 2020 in Doha den Deal mit den Taliban besiegelt und damit das Ende des längsten und womöglich teuersten Kriegs in der Militärgeschichte der Vereinigten Staaten - Kostenpunkt zwei bis drei Billionen Dollar - eingeleitet hat. Zahlreiche ausgediente Politiker und Militärs wie John Bolton, Condoleeza Rice, David Petraeus und Jack Keane, die das Afghanistan-Debakel eigentlich zu verantworten haben und sich dessen schämen müßten, traten gänzlich unverfroren in den US-Medien auf und warfen Biden fehlendes Durchhaltevermögen und Versagen als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte vor.

Der prominenteste Ex-Staatsmann, der sich bemüßigt fühlte, angesichts der Nachrichtenorgie über die spektakulären Ereignisse in Kabul mit einer eigenen Stellungnahme an die Öffentlichkeit zu treten und damit international für Schlagzeilen sorgte, war Tony Blair. In einer ausführlichen Breitseite an die Adresse des Weißen Hauses verurteilte der ehemalige britische Premierminister, der am 7. Oktober 2001 in Reaktion auf die Flugzeuganschläge vom 11. September die königlichen Streitkräfte Elizabeth II. an der Seite der US-Truppen in Afghanistan einmarschieren ließ, den Abzug der NATO vom Hindukusch als "idiotisch" und warf die drängende Frage auf, ob der Westen noch über den nötigen "strategischen Willen" verfüge, seine Interessen und Werte global durchzusetzen. Auf dem Parteitag seiner britischen Sozialdemokraten am 1. Oktober 2001 im südenglischen Badeort Brighton hatte Blair die bevorstehende großangelegte militärische Reaktion der NATO auf die 9/11-Operation der islamistischen "Terrortruppe" Al Kaida als einzigartige Chance angepriesen, "die Welt neu zu ordnen", und war dafür unisono von der westlichen Presse als begabtester politischer Rhetoriker Großbritanniens seit Winston Churchill über den grünen Klee gelobt worden.


Zwei Soldaten im Tarnanzug bedienen ein Maschinengewehr samt Munitionsgurt - Foto: Europecentral, Public domain, via Wikimedia Commons

Britische Soldaten im Feuergefecht mit den Taliban in der afghanischen Provinz Helmand 2008
Foto: Europecentral, Public domain, via Wikimedia Commons

Anfang 2002, wenige Wochen nach dem gewaltsamen Sturz der Taliban-Regierung, half Blair auch dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush, die Weichen für den illegalen angloamerikanischen Einmarsch 2003 in den Irak zu stellen. Unvergessen bis heute ist das "September Dossier" der britischen Regierung, das zum ersten Jahrestag der Flugzeuganschläge von New York und Arlington der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Während die Bush-Administration damals den leichtgläubigen Teil der amerikanische Bevölkerung mit Gruselgeschichten über eine Zusammenarbeit des irakischen Präsidenten Saddam Hussein mit "Terrorchef" Bin Laden auf dem Feld der Massenvernichtungswaffen in Angst und Schrecken versetzte, mußte Blair, um gegen erheblichen Widerstand in der eigenen regierenden Labour-Partei eine Mehrheit im britischen Unterhaus für die von ihm anvisierte Kriegsbeteiligung Großbritanniens zu gewinnen, eine konkrete Bedrohung der nationalen Sicherheit konstruieren. Dies gelang Number 10 Downing Street nicht zuletzt mit besagtem Dossier. In dem von Blair mitverfaßten und von ihm persönlich absegneten Dokument hieß es, Saddam Husseins Truppen in der westirakischen Wüste an der Grenze zu Syrien könnten innerhalb einer Dreiviertelstunde nach Erhalt des entsprechenden Befehls aus Bagdad britische Basen auf Zypern mit ballistischen Raketen, die chemische Kampfstoffe enthielten, beschießen.

Damals lautete die reißerische Überschrift von Rupert Murdochs Boulevardblatt The Sun, Großbritanniens meistverkaufter Zeitung, "Brits 45mins from doom" ("Briten 45 Minuten vor dem Untergang"). 2009 sollte sich jedoch bei einer parlamentarischen Untersuchungskommission zum größten außenpolitischen Desaster Großbritanniens seit der Suez-Krise im Jahre 1956 herausstellen, daß die Quelle der brisanten Angaben ein irakischer Taxifahrer und Kontaktmann des britischen Auslandsgeheimdiensts gewesen sein soll, der gegenüber seinen Führungsoffizieren von MI6 berichtet hätte, zwei Jahre zuvor zwei irakische Militärs beim Plaudern auf dem Rücksitz seines Taxis über entsprechende Rüstungskapazitäten und ihre mögliche Verwendung belauscht zu haben. Bis heute ist unklar, ob der fragliche Taxifahrer und seine beiden Fahrgäste bei den irakischen Streitkräften jemals existierten oder frei erfunden wurden.


Irgendwo in der irakischen Wüste hält ein britischer Offizier eine Rede vor rund zwei Dutzend schwerbewaffneten US-Soldaten - Foto: SGT Mauricio Campino, USMC, Public Domain, via Wikimedia Commons

Offizier der britischen Fallschirmjäger führt am 3. April 2003 eine Lagebesprechung mit US-Marineinfanteristen beim Einmarsch in den Irak durch
Foto: SGT Mauricio Campino, USMC, Public Domain, via Wikimedia Commons

Erschreckend am Einwurf Blairs in die aufgeheizte außen- und sicherheitspolitische Debatte des Westens über den Rückzug aus Afghanistan und dessen Folgen war die darin enthaltene erneute Aufforderung an Europäer und Nordamerikaner, sich nicht vor der "strategischen Herausforderung" des "radikalen Islams" zu drücken, sondern diesen mit allen zu Gebote stehenden Mitteln - diplomatisch, militärisch, propagandistisch und wirtschaftlich - niederzuwerfen. Vergeblich sucht man im Text nach irgendeiner Einsicht, daß der "radikale Islam" ein Problem sein könnte, das der Westen - Großbritannien allen anderen Staaten voran - geradezu selbst geschaffen hat, um seinen Einfluß in der vor allem mit Energieressourcen gesegneten Region zwischen Atlasgebirge und Himalaya zur Geltung und die Machthaber dort soweit wie möglich auf westliche Linie zu bringen. Wer sich Aufklärung über die viel zu wenig bekannten Aspekten der jahrzehntelangen Kungelei zwischen London und den fundamentalistischten Kreisen innerhalb des politischen Islams verschaffen will, dürfte mit dem Buch "Secret Affairs - Britain's Collusion with Radical Islam" von Mark Curtis auf seine Kosten kommen.

Der 1963 geborene Historiker hat an der London School of Economics (LSE) studiert und anschließend als Forschungsstipendiant am berühmten Royal Institute of International Affairs (Chatham House) gearbeitet. Er ist der Autor mehrerer Bücher zum Thema britische Außen- und Sicherheitspolitik im 20 Jahrhundert. In seinem 2004 erschienenen Buch "Unpeople: Britain's Secret Human Rights Abuses" ("Unmenschen: Großbritanniens geheime Menschenrechtsverletzungen") hat Curtis nach Auswertung aller relevanten amtlichen Erhebungen die Zahl der Menschen in der Dritten Welt, deren Tod seit 1945 als direkte oder indirekte Folge britischer Einfluß- und Interventionspolitik eingestuft werden darf, auf zwischen 8,6 und 13,5 Millionen beziffert. Über die Jahre hat er für die internationalen Nicht-Regierungsorganisationen ActionAid und Christian Aid kritische Studien über die Auswirkungen westlicher Entwicklungspolitik in den Zielländern des globalen Südens verfaßt. Als leitender Direktor der World Development Movement setzt sich Curtis für eine gerechte und nachhaltige Reform des internationalen Warenhandels und des internationalen Umweltschutzes ein. 2019 hat er mit dem Journalistenkollegen Matt Kennard die Enthüllungsplattform Declassified UK gegründet.


Hunderte Soldaten knietief im Wasser - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Britische Infanteristen 1919 unterwegs im überfluteten Südirak
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

"Secret Affairs" beginnt quasi mit dem Ersten Weltkrieg, in dessen Verlauf sich Großbritannien - entgegen anderslautenden Versprechen gegenüber den Arabern hinsichtlich der Schaffung eines einheitlichen arabischen Staats in der Region zwischen Mittelmeer und Persischem Golf - heimlich mit Frankreich im Rahmen des Sykes-Picot-Abkommens über die Aufteilung weiter Teile des untergehenden Osmanischen Reichs verständigt hatte. Als Mandatsgebiet bekam Frankreich Syrien und den Libanon, Großbritannien den Irak und Jordanien, während London bereits 1917 mittels der "Balfour-Deklaration" den Zionisten beiderseits des Atlantiks die Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina zusicherte, ohne die Interessen der dort lebenden arabischen Bevölkerung angemessen zu berücksichtigen.

Als Faisal, das Oberhaupt der haschemitischen Dynastie und zuletzt Londons wichtigster Verbündeter im Kampf gegen die Türken, bei den Versailler Friedensverhandlungen auf die Einhaltung der britischen Zusagen gegenüber den Arabern pochte, brachten die Briten die Saudis ins Spiel. Wie Curtis unter anderem sogar anhand der Schriften des vermeintlichen großen Araber-Freunds T. E. Lawrence zeigt, war für das britische Außenministerium stets ein "schwaches und uneiniges Arabien" das eigentliche Ziel im Nahen Osten. Innerhalb weniger Jahre eroberte die Ichwan, die fanatisch-wahhabitische 150.000 Mann starke Kamelreiter-Kavallerie der Saudis, im Blutrausch sowie mit sporadischer Hilfe der britischen Luftwaffe weite Teile der arabischen Halbinsel einschließlich Mekka und Medina. Dabei brachte die saudische Soldateska laut Curtis 400.000 Männer, Frauen und Kinder um. Eine Million weitere Menschen flohen in die umliegenden Länder. Faisal, dessen Familie als Nachfahren Mohammeds seit Jahrhunderten die heiligen Städte des Islams beschützt hatte, wurde mit der Inthronisierung als König des Iraks abgespeist. Sein Bruder Abdallah ibn Hussein wurde von den Briten als König von Transjordanien und damit auch als Beschützer des Tempelbergs von Jerusalem anerkannt.


Saudische Kamelreiter-Kavallerie im Gallopp - Foto: Original photographer unknown, reproduction by User:(WT-shared) Jpatokal, Public domain, via Wikimedia Commons

Bewaffnete Kamelreiter von König Abdulasis bei der Rückeroberung Riads 1910
Foto: Original photographer unknown, reproduction by User:(WT-shared) Jpatokal, Public domain, via Wikimedia Commons

Ein äußerst schwieriges Problem für die Protagonisten des Empire in London war in den Jahren zwischen den Weltkriegen das Streben der Menschen im britischen Indien nach Unabhängigkeit. Als sich abzeichnete, daß die indische Kongreßpartei, angeführt vom säkular-hinduistischen Jawaharlal Nehru, auf die volle Souveränität ohne britische Militärbasen oder -berater pochte, drängten Londons Diplomaten auf dem Subkontinent Muhammad Ali Jinnahs Moslemliga in Richtung eines eigenen Staates und setzten sie mittels verdeckter Anstachelung der islamischen Fundamentalisten massiv unter Druck. Die Teile-und-herrsche-Strategie Großbritanniens gelang. 1947 kam es zur Spaltung Britisch Indiens. Die historische Geburtsstunde Indiens und Pakistans wurde von Gewalt und Zerstörung in einem unvorstellbaren Ausmaß begleitet. Rund eine Million Menschen wurden von den eigenen Nachbarn der jeweils anderen Religionsgemeinschaft massakriert, weitere 20 Millionen vertrieben, deportiert oder zwangsumgesiedelt. Pakistan, der sich formell als Islamische Republik formierte, wurde in den darauffolgenden Jahren - nicht zuletzt wegen des ungelösten Kaschmir-Konflikts mit Indien - zum "Epizentrum des radikalen Islams", so Curtis.


Die drei Staatsmänner beraten am runden Tisch - Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Lord Louis Mountbatten, letzter Vizekönig Britisch Indiens, bei Gesprächen mit Jawaharlal Nehru und Muhammad Ali Jinnah
Foto: Unknown author, Public domain, via Wikimedia Commons

Interessanterweise zitiert der Autor aus einst vertraulichen Dokumenten des Foreign & Commonwealth Office (FCO), die er bei seiner akribischen Recherchearbeit in den britischen Nationalarchiven aufgestöbert hat und aus denen klar hervorgeht, daß für London schon damals auch der Zugriff und die Einflußnahme in Bezug auf Afghanistan ein wichtiges Motiv für die Schaffung eines Großbritannien wohlgesonnenen Staats Pakistan gewesen ist. Schließlich hatten die Briten nach ihrem zweiten verlorenen Afghanistankrieg 1872 die Grenze, die sogenannte Durand-Linie, die British India vom Emirat Afghanistan trennte, quer durch das paschtunische Siedlungsgebiet gezogen. Noch heute stellen die Paschtunen in Afghanistan mit mehr als 15 Millionen Menschen die größte Bevölkerungsgruppe und in Pakistan mit rund 30 Millionen die zweitgrößte nach den Punjabis mit 80 Millionen.

Im Zuge der antikolonialen Bewegung, die ab 1945 weltweit Fahrt aufnahm, sah sich Großbritannien im arabischen Raum ganz besonders durch den Pan-Arabismus, verkörpert durch Gamal Abdel Nasser, herausgefordert. Der Putsch der von Oberst Nasser angeführten Freien Offiziere gegen Londons Satrapen in Kairo, König Faruk, elektrisierte die arabischen Massen und fand Nachahmung wie zum Beispiel 1958 im Irak und 1969 in Libyen. Die meist jungen Offiziere wollten eine überkommene Herrschaft der Monarchie und der alteingesessenen Großgrundbesitzer durch sozialistische Industrialisierung ersetzen. Dafür stand symbolisch das von Nasser 1954 initiierte Mammutprojekt des Assuan-Staudamms mit seinem Wasserkraftwerk am Nil.


Nahaufnahme des ägyptischen Präsidenten am Mikrophon - Foto: Not credited, Public domain, via Wikimedia Commons

Gamal Abdel Nasser, das Idol der arabischen Massen, bei einer Rede 1960
Foto: Not credited, Public domain, via Wikimedia Commons

1956 eskalierte der geopolitische Konflikt, als Nasser den Suez-Kanal, der sich seit langem in britisch-französischem Besitz befand, verstaatlichte. Zusammen mit den Israelis griffen Briten und Franzosen Ägypten militärisch an, setzten dort Truppen per Schiff sowie aus der Luft ein. Als jedoch im UN-Sicherheitsrat nicht nur die Sowjetunion, sondern auch die USA die Invasion verurteilte und US-Präsident Dwight D. Eisenhower London mit einem Angriff auf das Pfund Sterling an der Börse drohte, sahen sich die ausländischen Invasoren zum Abzug gezwungen, fühlten sich Großbritannien und Frankreich plötzlich zu Großmächten zweiten Grades herabgestuft. Auch im Jemen gerieten Anfang der sechziger Jahre ägyptische und britische Soldaten aneinander, als Nasser die säkular-sozialistischen Kräfte gegen die zaidistische Monarchie im Norden und gegen die Kolonialherrschaft Londons im Süden unterstützte.


Luftaufnahme dreier Flugzeugträger im Konvoi - Foto: Royal Navy official photographer, Public domain, via Wikimedia Commons

Drei der fünf an der Suez-Operation beteiligten britischen Flugzeugträger - HMS Eagle, HMS Bulwark und HMS Albion - im östlichen Mittelmeer im Herbst 1956
Foto: Royal Navy official photographer, Public domain, via Wikimedia Commons

Ungeachtet aller offensichtlichen Risiken schreckte Großbritannien in diesen Jahren nicht davor zurück, die ägyptische Moslembruderschaft gegen Nasser aufzuwiegeln, und schmiedete mit ihr Attentatspläne gegen den beliebtesten Politiker Arabiens. Nach Angaben von Curtis sind wichtige britische Dokumente aus dieser Phase der britisch-ägyptischen Beziehungen bis heute unter Verschluß. Als Nasser 1970, drei Jahre nach der schmachvollen Niederlage im Sechs-Tage-Krieg gegen Israel, starb, warb sein Nachfolger Anwar As Sadat bei der Moslembruderschaft um Unterstützung, die er auch partiell erhielt. Doch 1981 mußte Sadat den letztendlichen Preis für seinen Pakt mit den religiösen Reaktionären bezahlen, als Moslemfanatiker um den späteren Al-Kaida-Vizechef Aiman Al Zawahiri bei einer Militärparade vor laufenden Fernsehkameras ihn und mehrere andere Gäste auf der Zuschauertribüne erschossen und in die Luft jagten - angeblich wegen des Friedensschlusses Ägyptens mit Israel drei Jahre zuvor.


Der saudische Monarch und der US-Außenminister stehen einander gegenüber mit einem Dolmetscher im Hintergrund - Foto: Unknown Author, Public domain, via Wikimedia Commons

König Faisal trifft US-Außenminister Henry Kissinger 1975 zu Gesprächen in Riad
Foto: Unknown Author, Public domain, via Wikimedia Commons

Bereits 1973 war es infolge des Yom-Kippur-Kriegs zwischen Ägypten und Israel zum Ölboykott der OPEC gekommen. Die Ölpreise kletterten in eine nie zuvor dagewesene Höhe, was auch zur Destabilisierung des internationalen Bankensektors führte. Vor allem die USA und Großbritannien mit den Finanzplätzen New York und London boten sich als sichere Häfen für die gigantische Menge Petrodollars an, die in jenen Jahren in die Taschen der Saudis und Konsorten gespült wurde. An den prestigeträchtigsten Militärakademien beider Länder wurden die künftigen Führungspersönlichkeiten aus Pakistan, Saudi-Arabien, Jordanien, Bahrain, Kuwait, Oman, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) auf die spätere Übernahme wichtiger hochrangiger Aufgaben vorbereitet. Zu den prominentesten Absolventen angloamerikanischer Kaderschmieden gehörten unter anderem König Hussein von Jordanien und sein Nachfolger Abdallah, Pakistans Diktator General Zia ul-Haq und der langjährige Geheimdienstchef Saudi-Arabiens, Prinz Turki bin Faisal.

1979 fanden atemberaubende Umbrüche in der islamischen Welt statt. Rund 500 wahhabitische Freischärler besetzten die große Moschee von Mekka, nahmen rund 1000 Pilger als Geiseln und forderten ein Ende der korrupten Herrschaft der Familie Saud. Erst nach tagelangen Kämpfen mit unzähligen Toten konnten französische Spezialstreitkräfte den Spuk beenden. Im selben Jahr marschierten die sowjetischen Streitkräfte in Afghanistan ein, um die sozialistische Regierung in Kabul gegen konservative Aufständische, die von der CIA und Pakistan unterstützt wurden, zu verteidigen. Im Rahmen der größten verdeckten CIA-Aktion der Geschichte, Operation Cyclone, schickte Prinz Turki den jungen Osama Bin Laden ins afghanisch-pakistanische Grenzgebiet. Durch sein Beispiel sollte der Sproß der Bin-Laden-Baudynastie viele unzufriedene Jugendliche in Saudi-Arabien und den anderen arabischen Monarchien zur Teilnahme am Dschihad gegen die ungläubigen Sowjets bewegen - was auch geschah. Zu Zehntausenden strömten todesbereit die arabischen Freiwilligen nach Zentralasien.


Reza Pahlevi und Margaret Thatcher sitzen einander am Kaffeetisch gegenüber - Foto: Pahlavi Government (1925-1979), Public domain, via Wikimedia Commons

Oppositionsführerin Margaret Thatcher besucht den Schah von Persien im Palast Niavaran am 30. April 1978
Foto: Pahlavi Government (1925-1979), Public domain, via Wikimedia Commons

Ebenfalls 1979 kam Großbritannien und den USA der Schah von Persien, seit einem Vierteljahrhundert ein wichtiger Stützpfeiler ihrer Machtprojektion im Nahen Osten, abhanden. Ironie der Geschichte: Reza Pahlevi wurde von demselben schiitischen Geistlichen gestürzt, nämlich Ajatollah Khomeini, auf dessen Hilfe und Straßenschläger MI6 und die CIA 1953 dankbar zurückgegriffen hatten, als es darum ging, den linksliberalen iranischen Premierminister Mohammed Mossadegh wegen der Verstaatlichung der Anlagen der Anglo-Iranian Oil Company, des späteren britischen Weltkonzerns BP, von der Macht in Teheran zu entfernen. Zum Zeitpunkt seines Sturzes hatte der Schah 1500 britische Kampfpanzer und 250 Militärfahrzeuge für rund 400 Millionen Pfund bestellt und unklugerweise im Voraus bezahlt. Wegen der späteren Verhängung westlicher und internationaler Sanktionen gegen den Iran aufgrund des Vorwurfs des "Terrorismus" hat Großbritannien besagte Panzer bis heute nicht geliefert, aber auch nicht die Gelder zurückgezahlt, was zwangsläufig dazu beitrug, daß die Beziehungen der beiden Staaten nach wie vor feindselig sind.


Reagan und Zia stehend im Oval Office - Foto: us government, Public domain, via Wikimedia Commons

Die Präsidenten Muhammed Zia-ul-Haq und Ronald Reagan
Foto: us government, Public domain, via Wikimedia Commons

In den achtziger Jahren schloß die konservative Regierung Margaret Thatchers mit Saudi-Arabien das größte Rüstungsgeschäft der britischen Geschichte ab. Im Mittelpunkt des sogenannten Al-Yamamah-Deals stand der Export von Kampfjets aus der Produktion von BAE Systems an die saudische Luftwaffe. Wegen der Wartung dieser Maschinen und der Ausbildung an ihnen arbeiten bis heute 4000 BAE-Beschäftigte in Saudi-Arabien. Es gibt zahlreiche Hinweise, daß im Rahmen von Al Yamamah Schmiergelder in Höhe von bis zu einer Milliarde Pfund an Mitglieder des saudischen Königshauses geflossen sind. Als Empfänger und Verteiler der Gelder wird Prinz Bandar bin Sultan gehandelt. Bandar diente seinem Land mehr als 20 Jahre lang als Botschafter in den USA, wo er besonders gute Beziehungen zur Familie Bush pflegte. Gelder aus dem Konto seiner Frau, Prinzessin Haifa bint Faisal, bei der Riggs Bank in Washington sollen den Aufenthalt von zwei der mutmaßlichen 9/11-Flugzeugattentäter aus Saudi-Arabien, Khalid Al Midhar und Nawaz al Hazmy, in Kalifornien in der Zeit vor dem 11. September 2001 finanziert haben.


Reagan im Gespräch mit den turbantragenden Mudschaheddin im Weißen Haus - Foto: Michael Evans, see stamp and name on roll #C12820, Public domain, via Wikimedia Commons

Ronald Reagan empfängt Vertreter der afghanischen Mudschaheddin am 2. Februar 1983 im Oval Office des Weißen Hauses
Foto: Michael Evans, see stamp and name on roll #C12820, Public domain, via Wikimedia Commons

Prinz Bandar war es auch, der in den ersten Tagen nach dem "Tag, der die Welt veränderte" in Absprache mit US-Präsident George W. Bush mehrere Hundert reiche Saudis, darunter Verwandte von Bin Laden, per Flugzeug aus den USA brachte und sie somit einem Verhör durch das FBI entzog. 2006 hat Tony Blair unter Verweis auf die "nationale Sicherheit" des Vereinigten Königreichs eine sofortige Beendigung der Ermittlungen des Serious Fraud Office (SFO), des Betrugsdezernats der britischen Strafverfolgungsbehörde, die bezüglich des dringenden Verdachts der Bestechung in Verbindung mit dem Rüstungsdeal Al Yamamah vor dem Durchbruch standen, verfügt. Zuvor soll Bandar die Regierung in London mit einer Einstellung der Zusammenarbeit Riads in Sachen "Terrorbekämpfung" gedroht haben, sollten die mit dem Fall betrauten SFO-Kriminalbeamten nicht an die Leine gelegt werden.


Ein Soldat hoch zu Roß mit einem Säbel in der Hand, dessen Klinge auf seiner Schulter ruht - Foto: Man vyi, Public domain, via Wikimedia Commons

Kavalleriesoldat schiebt Wache gegenüber dem britischen Außenministerium in London
Foto: Man vyi, Public domain, via Wikimedia Commons

In den achtziger Jahren tobte sowohl der Iran-Irak-Krieg als auch der Krieg in Afghanistan. Im Rahmen des Konflikts am Hindukusch sollen Mitglieder des berüchtigten Special Air Service (SAS) Großbritanniens Verbindungsoffiziere des pakistanischen Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) militärisch mit besonderer Betonung auf den Untergrundkampf ausgebildet haben. Diese ISI-Offiziere haben wiederum Tausende muslimische Freiwillige aus aller Herren Länder ausgebildet und davon nicht wenige zum Kampf in den indischen Teil Kaschmirs geschickt. Währenddessen trieb Präsident Zia in Pakistan mit Hilfe Saudi-Arabiens eine starke Islamisierung des pakistanischen Staatswesens unter anderem durch den Bau zahlreicher Koranschulen voran. Doch die von Riad forcierte Verbreitung des engstirnigen wahhabitischen Gedankenguts beschränkte sich nicht nur auf Pakistan, sondern fand auch in der islamischen Welt insgesamt statt. Mark Curtis spricht in seinem Buch von der "größten Propagandakampagne der Geschichte" und schätzt ihren finanziellen Umfang auf 500 Milliarden Dollar.

Nach dem Ende des Kriegs der afghanischen Mudschaheddin gegen die Sowjetarmee beteiligten sich in den neunziger Jahren zahlreiche arabische Veteranen am Jugoslawienkrieg an der Seite der bosnischen Moslems und taten sich durch Greueltaten wie Abschlagen der Köpfe serbischer und kroatischer Soldaten hervor. Afghanistanveteranen verübten den Lastwagenbombenanschlag 1993 auf das New Yorker World Trade Center. 1994 gründete Osama Bin Laden in der britischen Hauptstadt sein Advice and Reformation Committee, das in den Jahren danach unter den Augen von FCO, MI6 und MI5 über Konten bei den Londoner Banken dschihadistische Umtriebe auf der ganzen Welt finanzierte und sie propagandistisch begleitete - nicht zuletzt auf dem Balkan. 1996 verübten in der Stadt Sirte die libyschen Kampfgefährten Bin Ladens mit Hilfe des MI6 einen Autobombenanschlag auf Muammar Gaddhafi, der diesen nur knapp verfehlte. Mark Curtis berichtet ausführlich über die unsägliche Episode, die erst durch die Enthüllungen des MI5-Aussteigers David Shayler publik wurde. 1999 arbeiteten SAS-Soldaten praktisch offen mit der mehrheitlich muslimischen "Terrortruppe" Kosovo Liberation Army (KLA) im Krieg der NATO gegen Rest-Jugoslawien zusammen. Heimgekehrte britische Kaschmir-Freiwillige sollen auch die Bombenanschläge am 7. Juli 2005 auf das Bus- und U-Bahnsystem Londons durchgeführt haben, die 56 Menschen das Leben kosteten und mehr als 700 schwer verletzt zurückließen.

Ein weiterer wenig bekannter Höhepunkt der heimlichen Zusammenarbeit Londons mit dem radikalen Islam vollzog sich ab 2003 im Irak, als bedrängte britische Besatzungstruppen zum eigenen Schutz konservative pro-iranische schiitische Milizen in der Region um die südliche Hafenstadt Basra gegen die linksnationalistische Mahdhi-Armee Muktada Al Sadrs instrumentalisierten. Seit mehr als zehn Jahren versinkt Syrien in einem mörderischen Bürgerkrieg, der hauptsächlich von Großbritannien, den USA und Saudi-Arabien losgetreten wurde. Es ist kein Zufall, daß im Frühjahr 2011 die ersten gewaltsamen Proteste gegen das "Regime" Baschar Al Assads in der südsyrischen Stadt Deraa, unweit der Grenze zu Jordanien stattfanden. Dahinter sollen britische und amerikanische Experten im Bereich Staatsstreich gesteckt haben, die auf der anderen Seite der Grenze in Jordanien stationiert waren. Ohne die umfangreiche Rekrutierungs- und Waffenhilfe Londons, Washingtons und Riads für die Dschihadisten in Syrien hätte es weder die Flüchtlingskrise 2015 in der Europäischen Union gegeben noch wäre es zur Entstehung der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) gekommen, deren Anhänger in Sachen Grausamkeit Al Kaida und die afghanischen Taliban längst hinter sich gelassen haben.


Nächtlicher Raketenbeschuß von der Ladefläche eines Geländewagens - Foto: Qasioun News Agency, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons

Syrische Rebellen beschießen im Dezember 2016 die von der Regierung Baschir Al Assads kontrollierten Städte Al Fu'ah und Kafriya
Foto: Qasioun News Agency, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons

Libyen hat sich bis heute vom gewaltsamen Sturz Gaddhafis 2011, bei dem die NATO der "terroristischen" Libyan Islamic Fighting Group (LIFG) hauptsächlich als Luftwaffe diente, nicht erholt. Das Gegenteil ist der Fall. Rivalisierende Stämme und Gruppierungen kämpfen um die Macht, während das Land zum Somalia am Mittelmeer zu verkommen droht. Abdel Ramadan Abedi, der 22jährige Selbstmordattentäter, der am 22. Mai 2017 mit einer mit Schrapnell gefüllten Rucksackbombe 23 Besucher eines Konzerts der US-Popsängerin Ariana Grande in der Manchester Arena in den Tod riß und mehr als 1000 verletzte, gehörte wie seine gesamte Familie zur LIFG und war den britischen Sicherheitsbehörden, darunter MI5 und MI6, länger bekannt. Seit 2015 richtet Saudi-Arabien mit britischen Waffen und der Hilfe britischer Militärberater den Nachbarstaat Jemen regelrecht zugrunde. Dort trägt sich nach UNICEF-Angaben wegen Hungersnot und Cholera-Epidemie - beides Folgen der Seeblockade der Saudis und ihrer Verbündeten - die schwerste humanitäre Krise weltweit zu. Auf dem Boden werden die saudischen Streitkräfte sowohl von wahhabitischen Al-Kaida-Anhängern als auch von britischen SAS-Soldaten unterstützt. Letztere versuchen vor allem die Raketenwerkstätten der schiitischen Huthi-Rebellen zu vernichten, um den gelegentlichen Beschuß der wichtigsten saudischen Ölraffinerien durch die Huthis zu unterbinden.


Aufgeheizte Huthis marschieren zu Tausenden durch die Straßen Sanaas und halten ihre Gewehre hoch - Foto: Henry Ridgwell (VOA), Public domain, via Wikimedia Commons

Schiitische Huthis protestieren gegen Luftangriffe der von Saudi- Arabien angeführten Militärallianz sunnitischer Monarchien auf die jemenitische Hauptstadt Sanaa im September 2015
Foto: Henry Ridgwell (VOA), Public domain, via Wikimedia Commons

Wie Mark Curtis in seiner außerordentlich kurzweiligen und faktenreichen Analyse schildert, sind alle Einzelheiten der perfiden Zusammenarbeit Londons mit den rückwärtsgewandtesten Kräften in der islamischen Welt - allen voran in Pakistan und Saudi-Arabien - den Beteiligten längst bekannt. Doch die Entscheidungsträger in der Downing Street, im FCO sowie beim Innen-, Verteidigungs- und Wirtschaftsministerium halten die Risiken und eventuellen negativen Folgen für vertretbar, auch wenn sie dies bei einer Debatte im Unterhaus oder im Interview mit der BBC niemals offen zugeben würden. Statt dessen beteuern sie immer wieder, sie vertrauten auf die "Reformfähigkeit" jener Kräfte, auch wenn das völlig illusorisch ist. Einwände kümmern die Verantwortlichen in Whitehall und Westminster nicht im geringsten, solange die befreundeten Autokraten in der islamischen Welt ihre wichtigsten Bankgeschäfte an der Themse tätigen und für volle Auftragsbücher bei der britischen Rüstungsindustrie sorgen. Nicht umsonst hat Tony Blair in seiner eingangs erwähnten Kritik am NATO-Abzug aus Afghanistan ganz nebenbei das Post-Brexit-Großbritannien vor dem Verlust des Rangs einer ernstzunehmenden Großmacht gewarnt. Um diesen Status zu wahren, dürften die britischen Sicherheitsorgane und Spitzenpolitiker ihre Komplizenschaft mit dem "radikalen Islam" eher vertiefen als reduzieren.


Panoramablick auf Westminster Palace, vom anderen Ufer der Themse aus aufgenommen - Foto: RickyPi05, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Palast von Westminster, Sitz des britischen Parlaments
Foto: RickyPi05, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

6. September 2021


Mark Curtis
Secret Affairs - Britain's Collusion with Radical Islam
Serpent's Tail, London, 2010
599,9KB
ISBN: 978-1-846687631 (eBook)

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 167 vom 11. September 2021


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