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EUROPA/212: Migrationspolitik - Schützen oder abwehren (amnesty journal)


amnesty journal 1/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Schützen oder abwehren
Die Zusammenarbeit der EU-Staaten bei der Migrationspolitik ist auf Abschottung ausgerichtet

Von Tim Schröder


Es ist symptomatisch für die Entwicklung der europäischen Asylpolitik, dass an ihrem Anfang kein wie auch immer formuliertes politisches Konzept stand, sondern dass sie nur als Anhängsel anderer Politikbereiche mitgestaltet wurde. Das Schengener Durchführungsübereinkommen, das im Juni 1990 von Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten unterzeichnet wurde, machte Ernst mit der heute längst als selbstverständlich empfundenen Öffnung der Binnengrenzen im innereuropäischen Personenverkehr. Mit dem Wegfall der Grenzkontrollen aber konnten sich nun auch Asylsuchende weitgehend ungehindert innerhalb des Schengenraums bewegen und damit nationale Asylsysteme unterlaufen. Um dies zu verhindern, wurden im Übereinkommen entsprechende Gegenmaßnahmen formuliert, und die europäische Asylpolitik war geboren.

Erst neun Jahre später, im Oktober 1999, definierten die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten auf ihrem Gipfeltreffen im finnischen Tampere erstmalig, welche Ziele mit der europäischen Asylpolitik verfolgt werden sollten. Als Bestandteil eines europäischen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sollte mit der europäischen Asylpolitik eine schrittweise Harmonisierung der nationalen Politikansätze und Regelungen erreicht werden und schließlich ein "gemeinsames europäisches Asylsystem" errichtet werden. Grundlage dieses Asylsystems, so die Staats- und Regierungschefs, müsse die uneingeschränkte und allumfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention bilden. Diese kurze Definition europäischer Politikziele macht zwei wesentliche Aspekte sichtbar, die für ein Verständnis der Entwicklung der europäischen Asylpolitik maßgeblich sind und helfen, ihren derzeitigen Zustand nachzuvollziehen.

Zunächst wird deutlich, dass anscheinend bereits die europäische Harmonisierung an sich als verfolgenswertes Ziel betrachtet wird. Nun mag die Schaffung eines gemeinsamen Asylsystems grundsätzlich eine gute Sache sein. Mittlerweile ist jedoch der sprichwörtliche "europäische Mehrwert" nicht mehr als ein Schlagwort, das auf so gut wie alle nur denkbaren Politikbereiche anwendbar ist. Im Gegenteil: Die bloße Übertragung von Gesetzgebungs- oder Verwaltungskompetenzen der Mitgliedsstaaten an die Europäische Union ist für sich selbst genommen noch kein legitimes Politikziel. Vielmehr muss es auf die inhaltliche Ausrichtung einer gemeinsamen Asylpolitik ankommen.

Bei den Inhalten aber können sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten bis heute nicht entscheiden, ob sie Asylsuchende und Flüchtlinge eher als Gefahr betrachten und abwehren wollen, oder ob sie es ernst meinen mit der Gewährung von Schutz für Menschen, denen in ihrer Heimat Verfolgung oder andere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen. Bis heute ist nicht geklärt, ob die europäische Asylpolitik nur ein Anhängsel einer gemeinsamen Migrationspolitik sein soll, wie sie etwa im Schengener Durchführungsübereinkommen ansatzweise zum Ausdruck kommt, oder ob der Verweis auf die Genfer Flüchtlingskonvention und damit auf den Gedanken der Schutzgewährung ernst gemeint ist.

Die zwischen 1999 und 2005 verabschiedeten europäischen Rechtsakte im Bereich des Asyl- und Flüchtlingsrechts lassen keinen eindeutigen Schluss zu. Während die europaweite Definition des Flüchtlingsbegriffs in der Qualifikations-Richtlinie von 2004 als weitgehend gelungen gilt, sprechen die europäischen Vorschriften über den Ablauf von Asylverfahren eine ganz andere Sprache. Die Asylverfahrens-Richtlinie von 2005 wird von vielen Nichtregierungsorganisationen, darunter auch ai, wegen ihrer unzureichenden Regelungen scharf kritisiert. Ebenso ambivalent bewertet werden auch die EU-Richtlinie über die Aufnahme von Asylbewerbern von 2003 und die so genannte Dublin-II-Verordnung von 2003, die bestimmt, welcher EU-Mitgliedsstaat im Einzelfall für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist.

Ganz überwiegend auf Abschottung und Abwehr ist dagegen die Zusammenarbeit der EU-Staaten im Bereich der Migrationspolitik ausgerichtet. Die Abwehr von Flüchtlingen und Migranten im Mittelmeer und vor der westafrikanischen Küste, die geplante Einrichtung von Schutzzonen in Nordafrika und Osteuropa und die Schaffung einer europäischen Grenzagentur entwerten so allerdings den Gedanken eines gemeinsamen europäischen Asylsystems: Wenn Schutzsuchende die EU gar nicht mehr erreichen können, erübrigt sich irgendwann auch ein europäisches Asylsystem.

Dennoch ist diese Dichotomie gewollt und findet sich auch in dem im November 2004 von den Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten verabschiedeten "Haager Programm", mit dem die Beschlüsse von Tampere aus dem Jahr 1999 aktualisiert und modifiziert wurden. Das Haager Programm enthält ebenfalls eine eigentümliche Mischung aus Asyl- und Migrationspolitik. Asylsuchende und Flüchtlinge werden zwar als schutzbedürftig wahrgenommen, die Abwehr "normaler" Migranten an den EU-Außengrenzen und die politische Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern von Asylsuchenden und Migranten aber ungleich prominenter und umfangreicher behandelt.

Die europäische Asylpolitik hat bislang stets dem gemeinsamen politischen Willen der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten entsprochen, es ist unwahrscheinlich, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Damit sind aber auch die nationalen Regierungen, darunter die deutsche Bundesregierung, für die Defizite und Versäumnisse europäischer Politikansätze verantwortlich. Es ist höchste Zeit, dass diese Regierungen ihr bereits 1999 gegebenes Versprechen einlösen, die Genfer Flüchtlingskonvention uneingeschränkt und allumfassend anwenden zu wollen. Auch wenn dies nur ein erster Schritt hin zur Schaffung eines wirklich umfassenden europäischen Schutzsystems für Menschen sein kann, denen in ihrer Heimat Verfolgung oder andere schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen drohen.

Der Autor ist Vorstandsmitglied der deutschen ai-Sektion für politische Flüchtlinge.


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Quelle:
amnesty journal, Januar 2007, S. 18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Januar 2007