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EUROPA/295: Kampf gegen Klischees und hartnäckige Vorurteile (ai journal)


amnesty journal 10/11/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Können Sie tanzen?"

Stéphane Laederich aus Zürich ist Mathematikprofessor, Banker und Direktor der "Rroma Foundation". Seit fast zwanzig Jahren kämpft die Organisation gegen Klischees und hartnäckige Vorurteile.

Von Daniel Kreuz


Seinen ausgeprägten Sinn für Humor hat sich Stéphane Laederich in all den Jahren nicht nehmen lassen, trotz der traurigen Schicksale und bedrückenden Ereignisse, mit denen er als Direktor der "Rroma Foundation" oft konfrontiert ist. Als der französische Präsident Nicolas Sarkozy im August dieses Jahres ankündigte, alle Roma auszuweisen, wollte ihm Laederich am liebsten direkt einen Brief schreiben: "Ich wollte ihm anbieten, ihm eine Kiste Champagner zu schicken, wenn er in Ungarn jemanden findet, der Sarkozy heißt und kein Rom ist", sagt der 49-Jährige mit einem lauten Lachen. Sarkozys Vater stammt aus Ungarn, wo der Name unter Roma weit verbreitet ist.

Wenige Wochen zuvor war Laederich selbst in Ungarn gewesen, um sich über die Situation der Minderheit nach dem Wahlerfolg der rechtsextremen und romafeindlichen Jobbik-Partei zu informieren. Regelmäßig unternimmt er solche Reisen, um für Berichte der Stiftung zu recherchieren. Besonders schlimm war es 2006 im Kosovo: "Der Hass hat mich schockiert. Dort werden Roma verprügelt, ihre Häuser zerstört oder beschlagnahmt, Frauen vergewaltigt. Die Angst war spürbar. In jedem Haus, in jeder Familie. Es wird kein Romanes mehr auf der Straße gesprochen, oft auch nicht zu Hause." Mittlerweile brächten Eltern ihren Kindern gar kein Romanes mehr bei, damit sie weniger Probleme haben.

Laederich wurde 1961 als Sohn eines Franzosen aus dem Elsass und einer Romni aus dem Baltikum in Frankreich geboren, aufgewachsen ist er in verschiedenen Ländern, unter anderem in der Schweiz. Hier gründete seine Mutter 1992 die "Rroma Foundation". Das Motto hat sich seitdem nicht geändert: Roma helfen Roma. Die Stiftung hilft bei Asylanträgen, vermittelt Studienplätze oder unterstützt Projekte finanziell. So ermöglichte sie etwa durch einen Kleinkredit den Kauf einer Ziegelfabrik in Rumänien. Nun arbeiten dort 60 Roma, die ihre Familien nach Jahren der Arbeitslosigkeit endlich wieder selbstständig ernähren können.

Seit ihrer Gründung engagiert sich Laederich bei der Stiftung. Zuvor hatte er sieben Jahre lang in den USA als Mathematikprofessor gearbeitet, danach in Paris. Nach seinem momentanen Beruf gefragt, muss Laederich schmunzeln: "Ich bin Banker. Da habe ich auch viel mit Vorurteilen zu kämpfen." 2004 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Linguisten Lev Tcherenkov ein über tausend Seiten starkes Werk über die Geschichte, Sprache und die unterschiedlichen Gruppen der Roma in Europa.

Große Bedeutung hat bei der "Rroma Foundation" die Öffentlichkeitsarbeit, um die weitverbreiteten Vorurteile über Roma zu entkräften, so Laederich: "Wenn Sie in der Schweiz sagen: 'Ich bin Rom', ist die erste Frage, die Sie hören: 'Können Sie lesen und schreiben?' Oder: 'Können Sie tanzen?' Solche Bemerkungen habe ich selbst mehrmals gehört. Und das war nicht vor zehn Jahren. Das passiert heute noch, immer wieder."

Erstaunt ist er darüber nicht: "Beim Wort 'Roma' haben eben viele Menschen automatisch arme, kriminelle Bettler in schäbigen Unterkünften vor Augen. Dass es aber auch gut integrierte Roma gibt, das sehen sie nicht. Diejenigen, die den Aufstieg geschafft haben oder eine bessere Ausgangsposition hatten, werden nicht als Roma wahrgenommen." Laederich nennt diese Roma daher "die Unsichtbaren". Sie leben in fast allen Schichten, viele haben wie er einen Schweizer Pass. Einige seiner Bankerkollegen seien Roma, würden es offiziell aber nicht zugeben - aus Angst vor Diskriminierung. "Und das zu Recht. Es gab Fälle, in denen sich Leute in der Schweiz als Rom geoutet haben - und dann aus fadenscheinigen Gründen ihre Arbeit verloren haben."

Die anderen Roma hätten großes Verständnis dafür, dass die "Unsichtbaren" nicht offen über ihre Herkunft sprechen. "Die meisten würden genauso handeln. Wie alle anderen Menschen auch wollen Roma ein ganz normales Leben führen, eine Arbeit haben oder zur Schule gehen, und dass es ihren Kindern einmal besser geht als ihnen." Doch dem stünde in vielen Ländern das Wort "Roma" im Weg. Es wüssten eben zu wenige, dass Roma in einigen Ländern schon vor Jahrhunderten zum Mittelstand gehörten. Wie das türkische Steuerregister beweist, arbeiteten sie zum Beispiel auf dem Balkan als Polizisten und Ärzte.

Dass er seit fast 20 Jahren immer noch gegen dieselben Vorurteile ankämpfen muss, macht ihn wütend. Doch selbst dann ist und bleibt er Mathematiker: "Was mich besonders aufregt, sind diese sonderbaren Statistiken. In vielen Ländern gibt es keine genauen Zahlen darüber, wie viele Roma dort leben. Aber wie kann man dann sagen: '98 Prozent aller Roma stehlen? 75 Prozent wollen nicht arbeiten?' Hetzende Politiker und Journalisten sollten einfach öfters mal ihr Gehirn einschalten, dann würden sie merken, dass ihre Aussagen falsch sind."

Immer wieder hört er Sätze wie: "Es gibt acht bis zehn Millionen Roma in Osteuropa, die haben einen Wohnwagen, und sobald sie in der Schweiz sind, ziehen sie los und stehlen und betteln." Dabei seien Roma erfahrungsgemäß nicht mehr oder nicht weniger mobil als der Rest der Bevölkerung. Und natürlich gebe es leider auch kriminelle Roma, so wie es eben in jeder Gesellschaft Kriminelle gebe. Dennoch würden oft gleich alle Roma für Verbrecher gehalten. "Wenn englische Hooligans randalierend durch die Städte ziehen, kommt doch auch niemand auf die Idee zu sagen, dass alle Engländer unzivilisiert sind."

Stéphane Laederich hat schon in vielen Ländern gelebt und europaweit unterschiedliche Roma-Gruppen besucht. Er spricht akzentfrei Deutsch und fünf bis sieben weitere Sprachen, so genau weiß er es selbst nicht. Aber wo seine Heimat ist, weiß er ganz genau: "Ich bin Zürcher", erklärt er, dieses Mal mit einem breiten Schweizer Akzent - und lacht.


Der Autor ist Volontär beim Amnesty Journal.


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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2010, S. 31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Oktober 2010