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GRUNDSÄTZLICHES/258: Bildung ist ein Menschenrecht (ai journal)


amnesty journal 11/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

Der weite Weg zur Schule
Weltweit können mehr als hundert Millionen Kinder nicht zur Grundschule gehen. Damit wird nicht nur das Recht auf Bildung verwehrt, sondern auch noch die Armut gefördert.

Von Dorothee Haßkamp


Bildung ist ein Menschenrecht, das zugleich die Möglichkeit eröffnet, andere Menschenrechte wahrzunehmen. Sie hilft, Armut zu überwinden und schützt vor vermeidbaren und tödlichen Krankheiten. Bildung trägt dazu bei, Diskriminierung zu überwinden: Sie macht Mädchen unabhängiger und stärkt Menschen, die in ihrer Gesellschaft willkürlich ausgegrenzt werden. Am Beispiel des Rechts auf Bildung - das keineswegs nur für Kinder gilt, sondern auch im Sozialpakt und in der Frauenrechtskonvention festgeschrieben ist - wird schnell deutlich, dass die Menschenrechte unteilbar sind und einander bedingen.

"Es geht nicht nur darum, Kinder in die Schule zu bringen", hat die erste UNO-Sonderberichterstatterin für das Recht auf Bildung am Ende ihrer Amtszeit klargestellt. Angesichts ausgrenzend wirkender Schulgelder, weiter oder gar lebensgefährlicher Schulwege und einem eklatanten Lehrkräftemangel bleibt das zwar eine unverzichtbare Voraussetzung. Doch wenn die Kinder im Klassenraum angekommen sind, beginnt erst die eigentliche Aufgabe: Das Menschenrecht auf Bildung umfasst weitaus mehr, als Lesen und Schreiben zu lernen. Es soll Menschen in die Lage versetzen, ihre persönlichen Fähigkeiten und Begabungen zu entfalten, ausgewogen zu urteilen und verantwortungsvoll zu handeln. Erziehung soll Frieden, Toleranz und Gleichberechtigung fördern sowie Achtung vor der Umwelt lehren. Diese Bildungsziele sind für alle Staaten verbindlich, die die Kinderrechtskonvention unterschrieben haben - und das sind fast alle Staaten der Welt. Was genau Bildung leisten soll und wie Staaten dem näher kommen können, haben verschiedene UNO-Ausschüsse in ihren Kommentaren ausführlich erläutert. Sie betonen zugleich die große Bedeutung, die Bildung jenseits ihrer ökonomischen Vorteile für die menschliche Würde und den menschlichen Geist hat.

Alle Vertragsstaaten sind zur Achtung, zum Schutz und zur schrittweisen Erfüllung dieses Rechtes verpflichtet und müssen den Vereinten Nationen über Fortschritte berichten. Die Einführung einer kostenlosen Grundschulbildung und die Durchsetzung der Schulpflicht haben oberste Priorität.

Auch in den Millenniumszielen gegen Armut hat die weltweite Staatengemeinschaft diesen Schwerpunkt übernommen: Bis 2015 sollen alle Kinder - Jungen wie Mädchen - in die Grundschule gehen können. Allein in Uganda sind zwei Millionen Kinder, die vorher von der Erziehung praktisch ausgeschlossen waren, nach der Abschaffung des Schulgelds und der Einstellung neuer Lehrkräfte in den Genuss einer Grundschulbildung gekommen - und überproportional viele von ihnen sind Mädchen.

Trotzdem ist bereits abzusehen, dass die Staatengemeinschaft mit ihrem Bildungsziel, das als durchaus erreichbar galt, in der gesetzten Frist scheitern wird. So rechnet der amtierende UNO-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz damit, dass bis 2015 nur etwa 83 Prozent der Kinder die Grundschule abschließen werden - sofern die Staaten in ihren Anstrengungen nicht nachlassen.

Die verschiedenen UNO-Pakte verpflichten die Staaten, einen diskriminierungsfreien Zugang zu allen Bildungsinstitutionen zu gewährleisten. Das heißt: Kein Staat muss sofort das Recht auf Bildung für alle verwirklichen, wenn er dazu auch mit internationaler Unterstützung nicht in der Lage ist. Aber jeder Staat muss darauf achten, dass die vorhandenen Bildungschancen ohne Diskriminierung zugänglich sind. Dabei muss er besonderen Wert auf die Einbindung von Schwachen und Benachteiligten legen.

Doch eben an diesem Punkt kommt es häufig zu Menschenrechtsverletzungen, wie der ai-Jahresbericht 2007 zeigt. Denn es sind an vielen unterschiedlichen Orten auf der Welt immer wieder die gleichen Kinder, die draußen vor der Tür bleiben: marginalisierte ethnische Bevölkerungsgruppen (wie zum Beispiel Indigene), Kinder mit Behinderung, Migrantenfamilien, Flüchtlinge, und immer wieder: Mädchen. Gleichberechtigte Bildungschancen für Mädchen zu schaffen, ist daher ein eigenes Millenniumsziel.

Mit großer Brutalität gehen die Gegner der Mädchenbildung im Süden Afghanistans vor. Sie versuchen, durch Angst in der Bevölkerung die neuen Bildungschancen von Mädchen zu untergraben: amnesty international hat 2006 mehrere Morde an Lehrern - manchmal vor den Augen der Kinder - und 173 Bombenattentate und Brandanschläge binnen weniger Monate auf gemischte Schulen recherchiert. Doch überwiegend vollzieht sich die Ausgrenzung von Mädchen aus dem Bildungswesen weitaus stiller. Armut, patriarchale Strukturen und Traditionen hat der UNO-Sonderberichterstatter 2006 als wesentliche Gründe benannt, warum Mädchen so viel häufiger die Erziehung verwehrt wird als ihren Brüdern. Millionen von Mädchen, so ein UNO-Bericht, brechen die Grundschule wegen einer bereits im Kindesalter erfolgten Heirat oder Schwangerschaft ab.

Dass Bildung auch Investitionen erfordert, liegt auf der Hand. Aber die Verwirklichung des Rechts auf Bildung ist oft weniger eine Frage des Geldes als vor allem der Schwerpunkte. "Viele Staaten mit mittlerem Einkommen geben mehr Geld für Rüstung als für Bildung aus", beklagt UNO-Sonderberichterstatter Muñoz. Doch auch das Geld, das eigens dem Bildungsetat zugeschlagen wird, kommt oft nicht allen zugute, die Anspruch darauf hätten. Das gilt keineswegs nur für Entwicklungsländer: Immer wieder werden europäische Länder vom Ausschuss für Kinderrechte oder vom Anti-Rassismus-Ausschuss für ihren diskriminierenden Umgang mit Roma gerügt, deren Kinder überdurchschnittlich oft in "Sonderschulen" landen.

Auch Deutschland musste sich im März dieses Jahres einen Tadel des UNO-Abgesandten gefallen lassen: Muñoz fürchtet unter anderem, dass die frühe Aufteilung der Kinder auf das dreigliedrige Schulsystem zur De-facto-Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund führen könne. Hierzulande kritisiert amnesty international auch die Situation von Flüchtlingskindern, Kindern von "illegalen" und jenen Kindern, die - oft jahrelang - mit einer (Ketten-)Duldung in Deutschland leben. In mehreren Bundesländern gilt keine Schulpflicht für Kinder ohne gesicherten Aufenthaltstitel. Ob diese Kinder in den Genuss ihres Menschenrechts auf Bildung kommen, hängt dort ganz vom guten Willen der Schulleitung ab.

Die Autorin ist Beauftragte der deutschen ai-Sektion für die Arbeit gegen Rassismus.


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Quelle:
amnesty journal, November 2007, S. 20
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2007