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GRUNDSÄTZLICHES/261: Was wissen Schüler über Menschenrechte? (ai journal)


amnesty journal 02/2008 - Das Magazin für die Menschenrechte

Langweilige Schildkröten und Stopp-Regel
Was wissen Schüler über die Menschenrechte? Eine Reportage an drei Berliner Schulen.

Von Heike Holdinghausen


Berlin-Neukölln, Sonnenallee. Wer hier wohnt, kennt sich mit schrägen Fragen aus. "Was, bei euch gibt es ein Gymnasium?", hat ein Onkel die Schülerin Sema mal gefragt. Die 18-Jährige mit dem dunkelblonden Pferdeschwanz grinst spöttisch und sagt: "Und jetzt gebe ich meiner Cousine Nachhilfe." Nächstes Jahr wird Sema ihr Abitur an der Neuköllner Ernst-Abbé-Schule machen. Heute ist der Unterricht für sie vorbei, 14.30 Uhr, Zeit für die Politik-AG von Lehrer Jan Ebert. Er ist Fachbereichsleiter für Gesellschaftswissenschaften am Gymnasium im Berliner Problembezirk mit einem Ausländeranteil von 22 Prozent und einer Arbeitslosigkeit von 23 Prozent. Viele Schüler kommen aus Elternhäusern, die in Berichten über die Pisa-Misere oder Ungerechtigkeit mit "bildungsfern", "in prekärer Arbeitssituation" oder "sozial benachteiligt" umschrieben werden. "Doch Schüler, die an dieser Schule die Oberstufe erreichen, bilden häufig eine Elite in ihrem Jahrgang", sagt Lehrer Ebert, "darauf sind wir stolz."

Sie sitzen freiwillig in dem kleinen, beige gestrichenen Klassenraum mit Blick auf den leeren Schulhof, der sich hinter dem roten Backsteingebäude der Schule befindet. Vom Verkehr der breiten Sonnenallee ist hier weder etwas zu hören noch zu sehen, doch draußen halten lässt sich das Leben im Bezirk nicht. "Als wir unsere Abifahrt geplant haben", erzählt Mehdi, 19, aus dem Libanon, "wollten die einen nicht nach Spanien, die anderen nicht in die Türkei". In Spanien seien Sex und Alkohol überall gegenwärtig, wussten die einen, in der Türkei gebe es keine Meinungsfreiheit, und die Kurden würden unterdrückt, sagten die anderen. "Also gibt es jetzt zwei Abifahrten." Jederzeit könne die Situation hier eskalieren, ein Nebeneinander gebe es nicht. Die Arme der anderen Schüler schnellen hoch, aber Mehdi mit dem Palästinensertuch spricht zu Ende, was er sagen will. Sharon, die ihren schwarzen Rastazopf streng aus dem Gesicht gekämmt hat, kontert: "Nationalitäten spielen hier in der Schule keine Rolle", sagt sie, und Religion auch nicht. Sie sei Christin, ihre beste Freundin Sema Muslimin. "Wir kommen gut damit klar", sagt sie. "Allerdings könnten wir im Unterricht mehr über Religion sprechen."

Hier gibt Mehdi ihr Recht. "Während des Karikaturenstreits war die Hälfte der Schüler sauer auf Dänemark", sagt er kopfschüttelnd, "da hätte man doch mal drüber reden können." Jan Ebert nickt trocken, "natürlich", sagt er, "für so was ist immer zu wenig Zeit". Auch das Thema Menschenrechte ist so nicht im Lehrplan vorgesehen, "in Geschichte und Gesellschaftskunde tendiert man immer in Richtung Institutionenkunde". Doch über Diskriminierung aufgrund von Religion, Geschlecht oder sozialer Herkunft; über das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person; Asylrecht oder das Recht auf Religionsfreiheit können die Schüler hier viel erzählen. "Ich will Jura studieren und dann in die Wirtschaft oder so", sagt die 19-jährige Marjam, "mit meinem Kopftuch kann ich ja sonst nicht viel machen." Im Frühjahr wird sie das Abi in der Tasche haben und ihr grünes Kopftuch selbstverständlich auch dann nicht ablegen. Ihre Eltern stammen aus der Türkei, genau wie die der 15-jährigen Ümran. "In dem Dorf, in dem meine Verwandten wohnen, würde ich wahrscheinlich gar nicht zur Schule gehen", wettert sie, "dort haben nur Jungs ein Recht auf Bildung, hier hat das jeder." Das seien doch Klischees, ruft ein Mädchen. "Na ja", sagt Marjam, aber sie müssten ja nicht immer über die Türkei reden. "Was ist mit Wolfgang Schäuble und seinen Onlinedurchsuchungen?", sagt sie, "die verstoßen auch gegen die Menschenrechte."

Ortswechsel. Zehlendorf im Südwesten Berlins, Straßen mit hübschen Einfamilienhäusern gehen in Villenviertel über und die schließlich in den Grunewald. Hier steht, baumumwachsen, die Pestalozzischule. Drinnen hängen an hellgelben Wänden Papierengel, bunt bemalt, es ist kurz vor Weihnachten. "Kinderrechte sind, wenn man sich einfach auf den Tisch legen kann", sagt der freche Paul, und lümmelt sich genüsslich auf dem Stuhl. Jetzt darf er das, die sechs- und siebenjährigen Grundschüler machen eine Phantasiereise. Sie überlegen was sie brauchen, damit es ihnen richtig gut geht, um ihre Überlegungen anschließend im Kreis sitzend vorzutragen. "Mir geht's gut, wenn meine Schildkröte da ist", sagt Lenny. "Schildkröten sind voll langweilig", sagt Paul. Lehrerin Andrea von Kiedrowski strafft die Schultern. "Jeder darf hier sagen, was er mag - was dem einen gefällt, gefällt dem anderen gar nicht." Also zählen die Erst- und Zweitklässler auf und hören sich an, was sie zum guten Leben brauchen: schlafen, Bücher angucken, essen, Fußball spielen. Aber auch: "Wenn ich bei Oma schlafen soll und dann mag ich nicht mehr, muss Mama mich abholen", sagt Meline. Und Ron findet gut, dass Kinder sich entscheiden können, ob sie bei Mutter oder Vater bleiben, wenn die sich trennen. Alle Kinder reden munter durcheinander, manche etwas langsamer, stockend, dann hilft die Lehrerin mit Worten. Sie unterrichtet an einer Integrationsschule. Fünf der 20 Schüler sind "Förderkinder". Sie sind geistig, körperlich oder lernbehindert.

"Je kleiner die Kinder sind", sagt Andrea von Kiedrowski, "desto besser klappt das Miteinander." Erst wenn die Spiele in den Pausen anspruchsvoller würden, machten sich intellektuelle und sprachliche Handicaps stärker bemerkbar. "Und ab der Pubertät wird es ganz schwierig." Immer wieder müsse man Regeln einüben, wie "wir lachen nicht, wenn jemand komisch redet". Überhaupt: Regeln. Einige haben sich die Schüler selbst aufgestellt, sie aufgeschrieben - "und wir halten uns natürlich immer daran", sagt Julie ernsthaft. Meline kichert, findet aber auch, "es ist gut, wenn die Kinder auch mal leise sind, dann kann man sich entspannen". Und außerdem könne man sich besser konzentrieren, findet Karl. Wird es zu unruhig in der Klasse, fängt die Lehrerin an zu klatschen, mit den Fingern auf den Knien zu trommeln oder in die Luft zu tippen. Alle machen es nach, Reden ist verboten, und die Schüler sind wieder aufmerksam, nach so einer kleinen Pause. Die praktischste Regel ist die Stopp-Regel, sagt Solveig: "Wenn einen einer ärgert und man mag das gar nicht mehr, sagt man 'Stopp', und dann muss der aufhören". Ärgerlich, die aus der Nachbarklasse machen manchmal trotzdem weiter.

Die Nachbarklasse. Die ist auf der Robert-Jungk-Oberschule in Wilmersdorf mitunter polnisch. Die Gesamtschule in dem bürgerlichen Bezirk im Westen Berlins gehört zum weltweiten Netzwerk der Unesco-Schulen, 128 gibt es davon in Deutschland. Menschenrechtsbildung ist hier in den Unterricht integriert. Zudem ist die Schule seit drei Jahren eine Staatliche Europaschule, in zwei der sechs Klassen pro Jahrgang wird der Unterricht etwa in Biologie, Erdkunde oder Geschichte auf Polnisch abgehalten. Dort sitzen, wenn es nicht gut läuft, "die Polacken", wie sie von den "Kartoffeln" genannt werden. "Wenn ein Deutscher einen Polenwitz erzählt, bekomm ich die Wut", sagt Piotr. Auch "Dieb" genannt zu werden, findet er schon lange nicht mehr komisch. Die Freunde des 15-jährigen sind zu 99 Prozent Polen.

"Wird eine kleine Minderheit zu einer großen Minderheit, gibt es Probleme", sagt Direktorin Ruth Garska, 60, und es gebe hier nun einmal viele polnische Schüler. "Das ist aber auch eine Riesenchance", sagt die engagierte Pädagogin. Sie kämpft mit und um ihre Schüler. Sie lädt eine ehemalige polnische Zwangsarbeiterin in die Schule ein, um ihre Geschichte zu berichten, oder eine jüdische Widerstandskämpferin. Im Filmraum drehten Schüler des Wahlpflichtfachs Mediengestaltung einen Film über Datenschutz in Alltag und Beruf, der beispielsweise in Sachsen im Unterricht eingesetzt werden soll. Zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember haben die Schüler ein Tafelbild gebastelt, das sie im Foyer aufgestellt haben. Auf schwarze Pappe haben sie den amnesty-Appell für den chinesischen Schriftsteller Shi Tao aufgeklebt, daneben die Geschichte der Menschenrechte, die mit der Magna Charta beginnt. Die Bastelarbeit war Teil eines Projektes, das alle achten Klassen in Gesellschaftswissenschaften durchlaufen. Fachübergreifend befassen sie sich mit Menschenrechten, am Ende jedes Halbjahres präsentieren sie ihre Ergebnisse. Zwei Schülerinnen recherchierten auf der amnesty-Seite im Internet Fälle von Menschenrechtsverletzungen in Europa. "In Frankreich wurde eine schwangere Frau von Polizisten misshandelt", haben sie auf einem Plakat notiert. "In Irland wurde ein Polizist erschossen." Ein Junge hat ein Kreuzworträtsel mit Fragen zu Menschenrechten erdacht, andere "Elfchen" - Gedichte mit elf Wörtern. "Politiker, Menschen wählen, Gerechtigkeit für alle, von Menschen für Menschen, Demokratie", steht da zum Beispiel. Und den 15-jährigen Mirko hat die Schule Anfang November auf ein Unesco-Seminar in ein Schloss am Berliner Stadtrand geschickt. "Vielfalt, eine Herausforderung für die Demokratie", hieß die Veranstaltung. Dieser Herausforderung stellen sich die Schüler der Robert-Jungk-Oberschule jeden Tag aufs Neue. Seit 17 Jahren ist Ruth Garska hier Rektorin, und sie sagt: "Man kann Vorurteile nur abbauen, wenn man sie sich bewusst macht."


Die Autorin ist freie Journalistin und lebt in Berlin.


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WISSEN GEGEN WILLKÜR

Anlässlich des 60. Jubiläums der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte startet ai zusammen mit der Stiftung Lesen die bundesweite Kampagne "Wissen gegen Willkür". Ab Februar steht eine kostenlose Broschüre zu unterschiedlichen Menschenrechtsthemen zur Verfügung, die an allen weiterführenden Schulen verteilt wird. Mit Lektüreangeboten, Unterrichtseinheiten und einem Kreativ-Wettbewerb sollen Jugendliche für die Menschenrechte sensibilisiert und ermutigt werden, sich im eigenen Umfeld aktiv für ein faires Miteinander einzusetzen. An dem Wettbewerb "Mit Fantasie für die Menschenrechte" können alle Schüler der Klassen 7 bis 9 und 10 bis 13 teilnehmen. Die Arbeiten können als Einzel-, Team- oder Klassenbeiträge eingereicht werden.

Weitere Infos unter: www.wissen-gegen-willkuer.de und
www.stiftunglesen.de/menschenrechte


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Quelle:
amnesty journal, Februar 2008, S. 12-14
Herausgeber: amnesty international
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E-Mail: info@amnesty.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2008