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GRUNDSÄTZLICHES/279: Interview mit Walter Kälin zum Thema Binnenvertriebene (ai journal)



amnesty journal 08/09/2009 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Es gibt keinen Frieden ohne eine gerechte Lösung für die Vertriebenen"

Millionen Menschen sind Flüchtlinge im eigenen Land. Doch von ihrem Staat können sie oft keinen Schutz erwarten. Ein Gespräch mit Walter Kälin, dem UNO-Sonderbeauftragten für Binnenvertriebene, über Fluchtursachen, Konfliktprävention und die Möglichkeiten eines Sonderbeauftragten.


FRAGE: Wie viele Menschen sind weltweit in ihrem eigenen Land auf der Flucht?

WALTER KÄLIN: Wir gehen davon aus, dass zur Zeit 26 Millionen Menschen vor Krieg und Gewalt geflohen sind, ohne ihren Heimatstaat zu verlassen. Das sind mehr als doppelt so viel wie die elf bis zwölf Millionen Flüchtlinge, die außerhalb ihres Landes Schutz suchen. Binnenvertriebene gibt es in allen Regionen der Welt. Es wird häufig vergessen, dass wir auch in Europa fast drei Millionen Binnenvertriebene haben, vor allem in Georgien, Aserbaidschan und in unterschiedlichem Ausmaß in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Die meisten Binnenvertriebenen finden wir in Afrika: Allein hier sind es mehr als elf Millionen Menschen.

FRAGE: Sie waren Anfang des Jahres in der Demokratischen Republik Kongo. Wie ist die Situation dort?

WALTER KÄLIN: Im Osten des Landes ist sie immer noch katastrophal. Kongolesische und ruandische Truppen führten im Frühjahr gemeinsam Militäroperationen gegen die FDLR durch, eine Gruppierung, die sich um Personen schart, die für den Genozid in Ruanda verantwortlich waren. Nach Abschluss der Offensive rächte sich die FDLR an der Zivilbevölkerung. Große Vertreibungen waren die Folge. Außerdem hat sich die Lord's Resistance Army aus Norduganda in den Kongo abgesetzt. Auch sie vertrieb und massakrierte Menschen als Rache für einen Angriff auf ihr Lager.

FRAGE: Noch vor dem Ende des Bürgerkrieges reisten Sie in diesem Jahr auch nach Sri Lanka, wo Zehntausende Menschen vor den Kämpfen zwischen Armee und Rebellen fliehen mussten.

WALTER KÄLIN: Ich habe einige Lager besucht, in denen die Vertriebenen untergebracht wurden. Wobei "untergebracht" das falsche Wort ist. Es waren geschlossene Lager, mit Stacheldraht umzäunt und von der Armee bewacht. Auch wenn seither einige ältere Menschen entlassen wurden, hat sich die Lage nicht wirklich geändert. Man kann daher durchaus von einer Internierung der Zivilbevölkerung sprechen.

FRAGE: Bei dem Wort "Vertriebene" denkt man automatisch an Kriege und Unruhen. Viele Menschen sind aber auch aufgrund von Naturkatastrophen auf der Flucht.

WALTER KÄLIN: Genau. In der deutschen Sprache ist das ein Problem: Das Wort "Vertriebene" besagt, dass jemand Menschen aktiv zwingt, wegzugehen. Erdbeben und Überschwemmungen vertreiben in diesem Sinne nicht, aber Menschen müssen vor diesen Naturgefahren fliehen. Tatsächlich deckt schon der ursprüngliche Begriff der Binnenvertriebenen im Leitfaden der UNO diesen Fall ab. Demnach sind Binnenvertriebene Menschen, die gezwungen sind zu fliehen, insbesondere wegen bewaffneter Konflikte und Menschenrechtsverletzungen, aber auch wegen Naturkatastrophen.

FRAGE: Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

WALTER KÄLIN: Ich war erst wenige Monate im Amt, als Weihnachten 2004 die Tsunami-Katastrophe in Südasien über 200.000 Todesopfer forderte. Mir war sofort klar, dass die Überlebenden Binnenvertriebene sind und Anspruch auf den Schutz ihrer Menschenrechte haben. Im Frühjahr 2005 bin ich in die Region gereist und habe in Bangkok einen Workshop mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen veranstaltet. Sie berichteten, dass Überlebende Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden waren.

FRAGE: Was ist damals passiert?

WALTER KÄLIN: In den überfüllten Aufnahmezentren gab es beispielsweise Fälle von sexueller Gewalt und Vergewaltigungen. Minderheiten wurde wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste oder Religion humanitäre Hilfe verweigert. Weit verbreitet waren Verletzungen des Rechts auf Eigentum: Viele Menschen hatten die Dokumente verloren, die bewiesen, dass ein Stück Land ihnen gehört. Oft gab es aber auch gar keine offiziellen Nachweise, weil es sich um traditionelles Land handelte, das teilweise schon seit Generationen vererbt worden war. Als die Eigentümer nach ihrer Rückkehr das Land wiederhaben wollten, hieß es dann: Nein, das gehört jetzt jemand anderem oder dem Staat.

FRAGE: Was können Sie in diesem Zusammenhang tun?

WALTER KÄLIN: Meine Aufgabe ist es, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass auch bei Naturkatastrophen Menschenrechte ein Thema sind, ebenso bei der humanitären Hilfe und beim Wiederaufbau. Zum Beispiel muss sichergestellt werden, dass niemand diskriminiert und Eigentum zurückerstattet wird. Deshalb haben wir Richtlinien für Organisationen vor Ort erarbeitet, besonders für die der UNO, wie die Rechte der Binnenvertriebenen am besten geschützt werden können. Ich arbeite auch eng mit Regierungen zusammen und veranstalte auf regionaler Ebene Workshops mit Organisationen in Zentralamerika und im südlichen Afrika.

FRAGE: Inwieweit spielt Konfliktprävention in Ihrer Arbeit eine Rolle?

WALTER KÄLIN: Die Tatsache, dass es Vertriebene in einem Land gibt, zeigt ja, dass es dort eine große Krise gibt. Ich bin aber im Grunde wie ein Arzt, der erst kommt, wenn die Krankheit schon ausgebrochen ist. Von daher habe ich zunächst einmal nichts mit der Prävention zu tun. Ich kann mich jedoch am Ende eines Konfliktes einbringen, wenn es um den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Friedens geht. Für mich ist ganz klar, dass es ein essentieller Teil des Friedensprozesses ist, dauerhafte Lösungen für die Vertriebenen zu finden. Wenn sie diskriminiert werden oder weiterhin marginalisiert bleiben und in Not leben müssen, kann dies dazu führen, dass die Konflikte wieder aufflammen. Konfliktprävention spielt für meine Arbeit also dann eine Rolle, wenn es darum geht, einen Rückfall in die Gewalt zu vermeiden.

FRAGE: Sie haben erwähnt, dass fast die Hälfte aller Binnenvertriebenen in Afrika zu finden sind. Wie beurteilen Sie die Perspektive des Kontinents?

WALTER KÄLIN: Lobenswert sind die Bemühungen der Afrikanischen Union, sich verstärkt für den Schutz von Vertriebenen einzusetzen. Und es gibt auch durchaus positive Entwicklungen. In Sierra Leone und der Elfenbeinküste hat sich die Situation stabilisiert, und die Menschen kehren zurück. Ebenso in Uganda, wo noch bis vor kurzem eine Million Vertriebene in Lagern lebte. Die großen Krisenherde sind nach wie vor Sudan, Somalia, Kongo, die Zentralafrikanische Republik und der Tschad. Da bin ich nicht sehr optimistisch. So lange dort keine politischen Lösungen gefunden werden - und das ist nicht absehbar für die nahe Zukunft - wird die Situation der Vertriebenen weiter schlecht bleiben. Oder es wird sogar zu neuen Vertreibungen kommen.


Walter Kälin
2004 ernannte der UNO-Generalsekretär Walter Kälin zu seinem Repräsentanten für die Menschenrechte von Binnenvertriebenen. Der Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Bern wird in seiner Arbeit unterstützt vom Hochkommissariat für Menschenrechte und dem Hochkommissariat für Flüchtlinge. In diesem Jahr reiste er unter anderem in den Tschad, nach Zentralafrika und Sri Lanka. Aktuell arbeitet er schwerpunktmäßig zum Thema "Klimawandel, Naturkatastrophen und Zwangsmigration".

Interview: Daniel Kreuz


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2009, S. 54-55
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2009