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GRUNDSÄTZLICHES/286: Zwitschern bis zum Umsturz (ai journal)


amnesty journal 12/2009/01/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Zwitschern bis zum Umsturz

Von Mathias Wasik


Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter können nützliche Hilfsmittel sein, wenn es darum geht, viele Menschen zu erreichen und zu mobilisieren. Auch Amnesty International nutzt solche Plattformen, um Unterstützung für die Menschenrechte zu gewinnen. Bei aller Begeisterung für das Zwitschern und Bloggen zeigt sich aber: Was online beginnt, muss offline weitergehen, damit der Erfolg von Dauer ist.


Als Natalia Morar mit fünf Bekannten in einem kleinen Café in Chisinau via Twitter eine kleine Kundgebung unter dem Titel "Ich bin kein Kommunist" ankündigte, ahnte sie noch nicht, wie erfolgreich ihr Aufruf sein würde. Die Journalistin und ihre Freunde waren enttäuscht von den kurz zuvor abgehaltenen Parlamentswahlen in der Republik Moldau. Erneut hatte die von Korruption und Vetternwirtschaft geprägte Kommunistische Partei unter Präsident Vladimir Voronin die Wahlen gewonnen - begleitet von Vorwürfen massiver Wahlfälschungen. Die jungen Aktivisten hofften darauf, dass einige hundert Freunde und Kollegen dem Aufruf folgen würden. Es wurden mehr, viel mehr: 15.000 vorwiegend junge Menschen versammelten sich am 6. April 2009 vor dem Parlamentsgebäude der Hauptstadt und demonstrierten gegen die ungeliebte Regierung.

Die Ereignisse in Moldau reihten sich damit ein in eine Serie von Aufständen, die von Beobachtern als "Twitter-Revolutionen" betitelt wurden und ihren bisherigen Höhepunkt im Juni 2009 während der Proteste nach den Präsidentschaftswahlen im Iran fanden. Ihnen allen ist gemein, dass soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook, Orkut oder Friendster eine wesentliche Rolle bei der Vorbereitung, Mobilisierung und Berichterstattung gespielt haben. In Staaten ohne freie Medien, in denen Behörden nicht zögern, Internetseiten zu sperren und Journalisten von ihrer Arbeit abzuhalten, hat eine junge Generation, die sich nicht den Mund verbieten lassen will, alternative Kommunikationskanäle für sich entdeckt. Der Mikroblogging-Dienst Twitter (engl. für "Zwitschern") hat für sie einen großen Vorteil: Die Berichterstatter brauchen nicht einmal einen Internetzugang zu haben, um an der Diskussion im Netz teilzunehmen. Sie können die 140 Zeichen langen Meldungen auch von ihren Handys in die weltweite Diskussionsrunde speisen. Aus Augenzeugen und Beteiligten werden so Reporter, und ihre Nachrichten gehen innerhalb weniger Minuten um die Welt.

Natürlich lassen die repressiven Regierungen nichts unversucht, um sich gegen das Gezwitscher zu wehren. Sie greifen dabei zu altbewährten Mitteln: Einschüchterungen, Verhaftungen und empfindliche Strafen. Diese Methoden bewirken jedoch nicht selten den gegenteiligen Effekt. So wie in Guatemala, wo die Polizei am 14. Mai 2009 die Wohnung des Twitter-Nutzers Jean Anleu stürmte, weil dieser unter dem Pseudonym "@jeanfer" über den wenige Tage zuvor bekannt gewordenen Korruptionsskandal einer staatlichen Entwicklungsbank berichtet hatte. Die Nachricht über seine Verhaftung breitete sich wie ein Lauffeuer ins Netz aus und brachte den regierungskritischen "Twitteros" starken Zulauf Als drei Tage später 40.000 Menschen in der Hauptstadt Guatemalas auf die Straßen gingen, um gegen den mutmaßlich in die Affäre verwickelten Präsidenten zu demonstrieren, waren in der Menschenmenge viele Transparente mit den Slogans "Ich spreche nicht, ich twittere" und "Wir alle sind @jeanfer" zu sehen. Die virtuelle Gemeinschaft hatte ihren Weg auf die Straße gefunden.

Bei aller Begeisterung für die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der sozialen Netzwerke für politische und gesellschaftliche Bewegungen mehren sich in letzter Zeit aber auch die Stimmen der Kritiker und Skeptiker. Sie stellen zum einen die Frage nach der Glaubwürdigkeit der digitalen Kurznachrichten. Im Gegensatz zum konventionellen Journalismus gibt es bei Twitter niemanden, der überprüft, wie vertrauenswürdig die Quellen sind. Bei der Geschwindigkeit, mit der sich Neuigkeiten über das Netzwerk verbreiten, bleibt dafür einfach keine Zeit. Als die iranische Regierung während der Proteste Journalisten von der Arbeit abhielt und alle Formen der modernen Kommunikation einschränkte, wurde es für die ausländischen Medien fast unmöglich, sich ein zuverlässiges Bild von der Lage im Iran zu machen. Um überhaupt berichten zu können, verließen sie sich oftmals blindlings auf die Meldungen, Fotos und Videos, die über Twitter, Flickr und YouTube um die Welt gingen. Das Risiko, gefälschten oder manipulierten Nachrichten auf den Leim zu gehen, war groß.

Ungewiss bleibt zudem, welche Meinungen in den sozialen Netzwerken reflektiert werden. Neue Technologien werden vor allem von der Jungen Bevölkerung genutzt. Ältere, ungebildete oder arme Teile der Gesellschaft haben oftmals keine Möglichkeit, sich an der virtuellen Debatte zu beteiligen. Es besteht die Gefahr, dass die Berichterstattung einseitig wird und nur noch bestimmte Ansichten widerspiegelt.

Die große Stärke sozialer Netzwerke liegt vor allem in ihrer Reichweite. Die Unterstützung der Demonstranten durch das weltweite Netzwerk von Bloggern gab den Menschen im Iran, in Guatemala oder Moldau das Gefühl, nicht allein zu sein. Die Regierungen konnten nicht verhindern, dass die Öffentlichkeit über die Grenzen der betroffenen Länder hinaus in Echtzeit über die Demonstrationen informiert wurde. Vielleicht war Twitter nicht der Auslöser einer Revolution - es sorgte aber sicherlich für ein großes Maß an Mobilisierung und Aufmerksamkeit.

Für weltweit aktive Organisationen wie Amnesty International können soziale Netzwerke deshalb ein nützliches Werkzeug darstellen. Ein wesentlicher Aspekt der Arbeit von Amnesty besteht darin, Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen zu schaffen und Menschen zu mobilisieren, sich gegen diese Vergehen einzusetzen. Schneller als über Dienste wie Facebook und Twitter lassen sich wichtige Meldungen und Urgent Actions kaum verbreiten. Mitglieder und Unterstützer werden in Sekundenschnelle über Veranstaltungen und Aufrufe informiert, können sich online an Petitionen und E-Card-Aktionen beteiligen und ihre Freunde, Bekannten und "Follower" dazu aufrufen, es ihnen gleich zu tun.

Wirklich nachhaltig wird die virtuelle Beteiligung aber erst, wenn die Bereitschaft sich zu engagieren nicht mit dem Ausschalten des Computers endet. So wie es bei den "Twitter-Revolutionen" unabdingbar ist, die Mobilisierung im Netz auf den Straßen fortzusetzen, so ist es auch für Amnesty International wichtig, dass die Bereitschaft mitzumachen von der digitalen in die reale Welt überspringt.

In Chisinau hat sich der Aufruhr inzwischen wieder gelegt. Nach den heftigen Demonstrationen im April hat sich einiges geändert: Präsident Vladimir Voronin ist am 11. September 2009 zurückgetreten, seine Kommunistische Partei hatte bei den Neuwahlen im Juli nicht mehr die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament verteidigen können. Die Parteien sind aber weiterhin zerstritten, sodass sie sich eher mit sich selbst beschäftigen, als die großen Probleme des Landes anzupacken. Die Jugend gibt nicht auf und twittert weiter. Nur ihre Versammlungen sind lange nicht mehr so gut besucht wie am Anfang.


Der Autor ist Online-Redakteur der deutschen Amnesty-Sektion.


WAS SIND NETZWERKE?

Soziale Netzwerke sind Plattformen im Internet, die es erlauben, ein privates Profil anzulegen, um z.B. Fotos, Videos und Nachrichten mit Freunden auszutauschen und neue Bekanntschaften zu machen. Zu den bekanntesten sozialen Netzwerken gehören Facebook, StudiVZ, Xing und MySpace. Mit weltweit über 300 Millionen Nutzern ist Facebook im Moment das größte soziale Netzwerk.
Amnesty bei Facebook: www.amnesty.de/facebook


WAS IST TWITTER?

Twitter (engl. für "Zwitschern") ist ein sogenannter Mikroblogging-Dienst. Seine Nutzer können im Internet selbst geschriebene Texte veröffentlichen. Die Einträge ("Tweets") sind auf 140 Zeichen beschränkt und können meist öffentlich eingesehen werden. Das zentrale Prinzip von Twitter: Jeder kann die Einträge anderer Nutzer abonnieren. Er wird dadurch zu ihrem "Follower" und findet zukünftig alle ihre Einträge in seinem Twitter-Postfach.
Amnesty bei Twitter: www.amnesty.de/twitter


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Quelle:
amnesty journal, Dezember 2009/Januar 2010, S. 40-41
Herausgeber: amnesty international
Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., 53108 Bonn
Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
Redaktionanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2009